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Ich mußte an jenem Tage auch noch Jefim Sweriow aufsuchen, einen früheren Schulkameraden von mir, der seinerzeit das Gymnasium verlassen und nach Petersburg gegangen war, um dort eine höhere Fachschule zu besuchen. Ihn persönlich näher zu beschreiben, ist der Mühe nicht wert, und eigentlich freundschaftlich hatte ich mich nie mit ihm gestanden; aber in Petersburg hatte ich ihn aufgesucht; er konnte mir (infolge verschiedener Umstände, die auch nicht erwähnenswert sind) die Adresse eines gewissen Herrn Kraft mitteilen, sobald dieser aus Wilna zurückgekehrt sein würde, und dies war ein Mensch, den ich sehr nötig hatte. Und jetzt erwartete Sweriow ihn heute oder morgen zurück, das hatte er mich vor zwei Tagen wissen lassen. Mein Weg führte mich nach der Petersburger Seite, aber ich fühlte keine Müdigkeit.

Sweriow (er zählte auch neunzehn Jahre) traf ich im Hofe des Hauses seiner Tante, bei der er zur Zeit wohnte. Er hatte gerade Mittag gegessen und ging auf Stelzen im Hof herum. Er sagte mir gleich, daß Kraft schon gestern angekommen und in seiner früheren Wohnung abgestiegen sei, ganz in der Nähe, auch auf der Petersburger Seite, und daß er auch den Wunsch hegte, mich möglichst bald zu sehen, da er mir eine dringliche und wichtige Mitteilung zu machen hätte.

»Er muß wieder irgendwohin reisen«, fügte Jefim hinzu.

Da es, wie die Umstände lagen, für mich von der allerhöchsten Wichtigkeit war, Kraft zu treffen, so bat ich Jefim, mich sofort in seine Wohnung zu führen, die übrigens nur zwei Schritte von dort in irgendeiner Seitenstraße lag. Aber Sweriow erklärte mir, er hätte Kraft schon vor einer Stunde getroffen und dieser wäre zu Dergatschow gegangen.

»Gehen wir also zu Dergatschow, was sträubst du dich immer; hast du Angst?«

Es war richtig, Kraft konnte am Ende lange bei Dergatschow sitzen bleiben und wo sollte ich dann auf ihn warten? Ich hatte keine Angst zu Dergatschow zu gehen, aber ich hatte keine Lust, obgleich es schon das dritte Mal war, daß mich Jefim hinschleppen wollte. Und dies »hast du Angst?« brachte er noch dazu immer mit einem Lächeln vor, das wenig Schmeichelhaftes für mich hatte. Von Feigheit war da gar keine Rede, das möchte ich gleich sagen, und wenn ich mich fürchtete, war es aus einem ganz anderen Grunde. Diesmal entschloß ich mich, hinzugehen; es war auch nur ein Weg von zwei Schritten. Unterwegs fragte ich Jefim, ob er noch immer die Absicht hätte, nach Amerika auszuwandern.

»Vielleicht warte ich auch noch«, erwiderte er mit einem leichten Auflachen.

Ich liebte ihn nicht besonders, ich liebte ihn sogar überhaupt nicht. Er war sehr weißblond und hatte ein volles, gar zu weißes Gesicht, unästhetisch weiß sogar, bis zur Kindlichkeit; von Wuchs war er sogar größer als ich, aber man konnte ihn kaum für älter als siebzehn halten. Mit ihm ein Gespräch zu führen war unmöglich.

»Was ist denn da los? Am Ende immer ein Haufen Leute?« erkundigte ich mich genau.

»Warum hast du denn immer Angst?« grinste er wieder.

»Scher dich zum Teufel«, sagte ich wütend.

»Absolut kein Haufen Leute. Es kommen nur Bekannte hin, lauter Gesinnungsgenossen, sei ganz ruhig.«

»Das kümmert mich den Teufel, ob es Gesinnungsgenossen sind oder nicht! Ich komme doch nicht als Gesinnungsgenosse hin? Woher wissen diese Leute, daß sie mir vertrauen können?«

»Ich bringe dich mit, und das genügt. Sie haben auch schon von dir gehört. Kraft kann ja auch Auskunft über dich geben.«

»Sag mal, wird Wasin da sein?«

»Ich weiß nicht.«

»Wenn er da ist, so stoß mich beim Eintreten an, und zeig' mir Wasin; verstehst du, gleich beim Eintreten.«

Von Wasin hatte ich schon ziemlich viel gehört und ich interessierte mich schon lange für ihn.

