Читать книгу Verraten - Florian Schwiecker - Страница 8
2. Berlin, 12:15 Uhr
ОглавлениеAls Krieger wieder zu sich kam, drohte sein Schädel zu zerplatzen. Ohrenbetäubender Lärm drang von allen Seiten auf ihn ein, als würde direkt neben ihm ein Flugzeug starten. Dann erkannte er das Geräusch. Es waren Sirenen. Sie kamen von allen Seiten und wurden immer lauter. Polizei, Feuerwehr, Rettungswagen. Langsam begann sein Gehirn wieder zu arbeiten, und er erinnerte sich. Eine zweite Bombe. Sie hatten tatsächlich eine zweite Bombe gezündet. Er rollte sich auf den Rücken und biss sich auf die Unterlippe. Sein ganzer Körper war von Schmerz erfüllt. Zwei Bomben mitten in Berlin. Krieger wusste, was das bedeutete. Weitere Menschen waren gestorben. In diesem Moment spürte er, wie sein Handy in seiner Jacke vibrierte. Er fasste mit der rechten Hand in die Tasche und fühlte etwas Weiches. Die Puppe. Er schob das Spielzeug beiseite und holte sein Telefon heraus. Mit der linken Hand stützte er sich auf dem Boden ab, um aufzustehen. Ein scharfes Stechen schoss durch sein Bein, als er mit dem Fuß auftrat, und ihm wurde schwindelig. Er schaute auf seinen Oberschenkel. Seine Jeans waren zerrissen und blutig, aber das konnte warten. Zunächst das Telefon. Er wusste genau, wer am anderen Ende der Leitung war, denn es gab nur eine einzige Person, die seine Nummer kannte: Thomsen, sein Chef und Leiter des SKT – des Sonderkommando Terror, einer streng geheimen Spezialeinheit, die außerhalb der Bundesrepublik den Terror bekämpfte. Krieger nahm das Gespräch an.
»Krieger, wo sind Sie?«, tönte Thomsens Stimme aus dem Lautsprecher des Telefons.
»Keine hundert Meter von der Explosion entfernt, am Kurfürstendamm.«
»Sind Sie verletzt?«
Neben der Wunde an seinem Bein hatte er diverse Abschürfungen an den Armen. Außerdem hatte er einige Splitter von der Fassade abbekommen. »Nein, nur ein paar Schrammen«, erwiderte er.
»Was ist passiert?«, wollte Thomsen wissen. »Ich habe eben über das Notfallsystem die Meldung bekommen, dass es am Ku’damm eine Explosion gegeben hat.«
»Das stimmt«, sagte Krieger und musste tief durchatmen, ehe er weitersprach. »So wie es aussieht, waren es zwei Bomben. Beide im Abstand von nicht mehr als drei Minuten gezündet.« Er hielt kurz inne. »Eine klassische Sprengfalle.«
Thomsen überlegte einen Moment, was zu tun sei.
»Können die Täter noch in der Nähe sein?«, fragte er dann.
Daran hatte Krieger auch schon gedacht. Oft blieben die Täter am Tatort, um zu sehen, was sie angerichtet hatten. Doch es gab einen entscheidenden Punkt, der dagegen sprach.
»Nein, glaube ich nicht«, sagte Krieger deshalb. »Ich tippe auf Zeitzünder. Hätten sie einige Minuten länger mit der zweiten Detonation gewartet, wäre die Katastrophe weitaus größer gewesen. Es wären noch mehr Helfer und Schaulustige vor Ort gewesen.«
»Wie groß ist der Schaden?«, erkundigte sich Thomsen.
