Читать книгу Das Lied des Steines - Frank Riemann - Страница 15

Wollongong / Neusüdwales, Montag 26. April, 09:00 Uhr

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Henry O`Mailey saß in Heathers Cafè, wo er öfters vorbei sah, wenn er überlegen musste, was ihm dieses Mal noch schwerer fiel als üblich. Er trank einen Kaffee, wodurch seine Magenschmerzen erneut auftraten. Vor ihm stand auch ein Stück Mohngebäck, das er allerdings nicht angerührt hatte. Obwohl er es bestellt hatte, wusste er, er würde es wahrscheinlich gar nicht essen. Der untersetzte, in sich zusammen gefallene Mann, wirkte hinter dem Tisch noch kleiner. Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und drückte seine Handballen auf die Augen. Dann fuhr er sich durch sein unordentliches rot-braunes Haar und kratzte sich am Kinn. Dabei erzeugten seine Stoppeln ein kratzendes Geräusch. Er dachte nicht an eine Rasur, obwohl er sie nötig gehabt hätte. Seine grauen Augen schienen noch trüber, als sonst. Er kramte eine Zigarette aus seinem Mantel und entzündete sie, während er scheinbar teilnahmslos geradeaus starrte. In seinem Innern sah es hingegen wahrhaftig anders aus.

Seit die Spurensicherung das Haus für ihn freigegeben hatte, hatte er bereits zehn Zigaretten geraucht, ohne, dass es ihm bewusst gewesen wäre. Und es war erst 09:00 Uhr morgens.

Was O`Mailey vom Eingang des Hauses aus sah, war erst die Einleitung des Schreckens, der sich dort abgespielt haben musste.

Im ganzen Haus verteilt fand man die Überreste der Familie Nillensson. Die vollständigsten Teile waren noch die Oberschenkelknochen der Erwachsenen. Völlig zerstörte und ausgenommene Körper. Organe, die überall herumlagen, blanke Knochen, zerfetztes Gewebe, auf einer Treppe ein zerschmetterter Schädel und überall Blut, auf dem Boden, an den Wänden, auf den Möbeln, auf der Treppe und auf dem Geländer, ja sogar an den Decken und an den Lampen. Schlimmer als im Schlachthaus. Als ob ein Künstler der Body-Art-Szene verrückt geworden wäre und ein unvergleichliches Kunstwerk habe schaffen wollen.

Und signiert hatte er es auch. Im Wohnzimmer war eine Regalwand umgeworfen worden und auf der hellen Tapete befanden sich seltsame Zeichen. O`Mailey hatte sie sich auf einen Block geschrieben. Oder besser gesagt, er hatte versucht, sie eins zu eins zu übernehmen.

Seine Notizen lagen vor ihm neben der Kaffeetasse auf dem Tisch. Er blickte darauf, ohne die wenigen anderen Gäste im Cafè und ihre Gespräche wahrzunehmen. Er verstand ihre Bedeutung nicht, denn so etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Und er wusste auch nicht, ob sie überhaupt etwas zu bedeuten hatten.

Im Wohnzimmer der getöteten Familie nahmen die mit Blut geschriebenen Zeichen die gesamte breite Wand ein. In mehreren Reihen prangte die ungewöhnliche Schrift dort wie eine Botschaft. Im ersten Moment dachte O`Mailey, es würde sich um japanisch handeln, was aber nicht zutraf. Es gab zwar Sequenzen, die japanischen Schriftzeichen ähnelten, doch standen sie nicht für sich alleine, sondern wurden durch seltsame Schnörkel miteinander verbunden, die dem arabischen hätten entsprungen sein können. Auch endete die Schrift nicht am Ende der Zeile, sondern rutschte tiefer und führte in entgegengesetzter Richtung weiter. So zogen sich Bögen und Haken, Schleifen, Kreise und Querstriche in einer ununterbrochenen Linie über die komplette Fläche der Wand.