Dergatschow wohnte in einem kleinen Hintergebäude, auf dem Hofe hinter einem Holzhause, das einer Kaufmannsfrau gehörte, aber dafür hatte er das Häuschen für sich allein. Es enthielt im ganzen drei reinliche Zimmer. An sämtlichen vier Fenstern waren die Vorhänge heruntergelassen. Er war Techniker und hatte eine Anstellung in Petersburg; ich hatte beiläufig gehört, ihm wäre eine sehr günstige Privatstellung in der Provinz angeboten, er wolle demnächst dahin übersiedeln.

Kaum waren wir in das winzige Vorzimmer getreten, da hörten wir schon Stimmen: es schien heftig gestritten zu werden, und jemand schrie: »Quae medicamenta non sanant – ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat!«

Ich war tatsächlich etwas unruhig. Es ist ja klar, ich war an Gesellschaft nicht gewöhnt, nicht einmal an irgendeine beliebige. Auf dem Gymnasium hatte ich mit den Kameraden auf du und du gestanden, aber so eigentlich ein Kamerad war mir keiner gewesen; ich hatte mir meinen Winkel geschaffen und lebte in diesem Winkel. Aber das war es nicht, was mich verwirrt machte. Für jeden Fall hatte ich mir das Wort gegeben, mich auf keine Diskussionen einzulassen und nur das Allernotwendigste zu sprechen, so daß niemand daraus Schlüsse auf mich ziehen konnte; die Hauptsache war – keine Diskussionen!

In dem Zimmer, das wirklich gar zu klein war, waren sieben Leute und wenn man die Damen mitrechnet, zehn. Dergatschow war fünfundzwanzig Jahre alt und er war verheiratet. Seine Frau hatte eine Schwester und noch eine Verwandte; die beiden lebten auch bei Dergatschow. Das Zimmer war ziemlich gleichgültig möbliert, übrigens ausreichend, und es war sogar alles recht sauber. An der Wand hing ein Porträt in Lithographie, es sah aber recht billig aus, und in der Ecke ein Heiligenbild ohne Fassung, aber eine ewige Lampe brannte davor. Dergatschow kam mir entgegen, drückte mir die Hand und bat mich, Platz zu nehmen.

»Setzen Sie sich, hier sind wir ganz unter uns.«

»Ja, bitte schön, –« fügte sogleich eine recht nett aussehende junge Frau hinzu, die sehr bescheiden gekleidet war, dann verbeugte sie sich flüchtig vor mir und ging hinaus. Das war seine Frau. Sie sah so aus, als ob sie mit diskutiert hätte, jetzt ging sie, ihr Kind zu stillen. Aber es blieben noch zwei Damen im Zimmer: – die eine war sehr klein von Wuchs, etwa zwanzig Jahre alt, trug ein schwarzes Kleid und gehörte auch durchaus nicht zu den Häßlichen, und die andere zählte wohl dreißig, sie war dürr und hatte stechende Augen. Beide saßen sie da und spitzten die Ohren, beteiligten sich aber nicht am Gespräch.

Die Herren standen alle, es saßen, außer mir, nur Kraft und Wasin; Jefim zeigte sie mir gleich, denn auch Kraft sah ich zum erstenmal im Leben. Ich stand auf und ging, mich ihnen vorzustellen. Krafts Gesicht werde ich niemals vergessen: es war durchaus nicht von besonderer Schönheit, aber es lag so ungeheuer viel Arglosigkeit und Feinfühligkeit darin, obgleich das Bewußtsein des eigenen Wertes sich auch deutlich genug abspiegelte. Er war sechsundzwanzig, ziemlich mager, übermittelgroß, blond, das Gesicht ernst, aber weich; etwas Stilles war über den ganzen Menschen ausgegossen. Aber trotzdem, wenn man mich gefragt hätte, ob ich mein, ich kann wohl sagen, ziemlich triviales Gesicht gegen seins vertauschen wollte, das mir so anziehend erschien, ich hätte nein gesagt. Es lag etwas in seinem Gesicht, was ich mir in meins nicht hineingewünscht hätte, etwas schon gar zu ruhiges im moralischen Sinne, eine gewisse Art von heimlichem, unbewußtem Hochmut. Übrigens, genau genommen, konnte ich damals wahrscheinlich noch nicht so urteilen; es kommt mir nur jetzt so vor, als ob ich damals so geurteilt hätte, jetzt, da ich weiß, was ich weiß.

»Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind,« sagte Kraft, »ich habe einen Brief, der Sie angeht. Wir bleiben noch ein bißchen hier, dann kommen Sie mit in meine Wohnung.«

Dergatschow war von mittlerer Größe, breitschulterig, kräftig und trug einen großen dunkeln Bart; aus seinem Blick sprach eine spähende Behutsamkeit, und aus seinem ganzen Wesen eine starke Zurückhaltung, eine gewisse unverbrüchliche Vorsicht; wenn er auch wenig mitredete, so leitete er die Unterhaltung doch sichtlich. Wasins Gesicht machte keinen so sehr großen Eindruck auf mich, obgleich ich schon viel von seiner kolossalen Klugheit gehört hatte: er war blond, hatte große hellgraue Augen, sein Gesicht war sehr offen, aber zugleich lag eine gewisse übertriebene Festigkeit darin; man konnte gleich darauf schließen, daß man hier einem wenig mitteilsamen Menschen gegenüber stände, aber seine Augen schauten klug, klüger, als die Dergatschows, tiefer, – die klügsten Augen im Zimmer; übrigens ist es wohl möglich, daß ich jetzt alles übertreibe. Was die übrigen betrifft, so erinnere ich mich überhaupt nur noch an zwei Gesichter unter allen diesen jungen Leuten: es war ein hochgewachsener, brünetter Mensch da mit schwarzem Backenbart, der viel sprach, er konnte siebenundzwanzig sein und war wohl Lehrer oder so was, und dann ein junger Bursche in meinem Alter, in russischer Tracht, – mit faltigem Gesicht, schweigsam, mehr zuhörend. Ich erfuhr nachher, daß er von bäuerlicher Abkunft war.

»Nein, so darf man das nicht formulieren«, begann der Lehrer mit dem schwarzen Backenbart, der sich mehr als alle anderen ereiferte, und offenbar knüpfte er damit dort an, wo unser Eintritt die Debatte unterbrochen hatte: »Von mathematischen Beweisen will ich gar nichts sagen, das ist doch eine Idee, die ich gerne auch ohne mathematische Beweise glauben will, aber . . .«

»Wart' mal, Tichomirow,« unterbrach ihn Dergatschow mit lauter Stimme, »die neuen Gäste verstehen ja kein Wort davon. Sehn Sie,« wandte er sich auf einmal direkt an mich ganz allein (und ich muß bekennen, wenn er mich als Neuling examinieren und mich zum Sprechen bringen wollte, so war das sehr geschickt von ihm angefangen; ich empfand das sogleich und war auf meiner Hut): »sehn Sie also, das hier ist also Herr Kraft, den wir alle sehr gut kennen, was seinen Charakter und die Solidität seiner Überzeugungen betrifft. Er ist infolge einer ganz gewöhnlichen Tatsache zu einem höchst ungewöhnlichen Schluß gelangt, durch den er unser aller größtes Erstaunen erregt hat. Sein Schluß lautete, das russische Volk wäre ein Volk zweiten Ranges . . .«

»Dritten Ranges«, schrie jemand dazwischen.

». . . zweiten Ranges, und seine ihm von der Vorsehung zugewiesene Aufgabe sei es, als Material für einen edleren Volksstamm zu dienen, nicht aber, eine selbständige Rolle in den Geschicken der Menschheit zu spielen. Aus der Voraussetzung dieses, vielleicht auch richtigen, Schlusses hat Herr Kraft die weitere Folgerung gezogen, daß diese Idee jeden ferneren Tatendrang von uns Russen paralysieren müsse, es müßten, sozusagen, alle die Hände in den Schoß legen und . . .«