Krieger sah sich um. Der Kurfürstendamm war verwüstet und erinnerte an die Bilder aus Krisenregionen, die man aus den Nachrichten kannte. Die zweite Explosion hatte zusätzliche Menschenleben und Verletzte gefordert. Das Haus, in dem sich das Café befunden hatte, war jetzt vollständig in sich zusammengebrochen und hatte große Teile der beiden Nachbarhäuser mit sich gerissen. Jeden Moment drohte weiterer Schaden. Feuerwehrleute und freiwillige Helfer bargen ohne Rücksicht auf die Gefahr und das eigene Leben die Körper aus den Trümmern, während Polizisten versuchten, den Bereich weiträumig abzusperren. Krieger war sich sicher: Wenn die zweite Bombe erst jetzt explodiert wäre, hätte sie viel mehr Menschen das Leben gekostet.
»Es sieht nicht gut aus«, sagte Krieger. »Ein Haus ist vollkommen zerstört, und die Nachbarhäuser werden auch nicht mehr lange halten.«
»Wer steckt dahinter? IS? Al-Qaida? Ein religiös motiviertes Attentat?«
»Zumindest würde es ins Schema passen«, antwortete Krieger. »Aber … ich weiß es nicht, wir müssen es untersuchen.« Insgeheim fragte er sich, ob es nicht noch eine andere Möglichkeit gab. Offensichtlich hatte sein Chef den gleichen Gedanken, denn die nächste Frage traf genau ins Schwarze.
»Zufall, dass Sie in der Nähe waren? Könnte der Anschlag Ihnen oder Ihrem Informanten gegolten haben?«
»Kann schon sein. Vielleicht war er das Ziel. Oder ich. Oder es war Zufall.« Zu diesem Zeitpunkt gab es einfach zu viele Unbekannte in der Gleichung. Aber konnte der Anschlag wirklich ihm gegolten haben?
»Ich glaube nicht, dass es einen von uns treffen sollte«, sagte er dann. »Wenn die es darauf abgesehen hätten, hätten sie keine zwei Bomben gebraucht. Aber ausschließen können wir es noch nicht.«
Wer wusste alles, wo er war? In jedem Fall sein Chef, der ihn über sein Handy und über den kleinen Sender, der jedem Agenten des SKT in den rechten Unterschenkel implantiert war, orten konnte. Und natürlich der Informant, der ihn treffen wollte. Vielleicht war der Mann beschattet worden, aber das ergab keinen Sinn: Der Informant konnte nicht wissen, wer Krieger wirklich war. Er hatte eine seiner falschen Identitäten genutzt und sich als Mitglied eines der Berliner Mafiaringe ausgegeben, das vertrauliche Informationen kaufen wollte.
»Okay«, sagte Thomsen. »Wir brauchen mehr Anhaltspunkte. So kommen wir nicht weiter. Wir müssen rausfinden, was dahintersteckt. Wir müssen wissen, ob Sie oder das SKT kompromittiert worden sind. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich weiß, wer die vorläufige Ermittlung leitet, und verschaffe Ihnen Zugang zum Tatort.« Dann legte er auf.
Krieger sah auf die Uhr. 12:25 Uhr. Nach der zweiten Explosion musste er für etwa fünf Minuten das Bewusstsein verloren haben. Jetzt zählte jede Minute. Thomsen hatte recht. Sie mussten so schnell wie möglich die Ursache der Explosionen erforschen. Bislang war die Existenz des SKT nur wenigen Menschen bekannt. Das war auch der Grund, warum sie so erfolgreich im Ausland operieren konnten. Das würde sich mit einem Schlag ändern, wenn sie unterlaufen worden waren. Und das warf eine ganze Reihe von Fragen auf. Er musste und würde Antworten finden, um sich Gewissheit zu verschaffen. Genau dafür brauchte er Zugang zu den Ermittlungen. Denn innerhalb von Deutschland hatte das SKT keinerlei Befugnisse, sodass es auf die Kooperation mit der Polizei angewiesen war.