Heather schob ihren runden Körper durch den Raum und kam auf O`Mailey zu, in einer Hand eine halbvolle Kaffeekanne. »Willst du noch Kaffee, Henry?«

Sie stand vor ihm und wartete auf eine Antwort. Weil sie keine bekam und sah, dass seine Tasse noch fast voll war, drehte sie sich um und verschwand wieder hinter der Theke.

Henry schien zu träumen. Er dachte an das Haus und an die Schriftzeichen, die natürlich keinen Sinn ergaben. In seiner Kindheit hatte es auch oft Ereignisse gegeben, die er nicht verstanden hatte und Eines kam ihm jetzt in den Sinn.

Er lebte damals mit seiner Mutter in Sydney, in einem Haus, in dem es beinahe nur Frauen gab. Nur ein Mann war permanent anwesend. Die Anderen, die vorbeikamen, gingen schon nach kurzer Zeit wieder. Seine Mutter sagte damals: »Das ist so: Wenn sie gekommen sind, gehen sie wieder.« Dann lachte sie immer, aber Henry verstand nicht, worüber. Er begriff nicht, was sich dort abspielte, und warum er nicht bei ihr sein durfte, wenn die Tür verschlossen war. Erst Jahre später, nach ihrem Tod und nachdem er in ein Waisenhaus kam, wurden ihm die Zusammenhänge klar.

Eines Tages gab seine Mutter ihm Geld und einen Zettel mit einer Notiz. Er sollte die Straße entlang gehen, bis zur Kreuzung, dann rechts herum bis zur Apotheke und dem Mann das Geld und den Zettel geben.

Er schlenderte los, blickte auf den Zettel, wusste aber, da er nicht lesen konnte, nicht, was er zu besorgen hatte. Der Apotheker schaute auf das Papier und grinste ihn breit an, als ob er Kenntnis von einem Geheimnis hatte, dass sich Dummkopf O`Mailey nicht erschloss.

Seine Mutter nannte ihn immer Dummkopf, seinen Namen Henry sollte er erst im Waisenhaus bekommen.

Der Mann nahm das Geld, stellte ein kleines Päckchen auf den Ladentisch, gab ihm einige Münzen zurück und grinste erneut.

Dummkopf trödelte zurück, schob sich ein blass gewordenes Bonbon, das er tief unten in seiner Hosentasche gefunden hatte, in den Mund und sah die Szene, an die er sich jetzt in Heather`s Cafè, durch den Anblick des furchtbaren Tatorts und der blutigen Schrift ausgelöst, erinnerte.

Auf der Straße lag etwas, das Dummkopf nicht sofort erkannte. Auf seinem Hinweg zur Apotheke war es noch nicht dort gewesen, oder er hatte es übersehen. Er ging einige Schritte näher heran und stellte fest, dass es sich um ein überfahrenes Tier handeln musste. Ein Lastwagen musste es erwischt haben, da der Haufen, der dort auf der Straße lag, nicht grade klein und ziemlich zermatscht war. Es war wahrscheinlich ein Hund gewesen, obwohl man den zerstörten Schädel nicht mehr genau erkannte. Das Rückgrat stand seltsam abgewinkelt ab und aus dem aufgeplatzten Kadaver breiteten sich die Innereien auf der Straße aus.

Dummkopf wurde übel, er verschluckte sein Bonbon und hustete es wieder aus. Aber aus irgendeinem Grund konnte er seine Augen nicht von der leblosen Masse abwenden. Dann geschah etwas, was er überhaupt nicht verstand.

Ein Junge, der größer und älter war als er selber, ging mit einem langen Stock in der Hand auf das tote Tier zu und blieb davor stehen. Er stocherte und rührte mit seinem Stab in dem Fleischklumpen herum und zog blutige rote Striche auf die Fahrbahn. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Es zeigte weder Trauer, Ärger, Schadenfreude noch Ekel.

