Читать книгу Ein Werdender - Fjodor M. Dostojewski - Страница 20

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Kaum hatte Wasin mich gelobt, da überfiel mich auf einmal ein unwiderstehlicher Drang, zu sprechen.

»Nach meiner Ansicht hat jeder Mensch das Recht, seine Gefühle zu haben . . . wenn sie seiner Überzeugung entsprechen . . . ohne daß jemand ihm Vorwürfe deswegen machen dürfte«, wendete ich mich an Wasin. Wenn ich auch fließend sprach, es war doch, als ob ich nicht selbst spräche, sondern ganz, als ob sich in meinem Munde eine fremde Zunge bewegte.

»Wirklich?« unterbrach mich in ironisch gedehntem Tonfall dieselbe Stimme, die Dergatschow ins Wort gefallen war und Kraft zugerufen hatte, er wäre ein Deutscher. Ich betrachtete diesen Menschen als eine Null und wandte mich an den Lehrer, als ob der Zwischenruf von dem gekommen wäre:

»Meine Überzeugung ist, daß ich nicht wagen darf, irgend jemand zu richten«, sagte ich zitternd und wußte schon, daß jetzt kein Halten mehr war.

»Warum denn so geheimnisvoll?« erklang wieder die Stimme der Null.

»Jeder hat seine Idee.« Ich sah so recht zum Trotz den Lehrer an, der für sein Teil schwieg und mich lächelnd musterte.

»Und Ihre?« schrie die Null.

»Daran hätte ich zu lange zu erzählen . . . Aber ein Teil meiner Idee ist, daß man mich in Ruhe lassen soll. Solange ich zwei Rubel habe, will ich mein freier Herr und von niemand abhängig sein (regen Sie sich nicht auf, ich weiß, was man darauf entgegnen kann) und will nichts tun, – nicht einmal für jene große künftige Menschheit, für die zu arbeiten Sie Herrn Kraft aufgefordert haben. Die persönliche Freiheit, das heißt, meine eigene steht für mich in erster Reihe und weiter will ich von gar nichts wissen.«

Mein Fehler war, daß ich in Hitze geriet.

»Also Sie predigen die Ruhe einer satten Kuh?«

»Meinetwegen. Der Vergleich hat nichts Beleidigendes, ich bin niemand was schuldig, ich zahle der Allgemeinheit Geld in der Form von Steuern dafür, daß sie mich vor Beraubung, Überfällen, Mordanfällen beschützt, aber weiter soll kein Mensch etwas von mir fordern. Mag ja sein, daß ich persönlich auch andere Ideen habe und der Menschheit dienen möchte und das auch wirklich tun werde und vielleicht zehnmal soviel, als alle Propheten zusammengenommen; aber ich verbitte mir ganz energisch, daß jemand das von mir fordert, mich dazu zwingen will, so wie Sie Herrn Kraft: ich habe die vollkommene Freiheit, auch nicht einen Finger zu rühren, wenn ich nicht will. Aber herumzulaufen und sich allen vor lauter allgemeiner Menschenliebe an den Hals zu werfen und heiße Rührungstränen zu vergießen, – das ist nur eine dumme Mode. Ja, warum muß ich denn unbedingt meinen Nächsten lieben oder Ihre künftige Menschheit, die ich nie sehen werde, die von mir nicht das geringste wissen wird, und die an ihrem Teil verfaulen wird, ohne eine Spur und eine Erinnerung zu hinterlassen (die Zeit spielt dabei gar keine Rolle)? Denn wird die Erde für ihr Teil sich nicht einst in einen gefrorenen Stein verwandeln und im luftleeren Raum unter der unendlichen Menge der anderen gefrorenen Steine dahinfliegen? Und kann man sich etwas Sinnloseres überhaupt vorstellen? Da haben Sie ihre Gelehrsamkeit! Sagen Sie mir doch: weshalb muß ich um jeden Preis edel sein, zumal nichts länger dauert als eine Minute?«

»Bumm – bumm!« schrie die bekannte Stimme. Ich hatte das alles nervös und zornig hervorgestoßen, alle Bande hatte ich zerrissen. Ich wußte, daß ich in einen Graben fallen würde, aber ich hastete vorwärts, weil ich mich vor Entgegnungen fürchtete. Ich fühlte nur zu gut, daß ich das alles wie durch ein Sieb ausschüttete, ohne Zusammenhang und aus dem Hundertsten ins Tausendste kommend, aber ich hastete vorwärts, um sie zu überzeugen und von vornherein zu besiegen. Das war so ungeheuer wichtig für mich! Drei Jahre hatte ich mich darauf vorbereitet! Aber es war bemerkenswert, sie waren auf einmal alle verstummt, sie sagten kein Wort, und alle hörten mir zu. Ich fuhr fort, mich an den Lehrer zu wenden.

