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2.Zielkonflikte: Materielle Gerechtigkeit versus Rechtssicherheit

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Rechtsstaatlichkeit erschöpft sich nicht in (formell gerechter) Gesetzlichkeit. Dies macht Art. 20 Abs. 3 GG deutlich, der davon spricht, dass die drei Staatsgewalten an „Gesetz und Recht“ gebunden sind. „Recht“ bedeutet also etwas anderes als „Gesetz“. Mit „Recht“ ist materielle Gerechtigkeit gemeint. Dies ist problematisch. Denn was materiell gerecht ist, lässt sich nicht bestimmen und ist vor allem ganz wesentlich vom politischen oder religiösen Vorverständnis sowie der kulturellen und familiären Prägung des Betrachters abhängig. Deshalb ist gegenüber dem Ziel der materiellen Gerechtigkeit stets der rechtsstaatliche Grundsatz der Gesetzlichkeit und der Rechtssicherheit vorrangig. So darf niemand einem Gesetz den Gehorsam versagen mit dem Argument, das Gesetz sei ungerecht. Würde man dies zulassen, so höbe sich die Rechtsordnung selbst auf. Allerdings gibt es Möglichkeiten, die Ungerechtigkeit des Gesetzes in einem geordneten Verfahren geltend zu machen. Wenn die Ungerechtigkeit darin besteht, dass das Gesetz verfassungswidrig ist, so kommt z.B. eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfG in Betracht. Freilich können auch verfassungsgerichtliche Entscheidungen, wie immer wenn Menschen beteiligt sind, falsch und damit ungerecht ausfallen. Dies ist vor dem Hintergrund der Belange des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit indes hinzunehmen.

Allerdings gibt es (äußerst seltene) Ausnahmefälle, in denen der Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit vorrangig ist. Dies war z.B. der Fall, als es um die nachträgliche Bestrafung von NS-Tätern ging, die sich zu Zeiten der nationalsozialistischen Herrschaft im Einklang mit damals geltendem Recht verhalten haben. Ein Ähnliches Problem stellte sich bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts, als es um die Bestrafung von Mauerschützen ging, die an sich nach § 27 DDR-Grenzgesetz rechtmäßig gehandelt haben56.

Für solche „extremen“ Fälle kann die von dem Rechtsphilosophen Gustav Radbruch im Jahre 1946 entwickelte Konfliktlösung zur Anwendung gebracht werden (Radbruchsche Formel): „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Rechts zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“57

1Hesse, Grundzüge, Rn. 121.

2Vgl. BVerfGE 1, 97, 105.

3BVerfGE 94, 241, 263; BVerfGE 132, 134.

4BVerfGE 125, 175.

5Zum Bundesstaatsprinzip Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2010, 873.

6Zu den Gesetzgebungskompetenzen, Bäumerich, JuS 2018, 123.

7Zu den Verwaltungskompetenzen bei der Ausführung von Bundesgesetzen Voßkuhle/Kaiser, JuS 2017, 316.

8Das BVerfG ist nicht nur Gericht, sondern zugleich auch Verfassungsorgan. Es ist mit den übrigen Verfassungsorganen gleichrangig und kann mit seinen Entscheidungen in die Handlungsbereiche der übrigen Verfassungsorgane eingreifen, wenn es die Übereinstimmung ihrer Handlungen mit dem Grundgesetz mit bindender Wirkung beurteilt wird. Das BVerfG nimmt damit unweigerlich Einfluss auf die politische Staatsleitung, so dass seine Rechtsprechung immer auch eine politische Rechtsprechung ist.

9Die Zahl jährlich erhobener Verfassungsbeschwerden liegt derzeit bei etwa 6.000.

10Andere Gerichte sind unbedingt an die formellen Gesetze gebunden und müssen sie anwenden. Haben sie begründete Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines formellen Gesetzes, müssen sie diese Frage dem BVerfG vorlegen, das dann über die Gültigkeit der Regelung entscheidet (vgl. Art. 100 GG).

11Zum Demokratiebegriff Pieroth, JuS 2010, 473

12Nach Art. 116 Abs. 1 GG sind Statusdeutsche solche, die als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat. Darunter fallen insbesondere sog. Aussiedler bzw. Spätaussiedler die seit dem Jahr 1950 als „deutsche Volkszugehörige“ im oben genannten Sinne aus den (ehemals) kommunistischen Staaten Ostmittel-, Südost- und Osteuropas in die Bundesrepublik Deutschland emigriert sind.

13Böckenförde, in: Isensee/Kirchoff (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 11 ff.

14Abweichungen davon können in geringem Umfang aufgrund des Phänomens sog. Überhangmandate statthaft sein.

15Parteien müssen drei Merkmale aufweisen: Sie müssen Vereinigungen von Bürgern sein, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen und nach ihrem Gesamtbild, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten. Vgl. § 2 Abs. 1 PartG sowie BVerfGE 121, 30 (55); 85, 264 (287).

16Über die Wahlkostenerstattung dürfen die Parteien nur teilfinanziert werden, § 18 Abs. 1 Satz 1 PartG.

17BVerfG v. 27.2.2018 – 2 BvE 1/16.

18BVerfGE 1, 208 (225).