Dummkopf fragte sich, was er dort tat. Suchte er etwas?

»Warum taten Menschen das, was im Haus der Familie Nillensson geschehen war?«, fragte sich Henry O`Mailey in Heathers Cafè.

Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Er war kalt geworden und schmeckte widerlich. Sein Gebäck hatte er nicht angerührt, beim Gedanken daran wurde ihm übel. Er legte zwei Dollar auf den Tisch, steckte seinen Notizblock ein, stand auf und verließ das Cafè.

»Mann«, sagte Heather zu den drei Müllmännern, die auf ihrer Tour immer eine Pause bei ihr einlegten, »schlecht gelaunt ist der ja meistens, aber man kann sich noch halbwegs vernünftig mit ihm unterhalten. So habe ich ihn ja noch nie erlebt.« Die Drei nickten gelangweilt und ließen sich von ihr Kaffee nachschenken.

O`Mailey schloss seinen Mantel und stellte den Kragen hoch. Die ganz warmen Tage waren vorbei, es ging allmählich auf den australischen Winter zu. Die Temperaturen würden dann in Südaustralien um die zehn Grad Plus zwar noch zu ertragen sein, aber er mochte dieses ungemütliche Wetter nicht. Jetzt waren es ungefähr vierzehn Grad Celsius und es begann ganz leicht zu regnen, was seiner Stimmung auch nicht gut tat. In diesem Teil des Kontinents regnete es hauptsächlich im Frühling, also von September bis Dezember; dass Ausläufer pazifischer Zyklone Regenfronten an Land trieben, war im April eher selten.

Henry stieg in seinen Käfer, startete den Motor, schaltete die Scheibenwischer ein, die schon älter waren und die Windschutzscheibe mehr schlecht als recht vom Regen befreiten. Die Feuchtigkeit machte dem Vergaser zu schaffen und so ruckelte der Wagen durch die Straßen.

Das, was die Nachbarn dem Inspector erzählt hatten, brachte ihn nicht weiter. Kent Nillensson sei ein ausgeglichener liebenswürdiger Familienvater gewesen. Er selber fiel ja sowieso als Verdächtiger aus, da sein Kopf und seine Füße nun mehr als 187 cm voneinander getrennt waren. Nein, man könne sich auch nicht vorstellen, dass er Feinde gehabt hätte, und von einem Familienangehörigen, der ein eventuell vorhandenes Vermögen erben würde, wusste man auch nichts. O`Mailey hatte inzwischen Kenntnis, dass es kein Vermögen gab. Die Nillenssons hatten zwar ganz gut gelebt, waren aber ganz gewiss nicht reich. Und die Angehörigen waren auch nicht so zahlreich. Kent Nillenssons Eltern waren vor vielen Jahren aus Skandinavien, genauer gesagt, aus Schweden, eingewandert. Sie waren bei einem Verkehrsunfall in Sydney ums Leben gekommen als Kent zwanzig war, und er war ein Einzelkind. Von seiner Frau Maria lebten noch die Mutter und eine Schwester in Brisbane im Bundesstaat Queensland. Dieser Familienzweig hatte spanische Vorfahren, und die beiden kamen als Täter so gut wie nicht in Frage.

Henry war auf dem Weg zur Werbeagentur, in der Kent Nillensson gearbeitet und deren Adresse er von einem Nachbarn bekommen hatte, um dort vielleicht etwas in Erfahrung zu bringen. Der Wind trieb den Regen von Osten, vom Pazifik her, über die Stadt. Seine Magenschmerzen traten wieder auf, er verzog das Gesicht, kratzte sich am Kinn und überlegte, was er bis jetzt zusammen hatte.

Nichts!