»Jawohl. Ein ungeheuer kluger Mensch hat unter anderem gesagt, es gäbe nichts Schwierigeres, als die Frage zu beantworten: ›Warum soll man unbedingt edel sein?‹ Sehn Sie, es gibt drei Sorten von Schuften in der Welt: die naiven Schufte, das heißt die, die überzeugt sind, ihre Schuftigkeit wäre der höchste Edelmut, die schamhaften Schufte, das heißt die, die sich ihrer Schuftigkeit schämen, aber doch unwandelbar entschlossen sind, ihr treu zu bleiben, und schließlich die Schufte an sich, die Schufte von echtem Schrot und Korn. Erlauben Sie, bitte: ich hatte einen Schulkameraden, namens Lambert, der sagte mir schon mit sechzehn Jahren, wenn er mal reich sein würde, so würde es sein höchster Genuß sein, Hunde mit Brot und Fleisch zu füttern, während die Kinder der Armen Hungers stürben, und wenn sie nichts hätten, um ihre Zimmer zu heizen, würde er einen ganzen Holzhof kaufen, ihn auf freiem Felde aufstapeln und das Feld heizen, den Armen aber würde er kein Scheit geben. Das waren seine Gefühle. Sagen Sie mal, was sollte ich diesem echten Schuft auf die Frage antworten, weshalb er durchaus edel sein müßte? Und besonders in unserer heutigen Zeit, die Sie so schön hergerichtet haben, – denn schlimmer, als es heute ist, ist es nie gewesen. In unserer heutigen Gesellschaft ist durchaus nicht alles klar, meine Herrschaften. Sehn Sie, Sie leugnen Gott, Sie leugnen den schönen Tatendrang. Kann mich eine taube, blinde, stumpfe Kraft der Trägheit zwingen, so zu handeln, wenn eine andere Handlungsweise vorteilhafter für mich ist? Sie sagen, ein vernünftiges Verhalten, das der Menschheit Nutzen bringe, sei auch mein eigener Vorteil; aber was, wenn ich nun alle diese Vernünftigkeit Unvernunft nenne, alle diese Kasernenideale, diese Gemeinsamkeitsträume? Den Teufel scheren sie mich, den Teufel schert mich die Zukunft, wenn ich nur einmal auf dieser Welt lebe! Gestatten Sie mir, selbst am besten zu wissen, was mein Vorteil ist: das ist vergnüglicher. Was kümmert es mich, was nach tausend Jahren mit dieser Ihrer Menschheit los sein wird, wenn ich für meine Taten, nach Ihrem Kodex, weder Liebe ernte noch ein künftiges Leben noch auch Anerkennung? O nein, wenn das so ist, so werde ich in aller Ruhe so unbescheiden sein, für mich selbst zu leben, und mögen drüber alle zum Teufel gehen!«

»Ein entzückender Wunsch!«

»Übrigens bin ich durchaus bereit, mit dabei zu sein.«

»Noch besser!« (Immer wieder dieselbe Stimme.)

Die andern blieben immer noch stumm, alle schauten mich an und musterten mich genau; jedoch es begann von verschiedenen Seiten des Zimmers her ein Kichern zu mir zu dringen, leise noch, aber sie kicherten mir alle direkt ins Gesicht. Nur Wasin und Kraft kicherten nicht. Der Mensch mit dem schwarzen Backenbart lächelte auch; er sah mich so recht frech an und horchte.

