Читать книгу Das Lied des Steines - Frank Riemann - Страница 19

Mombasa / Kenia, Montag 26. April, 09:00 Uhr

Оглавление

Die letzten Minuten waren fast geräuschlos verstrichen. Niemand sprach, es war, als würde die Welt selbst den Atem anhalten. Nur in der Ferne hörte man leiser werdende Sirenen eines Rettungswagens, der ein verletztes Opfer in eine Klinik brachte. Gleich würde die Sonne hinter dem Gebäude verschwinden, dann müsste der Zugriff erfolgen. Und zwar schnell, da die steil aufsteigende Sonne schon bald wieder über dem Haus erscheinen würde. Dann würde sie den Einsatzkräften wieder ins Gesicht strahlen, sie blenden und der Vorteil würde zum Nachteil werden.

Der Schatten des Neubaus zog langsam über die Kreuzung und die zuvor noch gleißende Szenerie wurde allmählich grau. Im ersten Moment erkannte man die Männer des Sondereinsatzkommandos in ihrer dunklen Ausrüstung, die am Gebäudeeingang auf ihren Einsatzbefehl warteten, gar nicht mehr. Nach allen Rückmeldungen war alles bereit und jeden Moment würde Roger Hanley den Zugriff befehlen.

Der Neubau stand leer, und die Kreuzung war geräumt. Ferner waren die Wohnungen, die sich im Zielfeld des Schützen befanden, evakuiert. Außer den Polizeikräften waren also keine Bürger mehr in Gefahr. Hanley würde gleich einen einzigen Versuch unternehmen, um den Schützen zur Aufgabe zu bewegen. Danach würde die Sondereinheit das Gebäude stürmen und versuchen, den Täter zu überwältigen und zu verhaften. Würde der Kerl sich am Fenster zeigen, würde ihn einer der Präzisionsschützen ausschalten.

»Roger! Roger? Worauf wartest du? Die Sonne bleibt nicht ewig hinter dem Gebäude. Gleich ist sie wieder da und dann sind unsere Jungs ohne Rückendeckung, weil meine Schützen nichts mehr sehen. Roger, was ist los, träumst du?«

»Nein, ich bin da, und ich weiß. Es geht los.«

Hanley führte das Megaphon vor die Lippen und schaffte es gleichzeitig fordernd und auch ruhig zu klingen: »Hören Sie zu! Hier spricht die Polizei! Dies ist die einmalige Gelegenheit für Sie, sich zu ergeben. Und Sie bekommen auch keine Bedenkzeit. Sie werden jetzt sofort Ihre Waffe aus dem Fenster werfen und sich mit erhobenen Armen gut sichtbar zu erkennen geben. Das ist Alles, ergeben Sie sich, Sie sind umstellt!«

Er legte das Megaphon ins Auto, nahm sich das Funkgerät und wartete noch einige Sekunden, aber nichts geschah.

»Roger!«, drängte der Hauptmann der Scharfschützen, Robert Mathenge, und David Solomon pflichtete ihm bei: »Es wird Zeit, Roger.«

Hanley nickte kaum merklich, reichte seinem Freund das Funkgerät und schaute ihn ernst an. Dann wandte er sich wieder dem Neubau zu.

Solomon kannte seinen Kollegen lange genug und wusste, was das bedeutete. Er drückte die Sprechtaste und das Signal erreichte den Kopfhörer des Leutnants: »O.K. Leetoo, holt ihn euch!«

Leutnant Leetoo nickte und gab seinen Leuten einen Wink. Die Männer des Einsatzkommandos verschwanden, sich gegenseitig deckend, einer nach dem anderen im Haupteingang. Eine Tür, die es einzutreten galt, war noch nicht vorhanden. Der Leutnant ging mit den ersten seiner Männer und der Funkverkehr wurde eingestellt. Die Befehle waren erteilt, und jeder wusste, was er jetzt zu tun hatte. Man würde auf das Leben des Attentäters keine Rücksicht nehmen. So galten Roger Hanleys Sorgen einzig und allein den Männern, die ihn stellen mussten und die jetzt im dunklen Eingang verschwanden. Denn diese waren in Gefahr. Sie traten mit ihrem Leben dafür ein, dass solche Bestien zur Strecke gebracht wurden, und das immer wieder.

Die Letzten der Männer betraten das Gebäude und Roger Hanley starrte es an, als wolle er seine Mauern mit den Augen durchdringen, um zu erfahren, was sich von nun an im Inneren abspielte.

Der Schütze wurde zwar im obersten Stockwerk lokalisiert, dennoch wurde der gesamte Bau systematisch abgesucht. Vielleicht war der Attentäter ja nicht der einzige Verrückte in diesem Haus, oder er hatte seine Stellung gewechselt.