Bis jetzt hatte er noch keinen konkreten Hinweis, der ihm weiterhalf. Die einzige Spur waren die am Tatort gefundenen Fingerabdrücke. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass diese ihn weiterbringen würden, denn wer schlachtete schon eine ganze Familie ab, und ließ sich dann anhand seiner Fingerabdrücke schnappen? Aber vielleicht hatte er ja zur Abwechslung auch mal Glück, und sie würden mit denen bekannter Gewaltverbrecher übereinstimmen. An den Computer würde er gehen, nachdem er in der Werbeagentur war. Sie lag praktisch auf dem Weg, und in diesem Moment passierte er das zweigeschossige Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich eine Druckerei, und die Agentur im ersten Obergeschoss befand. O`Mailey fuhr vorbei, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Dieser Fall bereitete ihm ein körperliches Unbehagen allererster Güte und er hätte am liebsten Urlaub genommen.

Als er seinen Fehler bemerkte, wendete er und parkte seinen Käfer auf der anderen Straßenseite, dem Gebäude gegenüber. Er wickelte sich in seinen Mantel und ging durch den Regen über die Straße. Ein vorbei fahrender Wagen rauschte durch eine Pfütze, spritzte ihn voll und machte seine Hosen noch nasser, als sie es ohnehin schon waren.

»Komm zurück, du Wichser! Du spinnst wohl! Wie würde dir eine Nacht in Gewahrsam gefallen? Hey, komm zurück!« Doch der Wagen fuhr vollkommen unbeeindruckt weiter, um kurz darauf hinter einer Ecke zu verschwinden. O`Mailey dachte einen Moment daran, sich das Kennzeichen zu notieren, verwarf den Gedanken aber wieder, da der Aufwand sich nicht lohnte.

»Scheiße!«, fluchte er. »Verdammte Scheiße!« Er hastete zum Eingang, betrat das Treppenhaus und stieg nach oben. Dort verschloss ihm eine Tür den Weg und er musste klingeln. Über dem Klingelknopf war ein kleines Kunststoffschild angebracht, auf dem stand: `Jefferson Werbung - Wir Verführen Menschen`. Ein Türöffner summte und der mies gelaunte Inspector trat ein.

Als er sich in den hellen Räumlichkeiten umsah, bemerkte er, dass ein reges Treiben in den Büros herrschte. Gerade als er dachte, man hätte ihn gar nicht wahr genommen, klopfte eine junge Frau von ihrer Seite an die Glasscheibe, die den Flur und ihr kleines Büro trennte. Er sah sie an und sie winkte ihn zu sich heran.

»Hallo, guten Morgen, herzlich Willkommen bei der Agentur Jefferson. Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie aufgesetzt freundlich, was so gar nicht Recht zu diesem Morgen passen wollte. Ihre hellen Locken fielen ihr in geordneter Unordnung vom Kopf ins Gesicht und sie sah O`Mailey über den Rand ihrer Brille hinweg fragend an.

»Ja.« Er entledigte sich seines feuchten Mantels und hängte ihn an einen Haken. »Ja, ich möchte zu Mr. Jefferson. Ist das möglich?«

»Oh, das tut mir leid. Mr. Jefferson ist zur Zeit gar nicht im Haus.«

»Mein Name ist O`Mailey, ich bin von der Polizei«, dabei hielt er ihr seinen Dienstausweis der New South Wales Police an die Scheibe, »und es ist wirklich wichtig, dass ich ihn spreche.«

»Das glaube ich Ihnen gerne, Inspector, aber er ist wirklich nicht hier. Wenn es so wichtig ist, können Sie ja mal mit Glenn Tucker reden. Er ist fast so etwas, wie unser zweiter Chef.«

»Und wo finde ich diesen Mr. Tucker?«

Sie deutete mit dem Finger. »Dort den Gang entlang und dann die letzte Tür auf der linken Seite.«

O`Mailey schlurfte in die angegebene Richtung, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

»Keine Ursache«, meinte die Sekretärin und machte sich wieder an ihre Arbeit.