»Meine Herren,« sagte ich, am ganzen Körper zitternd, »meine Idee sage ich ihnen um keinen Preis, sondern ich frage Sie, ganz im Gegenteil, von Ihrem Gesichtspunkte aus, – glauben Sie nur nicht, ich fragte von meinem eigenen aus, denn ich liebe die Menschheit vielleicht tausendmal mehr, als Sie alle zusammengenommen! Sagen Sie doch – und Sie sind jetzt unbedingt verpflichtet, mir zu antworten, Sie sind dazu verpflichtet, weil Sie lachen –, sagen Sie doch: wodurch wollen Sie mich verlocken, mich Ihnen anzuschließen? Sagen Sie doch, wodurch Sie mir beweisen wollen, daß es in Ihrer Idealwelt besser sein wird? Was wird in Ihrer Kaserne mit dem Protest meiner Persönlichkeit geschehen. Meine Herren, ich hatte schon lange gewünscht, mal mit Ihnen zusammen zu kommen! Sie werden die Kaserne haben, gemeinsame Wohnungen, stricte nécessaire, Atheismus und gemeinsame Frauen ohne Kinder, das ist Ihr Finale, ich weiß es ja doch. Und für dies alles, für dies Quentchen mittelmäßigen Vorteils, das mir Ihre Vernünftigkeit garantieren will, dafür daß Sie mir satt zu essen und ein geheiztes Zimmer geben, soll ich Sie mit dem Preis meiner Persönlichkeit bezahlen! Erlauben Sie mal ein Beispiel: man nimmt mir meine Frau weg; wollen Sie mir dann auch meine Persönlichkeit nehmen, damit ich meinem Gegner nicht den Schädel einschlage? Sie werden sagen, unter solchen Bedingungen würde ich schon von selbst klüger werden; aber was wird die Frau zu einem so vernünftigen Manne sagen, wenn sie nur ein klein wenig Selbstachtung hat? Das ist ja doch unnatürlich; Sie sollten sich schämen!«

»Was die Frauen betrifft, sind Sie wohl Spezialist?« erklang schadenfroh die Stimme der Null.

Einen Augenblick hatte ich Lust, mich auf den Kerl zu stürzen und ihn mit meinen Fäusten durchzuwalken. Er war klein, rothaarig und sommersprossig . . . ach, übrigens der Teufel hole sein Äußeres!

»Sie können sich beruhigen, ich habe noch kein Weib gekannt«, sagte ich abschneidend und wendete mich zum erstenmal an ihn selbst.

»Ein kostbares Bekenntnis, nur hätte es der Damen wegen etwas verblümter sein dürfen!«

Aber alles geriet auf einmal in Bewegung, alle suchten sie ihre Hüte und begannen aufzubrechen, – selbstverständlich nicht meinetwegen, sondern weil ihre Zeit gekommen war; aber dies schweigsame Verhalten mir gegenüber fiel mir sehr schwer und beschämend auf die Seele. Ich erhob mich auch.

»Gestatten Sie mir, Sie nach Ihrem Namen zu fragen: Sie haben mich die ganze Zeit so angeschaut?« Mit diesen Worten trat plötzlich der Lehrer zu mir. Er lächelte dabei ganz infam.

»Dolgorukij.«

»Fürst Dolgorukij?«

»Nein, einfach Dolgorukij, ich bin der Sohn des ehemaligen Leibeigenen Makar Dolgorukij und das uneheliche Kind meines früheren Herrn, des Herrn Wersilow. – Haben Sie keine Angst, meine Herren: ich sage das absolut nicht, um Sie zu veranlassen, mir dafür um den Hals zu fallen und mit mir vor lauter Rührung zu heulen wie junge Kälber!«

Eine laute und sehr wenig förmliche Lachsalve knatterte los, so daß das schlafende Kind im Nebenzimmer erwachte und zu quäken anfing. Ich zitterte vor Wut. Dann drückten sie alle Dergatschow die Hand und gingen, ohne mir die geringste Beachtung zu schenken.

»Kommen Sie«, sagte Kraft und stieß mich an.

Ich trat auf Dergatschow zu und drückte ihm aus allen Kräften die Hand und schüttelte sie ein paarmal, gleichfalls aus aller Kraft.

»Entschuldigen Sie bitte, daß Kudriumow (so hieß der Rote) Sie in einem fort beleidigt hat«, sagte Dergatschow zu mir.

Ich folgte Kraft hinaus. Ich fühlte mich nicht im geringsten beschämt.

Ein Werdender

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