Sich gegenseitig schützend, rückte das Kommando weiter vor. Die Spannung bei den Männern um Leutnant Leetoo stieg mit jeder Stufe. Beim routinierten Checken der Räume und Etagen, wobei Jeder abwechselnd den Anderen sicherte, waren die Nerven zum zerreißen angespannt. Die Polizisten hatten keine weitere Person entdeckt, allmählich näherten sie sich dem obersten Stockwerk, und was sie dort vorfinden würden, konnten sie nie so genau wissen.

Die Präzisionsschützen hatten das oberste Geschoss und speziell das Fenster, aus dem vorhin die letzten Schüsse gefallen waren, fest im Visier. Der Eine oder Andere schwenkte mit der Waffe hin und her und beobachtete durch sein Zielfernrohr die ganze Etage. Die Zieleinrichtungen waren durch ihre stufenlosen Einstellschrauben genau justiert. Die Linsen waren gereinigt. Einige Männer hatten sich eine Augenklappe über das Auge gezogen, das sie zum Zielen nicht brauchten, damit sie nicht plötzlich durch ein Muskelzucken im Gesicht, meist durch Ermüdung bei langem Zielen hervorgerufen, irritiert wurden. Die Waffen waren entsichert und die Finger waren am Abzug, der Druckpunkt allerdings noch nicht gesucht, damit sich nicht versehentlich ein Schuss löste. Beim geringsten Anzeichen eines möglichen Zieles würden sie die Finger wenige Millimeter zurücknehmen und am Druckpunkt verharren. Der Täter hatte auf Polizeikollegen geschossen und die Möglichkeit zur Aufgabe ungenutzt verstreichen lassen. Würde sich einem der Präzisionsschützen die Chance bieten, einen guten Treffer zu landen, er würde sie sich nicht entgehen lassen.

Roger Hanley und Robert Mathenge rührten sich nicht und beobachteten das Gebäude. Nur David Solomon nagte unruhig auf seiner Unterlippe herum und trat von einem Fuß auf den Anderen. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Irgendetwas macht mich nervös. Ich habe ein ganz ungutes Gefühl.«

Der Hauptmann der Scharfschützen wollte ihm die Anspannung nehmen. »Beruhige dich, David, du bist zu alt um noch nervös zu werden. Der Dreckskerl hat keine Chance.«

»Du hast gut Reden, Robert. Deine Leute sind nicht in unmittelbarer Gefahr und wir stehen hier, während meine Männer da drin sind. Irgendetwas an diesem Typen stört mich.«

»Du hörst dich an, als würdest du das zum ersten Mal machen. Du hast deine besten Jungs in diesem Haus, alles erfahrene Polizisten. Sie sind sich der Gefahr bewusst, das macht sie vorsichtig. Ich bin mir sicher, sie erwischen ihn.«

»Dieser Kerl hat hier schon einen Riesentanz veranstaltet, und ich habe ihn noch nicht einmal gesehen.«

»Wir können ihn ja bitten, sich vorzustellen.«

Roger Hanley drehte den Kopf und blickte seine Freunde ernst an. Ohne etwas sagen zu müssen, genügte das, um für Ruhe zu sorgen. Und als wäre dies das Startzeichen gewesen, fiel in diesem Moment der erste Schuss. Aber seltsamerweise kam es nun nicht zum erwarteten Feuergefecht, sondern es wurde wieder still.

»Hauptmann Solomon?«, kam es aus dem Handsprechfunkgerät.

»Ich höre, was ist passiert Leetoo?«

»Keine Ahnung. Es wurde weder auf uns geschossen, noch hat einer meiner Männer gefeuert.«

»Verstanden. Führen Sie ihren Auftrag zu Ende.«

»Verstanden.«

Vielleicht hatte er sich ja selbst erschossen. Das wäre zwar nicht ungewöhnlich, aber zu schön, um wahr zu sein. Nein, das konnte Solomon nicht glauben.

Der Erste der Männer des SEK erreichte die vorletzte Etage des Gebäudes, spähte durch das Treppenauge nach oben, sah jedoch nichts.

Er lehnte sich zurück und winkte ein paar seiner Kollegen an sich vorbei auf den nächsten Treppenabsatz. Erneut hob er die Waffe, näherte sich dem Geländer und blickte nach oben.

Das Letzte, was er in seinem Leben sah, war, wie Jemand mit einer alten Schrotflinte auf ihn zielte. Das Letzte, was er hörte, war, wie die Waffe mit einem ohrenbetäubenden Krachen losging. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen, er knallte rückwärts gegen eine Wand und sackte in sich zusammen, wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte. Seine Splitterweste hatte zwar einige Kugeln abgefangen, aber von seinem Gesicht innerhalb seines Helmes war nicht mehr viel zu erkennen. Es war genauso zerstört, wie das dünne Plexiglasvisier.