»Erlaub' mal, Dergatschow, das darf man nicht so formulieren«, fiel ihm Tichomirow wieder ungeduldig ins Wort (und Dergatschow schwieg und ließ ihn reden). »Wenn man betrachtet, daß Kraft ernsthafte Studien gemacht und seine Schlüsse, die er als mathematisch anerkennt, auf physiologischer Grundlage erreicht hat, und daß er mit seiner Theorie (die ich mit der größten Ruhe a priori als bewiesen angenommen hätte) vielleicht zwei Jahre totgeschlagen hat, wenn man das betrachtet, was für einen Eindruck diese Sache auf Kraft macht und wie ernst er sie nimmt, so muß man sie als ein Phänomen ansehen. Aus allem diesen ergibt sich eine Frage, die Kraft nicht verstehen kann, und das ist ja eben, worauf es ankommt, nämlich, daß Kraft das nicht versteht, weil dies eben das Phänomen ist. Man muß entscheiden, ob dieses Phänomen, als einzig in seiner Art, vor das Forum des Psychiaters gehört, oder ob das eine Eigenschaft ist, die normalerweise auch bei anderen vorkommen kann; das ist eben das Interessante daran im Hinblick auf die allgemeine Sache. Was Kraft über Rußland sagt, glaub' ich ihm gern, ich möchte meinetwegen sogar sagen, ich freue mich darüber; wenn sich alle diese Idee zu eigen machten, so würde sie vielen die Fesseln von den Händen nehmen und sie von den patriotischen Vorurteilen befreien . . .«

»Ich habe nicht aus Patriotismus gesprochen«, sagte Kraft mit einer gewissen Anstrengung. Alle diese Debatten schienen ihm unangenehm zu sein.

»Patriotismus oder nicht, das kann man ruhig beiseite lassen«, sagte Wasin, der bisher das strikteste Schweigen gewahrt hatte.

»Aber inwiefern kann denn Krafts Schluß den Eifer für die Sache der Menschheit lähmen?« schrie der Lehrer (er war der einzige, der schrie, alle andern sprachen leise). »Mag also Rußland zur Zweitklassigkeit verurteilt sein; kann man denn nur arbeiten, wenn es für Rußland ganz allein geschieht? Und außerdem, wie kann Kraft ein Patriot sein, wenn er nicht einmal mehr an Rußland glaubt?«

»Dafür ist er eben ein Deutscher«, ertönte wieder die Stimme von vorhin.

»Ich bin Russe«, sagte Kraft.

»Das ist eine Frage, die durchaus in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Sache steht«, bemerkte Dergatschow, gegen den Zwischenrufer gewandt.

»Treten Sie aus der Enge Ihrer Idee heraus«, eiferte Tichomirow, der für alle Unterbrechungen taub war. »Wenn Rußland nur das Material für edlere Volksstämme ist, ja, warum soll es eigentlich nicht als solches Material dienen? Das ist immerhin noch eine recht ansehnliche Aufgabe. Warum soll man sich nicht bei dieser Idee beruhigen, da sie einem seine Grenzen weiter zieht. Die Menschheit steht am Vorabend ihrer Wiedergeburt, und diese hat schon begonnen. Die Aufgabe leugnen, die vor uns liegt, kann nur ein Blinder. Laßt Rußland fahren, wenn ihr den Glauben daran verloren habt, und arbeitet für das zukünftige Volk, – das zukünftige, das heute noch keiner kennt, das sich aber aus der ganzen Menschheit bilden wird, ohne Unterschied der Stämme. So oder so wäre Rußland doch einmal gestorben; kein Volk, und wäre es das begabteste, lebt länger als anderthalb, wenn's hoch kommt zwei Jahrtausende; ist es da nicht ganz gleich, ob's zweitausend Jahre sind, oder zweihundert? Die Römer haben nicht einmal fünfzehnhundert Jahre gelebt, richtig gelebt, und haben sich auch in Material verwandelt. Sie sind schon lange dahin, aber sie haben eine Idee hinterlassen, und die ist als Element des Künftigen in die Geschicke der Menschheit übergegangen. Wie kann ein Mensch nur sagen, es hätte keinen Zweck, etwas zu tun? Ich kann mir überhaupt keine Situation vorstellen, in der es keinen Zweck hätte, etwas zu tun! Handelt für die Menschheit, und über alles andere macht euch keine Sorgen. Zu tun gibt es so viel, daß unsere Lebensdauer nicht ausreicht, wenn man sich nur ordentlich umschaut.«

»Man muß nach dem Gesetz der Natur und der Wahrheit leben«, sagte hinter der Tür Frau Dergatschowa. Die Tür war ein ganz klein bißchen geöffnet, und man konnte sie draußen stehen sehen, das Kind an der Brust, die Brust zugedeckt und mit leidenschaftlichem Interesse lauschend.