Der Inspector kam an einigen Büros vorbei, deren Türen alle offen standen. Er konnte Männer und Frauen sehen, die an ihren Schreibtischen saßen, zeichneten, lasen oder telefonierten. Andere gingen von Raum zu Raum, unterhielten sich und tauschten Ideen aus. Auch die Tür zu Tuckers Arbeitszimmer stand weit offen.

»Glauben Sie?« Er unterhielt sich gerade mit einer Frau in den mittleren Jahren, der man einen asiatischen Elternteil ansah. Sie standen beide vor einer Tafel, an der ein Plakat befestigt war. Sie wendeten ihrem Zuhörer den Rücken zu und die Mitarbeiterin sagte: »Ich bin mir ziemlich sicher. Aber die Entscheidung liegt letztendlich bei `Southern Milk`. Die Konsumenten wollen nichts wissen, vom idyllischen Rancherleben. Ich würde sagen, wir schlagen den Herren die folgenden zwei Projekte vor. Entweder wir weisen die Verbraucher darauf hin, wie gesund und schmackhaft die Milch ist, das wäre die Plakatserie mit der Durchschnittsfamilie beim Frühstück. Alle haben ein großes Glas Milch in der Hand und einen Milchschnurbart, sogar der Hund. Auf kleinen Bildern am unteren Rand zeigen wir dann, welche Höchstleistungen sie vollbringen.«

»Wir könnten den Hund einen doppelt so großen Haufen legen lassen«, spottete Tucker.

»Sehr witzig. Oder die andere Möglichkeit, die mit den dynamischen Sportlern, die lächeln und die Verpackungen hochhalten. Das wären diese zwei Entwürfe.« Sie nahm das erste Plakat von der Tafel und nun konnte man zwei weitere sehen. Das eine zeigte einen sich noch im Wasser befindenden Schwimmer, der gerade einen Wettkampf gewonnen hatte und in der zum Triumph erhobenen Hand eine Tüte Milch hielt. Das andere füllte im wahrsten Sinne des Wortes eine attraktive, üppig ausgestattete Blondine im knappen Aerobicdress aus.

»Mir gefällt das besser«, meinte Tucker.

»Typisch. Also, wie gesagt, meine Meinung ist, wir lassen das Landleben fallen und schlagen unserem Kunden diese zwei Konzepte vor, dann kann sich `Southern Milk` selbst entscheiden.«

Jetzt wurde es O`Mailey aber zu bunt. »Mr. Tucker? Ich habe ein paar Fragen an Sie.«

Überrascht drehten sich die Beiden um und sahen den gedrungenen Mann an, der ihnen seinen zerknitterten Ausweis unter die Nase hielt.

»Ich bin einverstanden«, sagte Tucker zu seiner Kollegin. »Schlagen Sie es so vor. Gute Arbeit, Judy.«

Judy Owen nahm ihre Plakate, ging und schloss hinter sich die Tür, was für die Anderen das Zeichen war: Der Kollege wollte im Moment nicht gestört werden.

»Was kann ich für Sie tun, Inspector?«, und nach einem erneuten Blick auf den Dienstausweis fügte er »O`Mailey« hinzu.

»Ich brauche einige Auskünfte über einen Ihrer Mitarbeiter. Es handelt sich um Kent Nillensson; er und seine Familie kamen vergangene Nacht gewaltsam ums Leben und ich möchte gerne etwas mehr über ihn erfahren. Vielleicht bringt mich ja sein berufliches Umfeld einen Schritt weiter.«

»Gewaltsam?«, fragte Tucker zaghaft und Henry spürte, wie sehr ihn die Nachricht traf. Er tastete sich kraftlos an seinem Arbeitstisch entlang und ließ sich schwerfällig in seinen Stuhl fallen. »Was ist geschehen? Was wollen Sie wissen?« Die Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen.