Als seine Kollegen die erste Schrecksekunde überwunden hatten, stürzten sie an das Geländer und schossen blind durch das Treppenauge nach oben, ohne ein Ziel zu sehen. Kugeln bohrten sich in den Putz oder jagten als Querschläger durch das Gebäude. Dieses akustische Inferno hielt einige Sekunden an, bis die Polizisten erkannten, dass es dort oben nichts mehr gab, was sie hätten treffen können. Sie stellten das Feuer ein und starrten nach oben, konnten aber durch den Pulverdampf nichts Genaues erkennen.

Als sich der Nebel zu verflüchtigen begann, zeichnete sich auf dem letzten Treppenabsatz eine Gestalt ab.

Die Polizisten waren so ausgebildet, dass sie ihre leergeschossenen Magazine in Sekunden wechseln konnten, aber selbst die Zeit reichte diesmal nicht. Der Attentäter schoss sofort. Eine erneute Ladung Kugeln pfiff durch das Treppenhaus. Die Männer stürzten zurück in Deckung. Schreie und Flüche wurden laut. Ein Beamter wurde ins Bein getroffen, ein anderer in die Hand. Einige Projektile gingen daneben, und die Splitterwesten verhinderten Schlimmeres. Prellungen und Blutergüsse würden die Folgen sein. Ein Mann fiel die Treppe hinunter und brach sich einen Fuß.

Leetoo versuchte Ordnung in das Durcheinander zu bringen und brüllte Kommandos. Er teilte Leute ein, die die Verwundeten wegbrachten und ordnete die Formation für den Angriff neu, da nun auch die letzten Zweifel über einen feindlichen Aggressoren beseitigt waren. Der Attentäter war dort oben, und er war bewaffnet und hatte keine Skrupel, was ihn besonders gefährlich machte. Zu seinen bisherigen Opfern kam nun auch noch ein Polizist hinzu. Das Schwein würde keine Gelegenheit mehr bekommen zu kapitulieren, jetzt war es persönlich und sie würden auf seine Leiche spucken. Ob vom Mörder etwas übrig bleiben würde, das man vor Gericht stellen konnte, interessierte Leetoo nicht mehr. Er nahm sein Funkgerät und warf es durch das Treppenauge nach unten, wo es am Boden zerschellte. Dann schickte er vier seiner Leute auf den nächsten Absatz.

Solomon wurde immer nervöser. »Das gefällt mir nicht, das gefällt mir nicht.«

Sie waren nur Ohrenzeugen der Aktion, und dass nach dem heftigen Schusswechsel noch keine Erfolgsmeldung gegeben wurde, hielt seine Nervosität aufrecht. Er betätigte die Sprechtaste an seinem Funkgerät: »Leetoo, was ist los? Leetoo?« Hanley und Mathenge schauten ihn an. »Leetoo, machen Sie Meldung, ach verdammt!« Solomon machte Anstalten, das Funkgerät von sich zu schleudern, aber ein einziges »David!« seines Einsatzleiters reichte aus, ihn dieses Vorhaben vergessen zu lassen.

Sie wandten sich wieder dem Neubau zu, als die verletzten

Polizisten, von einigen Kollegen gestützt, heraus kamen. Sie wurden zu den bereitstehenden Sanitätern und Ärzten gebracht, um sie medizinisch versorgen zu lassen.

Robert Mathenge sprach über Funk den Leutnant seiner Schützen an, aber die hatten nicht das Geringste gesehen. Roger Hanley winkte einen in der Nähe stehenden und eine Straße absichernden Polizisten zu sich heran. Er deutete auf die Stelle, an der die Verletzten versorgt wurden. »Einer der Männer soll herkommen und Meldung machen. Der Rest geht zurück ins Haus, natürlich nicht die Verwundeten.« Der Untergebene verschwand in einem großen Bogen um die Absperrung herum.

Mittlerweile wurde die Kreuzung wieder in helles Licht getaucht, denn die Sonne erschien wieder hinter dem Gebäude, und begann den Scharfschützen Probleme zu bereiten.

Dann schrie aus dem Haus eine Stimme herüber, die so schrill kreischte, das man Mühe hatte, sie zu verstehen: »Hahaha, ihr Scheißbullen. Das ist ja wie in der Savanne, hahaha. Erst kommt die Treibjagd, hahaha, und dann der Fangschuss. Kommt und holt mich, hahaha.«

Und dem großen, starken, ruhigen und fast immer souveränen Einsatzleiter Roger Hanley krampfte sich der Magen zusammen. War das möglich? Konnte das denn sein?

Das Lied des Steines

Подняться наверх