Mittlerweile war das Entsetzen einer hektischen Geschäftigkeit gewichen. Von überall her kamen neue Rettungsteams dazu, um sich an der Bergung und Versorgung der Verletzten zu beteiligen. Aber es waren immer noch viel zu wenig Helfer. Krieger wusste, was zu tun war. Er hatte im Laufe seiner Dienstzeit wahrscheinlich mehr Kriegswunden versorgt und Tote gesehen als die meisten Ärzte in ihrer gesamten Laufbahn.
In diesem Moment hörte er neben sich ein leises Schluchzen. Unter den Resten eines der zerstörten Tische des Vargas ragte ein winziger Arm in einer rosafarbenen Jacke hervor. Ein kleines Mädchen versuchte, sich mit seiner blutverschmierten Hand aus den Trümmern zu befreien. Doch der Tisch, der auf dem Kind lag, war zu schwer.
»Ganz ruhig«, sagte Krieger, »ich helfe dir. Beweg dich nicht.«
Die Hand blieb still, und das Schluchzen wich einem leisen Wimmern. Krieger hob den Tisch vorsichtig an. Unter der Platte kam ein blondes Mädchen zum Vorschein. Das Gesicht der Kleinen war dreckig und von Schmerzen verzerrt. Ängstlich sah sie Krieger an. Ihr linker Arm stand in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ab. Er war eindeutig gebrochen und musste dringend versorgt werden.
Krieger blickte sich um und fing ein Team Sanitäter ab, das gerade mit einem Krankenwagen am Unfallort eingetroffen war. Die Notfallhelfer blieben sofort stehen und gaben dem Mädchen ein Schmerzmittel. Dann richteten sie den Arm und legten ihr einen stabilen Verband mit Schiene an.
Krieger fiel die Puppe wieder ein, die er nach der ersten Explosion eingesteckt hatte. Er griff in die Tasche, zog sie heraus und gab sie der Kleinen. Sie schaute ihn mit großen Augen an und blickte dann zu der Puppe. Kaum wahrnehmbar hauchte sie: »Anni!« Dann blickte sie Krieger an. »Das ist meine Anni. Kann ich sie wiederhaben?«, fragte sie.
Krieger nickte.
Das Mädchen hielt die Puppe fest in ihrem Arm, Tränen rollten ihr über die Wangen. Dann fing sie an, leise auf die Puppe einzureden. »Du musst keine Angst haben, Anni«, sagte sie. »Alles wird wieder gut.«
Sie gab der Puppe einen Kuss auf die Stirn und strich ihr über die Haare. Dann, von einem Moment auf den anderen, forderten die Erschöpfung und das Schmerzmittel ihren Tribut: Dem Mädchen fielen die Augen zu. Krieger nickte den Sanitätern zu. Die beiden Männer legten das Kind auf ihre Trage und brachten es zum Notarztwagen. Krieger hoffte inständig, dass sie keine Waise geworden war.
Dann wandte er sich wieder der Unglücksstelle zu. Solange er keine weiteren Anweisungen von Thomsen erhielt, würde er helfen, die Verletzten zu bergen und zu versorgen. Die beiden Explosionen mussten an die dreißig Tote gefordert und mehr als hundert Menschen schwer verletzt haben. Die Zahl der Leichtverletzten lag weit darüber. Das war ohne Zweifel der schwerste Anschlag auf deutschem Boden seit Bestehen der Bundesrepublik. Und das mitten in Berlin.
Krieger spürte, wie Wut in ihm aufstieg und für einen Moment die Oberhand über seine Gefühle gewann. Anders als bei seinen Einsätzen im Ausland war er dieses Mal persönlich betroffen. Das hier war seine Heimat, das hier war seine Stadt. Den Anschlag würden die Attentäter bereuen. Bitter bereuen. Krieger würde die Verantwortlichen aufspüren, und wenn er sie bis in den hintersten Winkel der Welt verfolgen musste. Er würde sicherstellen, dass sie ihre gerechte Strafe erhielten. Und das wäre bestimmt keine Luxusbehandlung.