»Sie könnten mir zum Beispiel erzählen, woran er gerade gearbeitet hat.«

Tucker bedeutete ihm mit einer Handbewegung Platz zu nehmen, setzte sich selbst, O`Mailey gegenüber, in seinem Stuhl auf, lehnte sich zurück und machte es sich bequem. »Kent arbeitete gerade an einer wichtigen Sache.« Er sprach leise und stockend, als ob er den Grund, warum sein Mitarbeiter heute Morgen nicht erschienen war, noch nicht verarbeitet hatte. »Er hatte den Auftrag eine Kampagne für das Fremdenverkehrsamt durchzuführen. Es war, oder besser, es ist ein guter Auftrag, und um ihn zu bekommen, stachen wir mit unserem Konzept eine namhafte Agentur in Sydney aus.«

»Könnte es da einen Zusammenhang geben? Wäre das ein Grund, um...?«, ließ O`Mailey die Frage unvollendet.

»Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, denn jetzt übernimmt ein anderer Kollege diese Aufgabe. Und außerdem: Wie krank muss unsere Welt sein, wenn das ein Grund wäre, eine ganze Familie zu töten?«

»Mr. Tucker, Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie krank unsere Welt ist. Es gibt Nichts, das es nicht gibt.«

Während des Gespräches bekam der Inspector den Eindruck, dass Nillensson innerhalb der Agentur angesehen war und wohl auch gute Arbeit mit zufriedenstellenden Ergebnissen ablieferte.

»Sehen Sie, in einer relativ kleinen Agentur wie der Unseren, muss jeder gute Arbeit leisten, und Kent hatte schon früher für uns sehr wichtige Aufträge mit beachtlichen Erfolgen bearbeitet. Wahrscheinlich bekam er deswegen diesmal auch diesen. Er sollte die gesamte süd-östliche Küste dem Tourismus bekannter machen, mit Schwerpunkt auf unsere Stadt Wollongong. Die Welt kennt doch von dieser Seite nur Sydney, Melbourne und vielleicht noch Brisbane. Uns kennt doch niemand, noch niemand. Wir liegen im Schatten der Weltstädte und haben ein schlechtes Image als Stahlstadt. Im Westen wird noch etwas Steinkohle abgebaut, aber wir sind dabei uns zu verändern. Die Mieten in den Großstädten gehen in die Höhe und Geschäftsleute wie auch Mieter weichen in die kleineren Städte aus, nach Newcastle, nach Canberra und zu uns. Unser Strand ist fast genauso schön, wie der bei Sydney, aber die Touristen kommen noch sehr spärlich. Die Kampagne, die Kent entwickelt hatte, sollte das ändern. Wollen Sie seine Arbeit sehen? Ganz ausgereift ist sie aber noch nicht.«

O`Mailey hätte zumindest einen Blick darauf werfen müssen. Wenn er auch noch so klein gewesen wäre, hätte er vielleicht doch eine Inspiration erhalten, die ihm weiter geholfen hätte, aber er lehnte ab. »Ich glaube, das ist nicht nötig.«

Er hörte weiter Tuckers Ausführungen zu, erfuhr, Nillensson war fast so etwas wie ein Musterkollege und vernahm von seinem Verhältnis zu den anderen Mitarbeitern. Es gab jedoch keine solche Beziehung zwischen ihm und einer Kollegin und er erfuhr von seinen Arbeiten. Er lernte ihn durch die Beschreibung näher kennen, einige Eigenheiten, einige Vorlieben, was ihm jedoch Alles nichts half, da er keine Anhaltspunkte entdeckte, die bei ihm irgendeinen Gedankenblitz hätten auslösen können. So hörte er nur noch mit einem Ohr zu, von der Zeit, als Nillensson in die Agentur kam, über seine Einarbeitungsphase bis zum heutigen Tag, denn er war gedanklich schon wieder ganz woanders. Als Henry schläfrig wurde, riss er sich zusammen und schnitt Tucker mitten im Satz das Wort ab: »Vielen Dank, aber ich glaube, das bringt mich Alles nicht weiter. Vielleicht komme ich noch einmal auf Sie zurück.« Er stand auf, reichte seinem Gegenüber die Hand und wollte gehen.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte, aber ich stehe auch weiterhin zu Ihrer Verfügung. Wie, wie ist es denn passiert?«

