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Ely / East Anglia, Montag 26. April, 07:55 Uhr

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Louis Cramshaw kam gerade die Treppe herunter, wie an jedem Morgen um diese Uhrzeit. Und was andere Leute für den lästigen Alltagstrott hielten, war für ihn nur der Beweis, dass sein Leben in geregelten Bahnen verlief.

Die Treppe befand sich im Landhaus, das schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz war. Es lag einige Kilometer außerhalb von Ely, man könnte aber immer noch sagen, im Einzugsbereich der Stadt. So sauber das Haus war, so hervorragend der Garten gepflegt wurde, so gut in Schuss der Fuhrpark war, genauso war das gesamte Leben der Familie Cramshaw.

»Louis, mein Lieber«, sagte seine Mutter, in dem Moment, in dem er in den Speiseraum bog, »setz dich zu uns und nimm ein Croissant zu dir, bevor du ins Büro fährst. Du isst zu wenig. Du wirst noch so dünn, wie dein alter Herr.« Und mit dieser Bemerkung nickte sie in die Richtung, in der sein Vater saß. Gezeichnet durch sein Gebrechen, meinte man immer, wenn er sich bewegte, Knochen stöhnen und Gelenke ächzen zu hören.

Nach 15 Minuten artiger Konversation, einem Croissant, einer Tasse Kaffee, einem Glas frisch gepressten Orangensaft und einem Schluck Wasser, fuhr er in die Stadt. Mit Missbilligung nahm seine Mutter zur Kenntnis, dass er seine beidseitig gebratenen Eier nicht angerührt hatte.

Kurz vor halb Neun kam er am Polizeirevier an. Das Gebäude war überschaubar und er hatte auch nicht sehr viel zu tun. Gerade als er das Revier betrat, stürzten uniformierte Kollegen an ihm vorbei und zur Tür hinaus. Ein wenig wehmütig blickte er ihnen nach, wie immer, wenn es einen neuen Einsatz gab, mit dem er wieder einmal nichts zu tun hatte. Dafür würde er aber hinterher die Berichte mit großer Begeisterung lesen.

Er stieg die Treppe hinauf, bog nach links in den Gang ein und betrat nach wenigen Metern sein Büro. »Alles in Ordnung«, dachte er. Die Akten standen in der richtigen Reihenfolge im Regal, der Schreibtisch war aufgeräumt, so wie er ihn am Tag zuvor verlassen hatte, der Papierkorb war leer, und als erstes gab er jetzt den Kakteen auf der Fensterbank ein paar Tropfen Wasser, wie jeden Montag und Donnerstag um kurz nach halb Neun.

Er war fast fertig mit seiner Tätigkeit, als Betty hereinkam. Er hatte einmal vergeblich versucht, ihr brav den Hof zu machen. Sie sagte ihm, dass sie etwas mehr Draufgängertum bevorzuge, und seitdem sah er sie mit anderen Augen. Seine Mutter hatte ihn dazu erzogen, sich vor Mädchen, die allzu schnell zur Sache kommen wollten, sie nannte sie leichte Mädchen, zu hüten. Wenn die neumodischen Sitten der Gesellschaft die waren, dass Mann und Frau schon vor der Ehe zusammenkamen, dann sollte man sich zumindest schon lange kennen und miteinander vertraut sein.

Betty war eine der Telefonistinnen des Reviers; eine, von denen immer zwei erreichbar waren. So taten sechs Telefonistinnen in drei Schichten rund um die Uhr ihren Dienst. Louis mochte Betty am liebsten, auch wenn sie vielleicht etwas fragwürdig sein sollte.

Sie legte ihm die handschriftlichen Berichte vor, die die Beamten gestern kurz vor Dienstschluss noch schlampig hingekritzelt hatten, und die er jetzt ins Reine tippen sollte.

»Was ist denn das für ein Einsatz, zu dem die halbe Mannschaft ausrücken muss?«, erkundigte sich Louis mit unverhohlener Neugier.

»Genau weiss ich das auch nicht. Ruth hat die Meldung angenommen und weitergeleitet. Sie sagte irgendetwas von Geiseln und einem Selbstmörder auf dem Marktplatz.«

»Wahrscheinlich«, schnaubte Louis sarkastisch. »Selbstmörder, Geiseln, wir sind hier in Ely und nicht in der South-Bronx.«

»Ich habe einmal gehört, dass nicht Alle, die es vorhaben, es auch wirklich tun. Sich das Leben nehmen, meine ich. Mal sehen, was daraus wird.« Mit diesen Worten verließ sie sein Büro.

Louis wusste, was jetzt passieren würde. Sie werden den Platz großräumig absperren, um die Schaulustigen fernzuhalten. Sie werden versuchen, Kontakt zum Geiselnehmer herzustellen, Scharfschützen werden ihn oder sie ins Visier nehmen und man wird verhandeln. Es war aufregend, sich die Szenerie vorzustellen. Aber, schließlich waren wir hier in Ely. Dennoch spann Louis den Faden weiter. Betty sagte Selbstmörder. Das erschwerte die Angelegenheit. Solche Leute konnte man nie hundertprozentig richtig einschätzen. Sicher war schon ein Psychologe unterwegs. Einer von denen, für die alles nicht so schlimm war, die über alles noch einmal reden wollten und die immer sicher waren, dass sich Alles noch irgendwie zum Guten wenden ließe.

Man stelle sich das einmal vor: »Warum ich mich vom Dach stürzen will? Das werde ich Ihnen sagen. Meine Frau, meine hochschwangere Frau, hatte einen Autounfall, beide tot. Mein Geld ist bei einer Fehlspekulation draufgegangen. Man hat mich gefeuert, ich habe jetzt keinen Job mehr. Ich habe erfahren, dass ich eine unheilbare Krankheit habe und dass ich qualvoll sterben werde. Mein Haus ist abgebrannt, in dem sich noch meine Mutter befunden hatte, auch tot. Und jetzt ist auch noch mein Hund weggelaufen, ganz davon abgesehen, dass mein Cricket-Team abgestiegen ist.«

»Aber das ist doch nicht so schlimm. Das Leben geht weiter, wir können ihnen helfen.«

Und wenn er noch den kleinsten Zweifel an seiner Tat hatte, dann sprang er spätestens jetzt. Louis kicherte in sich hinein. »Die meisten Männer auf dem Dach waren bestimmt Routine«, dachte er. »Entweder er sprang, und die Sache war gelaufen, oder er sprang nicht, und die Sache war auch gelaufen. So oder so, eine Woche später sprach niemand mehr vom Mann auf dem Dach. Außer hier in Ely vielleicht.«

Louis Cramshaw konnte nicht ahnen, was in dem Mann vor sich ging, der für den Zwischenfall auf dem Marktplatz verantwortlich war, was sich in seinem Kopf abspielte. Genauso wenig konnte er ahnen, welch dramatische Wende sein ach so geregeltes Leben nehmen würde.

Das Lied des Steines

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