19BVerfGE 29, 154 (165).

20BVerfGE 35, 202 (221).

21BVerfGE 80, 124 (134): Die negative Bewertung einer politischen Veranstaltung einer Partei durch staatliche Organe, die geeignet ist, abschreckende Wirkung zu entfalten und dadurch das Verhalten potentieller Veranstaltungsteilnehmer zu beeinflussen, verletzt das Recht der betroffenen Partei auf Chancengleichheit.

22BVerfGE 2, 1 (12); 5, 85 (140); 44, 125 (145).

23BVerfGE 39, 334.

24Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60.

25Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. 1, 1984, § 20 III 1, S. 781.

26Zum Gewaltenteilungsgrundsatz vgl. Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2012, 314.

27Die Funktion der Gesetzgebung wird auf Bundesebene hauptsächlich durch Bundestag und Bundesrat wahrgenommen. Beide Organe haben (neben der Bundesregierung) ein Gesetzesinitiativrecht (Art. 76 Abs. 1 GG). Der Bundestag beschließt die Gesetze (Art. 77 Abs. 1 GG) und beteiligt den Bundesrat. Im Falle eines zustimmungspflichtigen Gesetzes kommt das Gesetz nur mit Zustimmung des Bundesrates zustande, anderenfalls kann er Einspruch erheben, der jedoch vom Bundestag überstimmt werden kann (Art. 77 und Art. 78 GG).

28Vgl. Knauff, VR 2012, 188 m.w.N.

29BVerwG NVwZ-RR 2014, 767 (768).

30Zu Wesentlichkeitstheorie bzw. Parlamentsvorbehalt, Kalscheuer/Jacobsen, DÖV 2018, 523 ff.

31Sehr strittig, vgl. Jarass, NVwZ 1984, 473.

32Dazu im Einzelnen Kalscheuer/Jacobsen, DÖV 2018, 523 ff.

33Vgl. dazu den Klausurfall von Braun/Hummels, PolizeiInfoReport 4/2018, 21.

34BVerfGE 56, 1 (13).

35Vgl. etwa PrOVG, Urt. v. 21.6.1923 = PrOVGE 78, 267 (271); Urt. v. 27.9. 1923 = PrOVGE 78, 272 (278) zur Entwicklung siehe auch D/W/V/M, Gefahrenabwehr, S. 332 f. m.w.N.

36OVG Münster NJW 1997, 1596.

37Vgl. dazu Braun, PSP 1/2017, 3 ff.

38Heckmann, in: B/H/K/M, Teil 3 Rn. 144.

39Kingreen/Poscher, POR § 10 Rn. 44 ff

40BVerwGE 11, 95 (97); D/W/V/M, Gefahrenabwehr, S. 369 ff.

41Dazu vertiefend Görisch, JuS 1997, 394 sowie im Überblick Hobe, JA 1994, 394; vgl. zum Rückwirkungsverbot auch Wernsmann, JuS 1999, 1177 ff. und 2000, 39 ff. mit vielen Beispielen aus dem Steuerrecht.

42Dazu im Einzelnen Görisch, JuS 1997, 394 ff.

43BVerfG NJW 1990, 3140.

44Der Wortlaut dieser Vorschrift ist dabei etwas zu eng gefasst. Richtig müsste es heißen, dass jedem der Rechtsweg offensteht, der plausibel die Möglichkeit darlegt, dass er in seinen Rechten verletzt ist. Ob tatsächlich eine Rechtsverletzung vorliegt, soll in dem gerichtlichen Verfahren ja gerade geklärt werden.

45Vgl. die Untersuchung von Backes/Gusy, Wer kontrolliert die Telefonüberwachung, 2003, die erhebliche Defizite bei der Benachtrigungspflicht im Rahmen der Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO offenlegt.

46BVerfG v. 20.04.2016 – 1 BvR 966/09; BGH v. 26.1.2017 – StB 26/14.

47BVerfGE 19, 342 (348 f.).

48Hinweis: Die tatsächliche Unmöglichkeit führt stets zur Nichtigkeit der getroffenen Anordnung, vgl. § 44 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG NRW.

49Kingreen/Poscher, POR, § 10 Rn. 21 unter Verweis auf OVG Lüneburg, OVGE 27, 321 (325).

50Schmidbauer/Steiner, PAG, Art. 4 Rn. 11.

51Diese Ausnahme findet ihren Grund in der konkludenten Einwilligung in die Beeinträchtigung eigener Rechte, die dem Eingriff die Rechtswidrigkeit nimmt.

52Maßstab hierfür ist die Ex-ante-Sicht eines fiktiven Durchschnittsbeamten, der pflichtgemäß handelt.

53Der Fall hat sich tatsächlich so zugetragen, vgl. http://www.sueddeutsche.de/muenchen/2.220/leibesvisitation-bei-schuelern-blick-in-bh-und-unterhose-1.1537557.

54Nach Hemmer/Wüst/Daxhammer/Grieger, Polizeirecht Bayern, 9. Aufl. 2011, Rn. 121.

55Ossenbühl, Jura 1997, 617.

56Dazu Dreier, JZ 1997, 421 ff.

57Radbruch, SJZ 1946, 105 (107).

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