»Darüber darf ich Ihnen noch nichts sagen, und glauben Sie mir: Sie wollen es auch gar nicht wissen.«

Sie verabschiedeten sich, O`Mailey marschierte raschen Schrittes den Flur zurück, nahm im Vorbeigehen seinen Mantel vom Haken und fand sich wenige Augenblicke später vor der Eingangstür auf der Straße wieder. Dieses Mal empfand er den frischen Wind und den Regen als angenehm. Er blieb noch einen Moment so stehen und atmete tief durch. Dann kramte er nach einer Zigarette, entzündete sie und zog den Rauch intensiv ein. Die leere Schachtel warf er auf den Boden.

Anders als bei seiner Flucht aus dem Büro, schlich er jetzt eher gemächlich durch den feinen Regen auf seinen Käfer zu, stieg ein, startete und fuhr ruckelnd an.

Im Revier angekommen, gab O`Mailey einem Kollegen seinen Block mit den verschlungenen Zeichen, die er am Tatort gefunden hatte und bat ihn: »Tu mir einen Gefallen, faxe das mal rüber zu unserer Universität und zu denen von Sydney, Melbourne und Canberra. Irgendwelche Sprachenforscher, Linguisten, Historiker oder Fremdsprachengenies, oder so, sollen mal sehen, ob sie damit etwas anfangen können.«

»Sehe ich aus wie dein Laufbursche, O`Mailey? Erledige deinen Scheiß alleine, ich habe eigene Probleme.« Aber als er in seine verzweifelten grauen Augen blickte und er Henry auch noch »Bitte!« sagen hörte, was nicht häufig vorkam, schmiss er ihm seinen Notizblock nicht vor die Füße, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, sondern knurrte nur »Das ist das letzte Mal, hörst du? Und du schuldest mir was.« und verschwand Richtung Fax-Gerät.

»Ja, ja, ja«, dachte Henry gelangweilt. Er warf seinen nassen Mantel auf seinen Stuhl und ging gleich weiter zu Barbara Pasetti, die wie üblich hinter ihrem Bildschirm saß.

Barbara war keine Polizistin, sie arbeitete hier im Revier am Computer. Sie brachte nach den Berichten der Ermittler immer alle Dateien auf den neusten Stand und man kam zu ihr, wenn man Informationen brauchte. Sie sah ihn über ihren Aktenberg auf sich zukommen und die gute Laune, die sie den gesamten Morgen über hatte, verschwand.

O`Mailey befand sich in einer Art Teufelskreis. Dadurch, dass er es schaffte, selbst bei den einfachsten Fällen Mist zu bauen, war er bei Vorgesetzten und Kollegen nicht sehr beliebt. Deswegen war er meist mieser Stimmung, grübelte vor sich hin und war unaufmerksam, was dazu führte, dass er wichtige Details übersah, was ihn nicht beliebter machte, und so weiter. War er in Tuckers Büro vielleicht einfach nur neidisch gewesen, wie dieser über Nillensson gesprochen hatte? Ihm müsste nur einmal der ganz große Wurf gelingen.

»Hallo Barbara, du bist eine Augenweide, wie immer. Du musst etwas für mich überprüfen.«

Sie setzte ein falsches Lächeln auf, schloss ihre Eingaben in den Speicher ab und die Akte, die neben ihr lag, zu und fragte: »Was kann ich für dich tun, Henry?«

»Ich untersuche gerade ein grausames Gewaltverbrechen.«

»Du?«

»Ja, ich hab`s mir nicht ausgesucht. Schau bitte mal nach, welche Kandidaten du in deinem Zauberkasten für mich hast.«

»Was für ein Stichwort soll ich denn eingeben?«, fragte sie immer noch recht ungläubig.