Kraft hörte das mit einem leichten Lächeln an und sagte endlich mit einem etwas gequälten Ausdruck, übrigens aber im Ton starker Aufrichtigkeit:

»Ich begreife nicht, wie einer, der unter dem Einfluß irgendeines herrschenden Gedankens steht, dem sein Verstand und sein Gefühl sich völlig unterwerfen, wie so einer noch für irgend etwas leben könnte, was außerhalb dieses Gedankens liegt.«

»Aber wenn man Ihnen logisch, mathematisch nachweist, daß Ihr Schluß falsch ist, daß dieser Gedanke falsch ist, daß Sie nicht das geringste Recht haben, sich von der nützlichen Arbeit der Allgemeinheit auszuschließen, aus keinem anderen Grund, als weil Rußland von der Vorsehung bestimmt ist, zweitklassig zu bleiben, wenn man Ihnen nachweist, daß sich da vor Ihnen an Stelle des engen Horizontes die Unendlichkeit auftut, daß an Stelle der engen Idee des Patriotismus . . .«

»Ach!« sagte Kraft und wehrte leise mit der Hand ab, »ich habe Ihnen doch gesagt, daß der Patriotismus hiermit gar nichts zu schaffen hat.«

»Hier liegt augenscheinlich ein Mißverständnis vor«, mischte sich auf einmal Wasin ein. »Der Fehler liegt darin, daß Krafts Schluß nicht nur ein logischer ist, sondern sozusagen ein Schluß, der sich in ein Gefühl verwandelt hat. Nicht alle Naturen sind gleichgeartet; bei vielen Menschen verwandelt sich manchmal ein logischer Schluß in das allerstärkste Gefühl, das den ganzen Menschen ergreift und sehr schwer auszutreiben oder zu verwandeln ist. Um einen solchen Menschen zu heilen, muß man in solchen Fällen dieses Gefühl ändern, und das kann man nur, indem man es durch ein anderes gleich starkes ersetzt. Das ist stets schwer und in vielen Fällen unmöglich.«

»Falsch!« schrie der Streithammel wieder los, »der logische Schluß zerstreut die Vorurteile schon ganz von selbst. Eine vernünftige Überzeugung gebiert auch ein Gefühl. Der Gedanke geht aus dem Gefühl hervor und formuliert für sein Teil wieder ein neues Gefühl, wenn er im Menschen herrschend wird!«

»Die Menschen sind sehr verschieden: einer ändert seine Gefühle leicht, der andere schwer«, entgegnete Wasin. Es sah so aus, als hätte er genug von dem Streit; ich aber war begeistert von seiner Idee.

»So ist das, wie Sie gesagt haben!« wendete ich mich plötzlich an ihn. Das Eis war gebrochen, und ich fing auf einmal an zu sprechen. »Ganz richtig, man muß an die Stelle des einen Gefühls ein anderes setzen, um es zu überwinden. In Moskau lebte, das ist jetzt vier Jahre her, ein General . . . Sehn Sie, meine Herrschaften, ich hab' ihn nicht gekannt, aber . . . Vielleicht konnte er einem im Grunde persönlich auch keinen besonderen Respekt einflößen . . . Und außerdem könnte einem die Tatsache an sich unverständig scheinen, aber . . . Übrigens, sehn Sie, ihm starb ein Kind, das heißt, eigentlich zwei kleine Mädchen, beide kurz nacheinander, am Scharlach . . . Na, und er war mit einem Schlage so zerschmettert, er grämte sich so, daß man ihn nicht ansehen konnte, wenn er so daherkam – und das Ende war, daß er starb, kaum ein halbes Jahr darauf. Er starb daran, das ist eine Tatsache! Wodurch also, nehmen wir mal an, hätte man ihn aufrichten können? Antwort: Durch ein ebenso starkes Gefühl! Man hätte die zwei kleinen Mädchen aus dem Grabe holen und ihm wiedergeben müssen – das ist die Sache, das heißt, so was Ähnliches. Er ist also daran gestorben. Und da hätte man ihm viele wunderschöne Schlüsse vorlegen können; man hätte ihm erzählen können: alles Leben ist gebrechlich, wir alle sind sterblich, man hätte ihm im Kalender eine Statistik darüber zeigen können, wieviel Kinder am Scharlach sterben . . . Es war ein General außer Diensten . . .«

Ich stockte, außer Atem, und schaute mich um.

»Das hat doch gar nichts damit zu tun«, sagte jemand.

»Die Tatsache, die Sie angeführt haben, deckt sich zwar nicht mit dem vorliegenden Fall, aber sie hat doch Ähnlichkeit mit ihm und kann ihn erläutern«, wendete sich Wasin zu mir.

Ein Werdender

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