»Suche bitte unter Massaker, Blutbad, Verstümmelungen, Ritualmord oder Ähnlichem.«

Barbara Pasetti sah ihn an und wartete darauf, er würde dies als Scherz offenbaren und sagen, er bräuchte die Namen sämtlicher Hehler dieser Stadt, oder Vergleichbares. Etwas in der Art kam aber nicht und O`Mailey ließ noch ein geflüstertes »Bitte« folgen, was ihr zeigte, er war nicht zum Spaßen aufgelegt. Aber eigentlich war er das nie.

»Du meinst das wirklich ernst, oder?« Ihr falsches Lächeln war verschwunden.

Der frustrierte kleine Inspector hieb mit der flachen Hand auf den obersten Aktendeckel, dass es krachte und presste gereizt »Nun mach schon!« durch seine blassen Lippen.

»Schon gut, schon gut.« Barbaras Finger flogen über die Tastatur und kurz darauf erschienen drei Namen auf dem Bildschirm.

"Warum kannst du nicht ein Mal das tun, worum ich dich bitte, ohne mich hochzunehmen? Rufe sie bitte einzeln auf«, forderte er und diesmal tat sie es.

Ein hellblauer Balken untermalte den ersten Namen und Barbara rief ihn per Druck auf die Tastatur auf. `Walter Trotter`, aber unten rechts blinkte das Wort `verstorben` auf.

»Mach bitte gleich den Nächsten.«

Barbara ging im Programm zurück, fuhr mit dem Balken eine Spalte tiefer und rief ihn auf. `Franklin Wagner`, Perth/Fremantle, 1983/1984, ermordete 23 Menschen auf bestialische Weise. Er bekam den Spitznamen `Hammer und Sichel. Aber unter dem Bild mit dem verwirrten Gesichtsausdruck stand die Information, dass Wagner seine lebenslängliche Haftstrafe in Perth absaß. Und wenn so ein Mann ausgebrochen wäre, würde es auch die kleinste Polizeistation in Australien bereits wissen.

»Na toll.« Und mutlos fügte O`Mailey hinzu: »Und noch den Letzten.«

`Robert Connor`, Sydney, 1951, ließ seine Opfer langsam ausbluten bevor er sie zerstückelte. Aber er wurde vor einigen Jahren als alter Mann begnadigt und lebte heute 82-jährig in Hobart auf Tasmanien. Er dürfte wohl kaum als Täter in Frage kommen.

»Verdammt!«, fluchte O`Mailey und sein nikotingeschwängerter Atem ekelte Barbara an. »Sind das Alle?«

»Alle, die noch halbwegs aktuell sind. Die, die schon länger tot sind, werden dir wohl kaum weiterhelfen.«

»Vielleicht gibt es noch ein anderes Stichwortverzeichnis, eine andere Datei, noch mehr Namen, gib mir irgendetwas«, flehte er verzweifelt.

»Ich kann dir natürlich eine Liste ausdrucken lassen mit den Namen aller inhaftierten und gesuchten Mörder, Totschläger, Vergewaltiger und sonstiger Gewaltverbrecher in Australien, bis runter zum kleinsten Sittenstrolch, aber die wird lang.«

»Mist!«, schimpfte der nach einem Strohhalm suchende Inspector und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zu seinem Schreibtisch und setzte sich auf seinen Mantel.

Barbara Pasetti war froh, dass er ging, öffnete die zuvor geschlossene Akte und machte sich wieder an ihre Arbeit.

O`Mailey fiel in sich zusammen, legte die Stirn auf seine Unterarme und es sah aus, als würde er schlafen.

Das Lied des Steines

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