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Mombasa / Kenia, Montag 26. April, 07:30 Uhr

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Wie jeden Morgen holte er sie um diese Uhrzeit von zu Hause ab. Ken Gordon war sieben Jahre alt und seine großen grauen Augen blickten neugierig in die Welt. Naomi Banda war ebenfalls sieben Jahre alt und ihre langen dunklen Locken wippten bei jedem beschwingten Schritt im warmen Wind. Sie gingen jeden Tag zusammen zur Schule.

»Warum sagst du denn heute gar nichts? Du kannst doch sonst deinen Mund nicht halten und brabbelst den ganzen Tag.« Ken war ein wenig besorgt über die plötzliche Stille seiner Freundin.

»Gar nicht«, erwiderte Naomi schnippisch.

»Tust du doch.«

»Tu ich nicht. Ich brabbele nicht, sondern ich erzähle.« Naomi hielt sich für eine gute Geschichtenerzählerin. Sie erzählte Geschichten, die sie erfunden hatte, solche, die sie irgendwo aufgeschnappt und auf sich zugeschnitten hatte, und solche, die stimmten. Neulich trug sie der staunenden Schulklasse die Story vom Schleimmonster unter ihrer Veranda vor.

»Gestern Abend hörte ich einen leisen aber doch hohen und anhaltenden Ton.« Naomi spitzte ihre Lippen und ließ ein langgezogenes `Uuuuuhhh` erklingen. »Da ich allein im Haus war, musste ich es natürlich verteidigen, bis meine Eltern wieder da waren. Ich nahm also eine Peitsche und all meinen Mut zusammen und sah mich draußen um. Gerade war ich durch die Tür, als das Geräusch wieder erklang, direkt unter mir. Deswegen krabbelte ich unter die Veranda und zuerst sah ich nichts.« Wie zum Beweis kniff sie die Augen zusammen. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort und einige Mitschüler erschraken. »Aber dann! Zwei teuflische Augen und blitzende Messerzähne. Dann sprang es mich an. Das Monster, schrecklich haarig und furchtbar schleimig.«

»Du spinnst ja«, wandte Tom Nelson, ein winziger Junge mit einer riesigen Brille, ein.

Zur Strafe erntete er einen vernichtenden Blick aus Naomis dunklen Augen.

Sie berichtete weiter: »Ich schrie und trat und kratzte und biß und schlug und zerrte. Und dann merkte ich, wie das Monster schwächer wurde. Nachdem es dann geflohen war, ging ich ins Haus zurück. Als ich es am nächsten Morgen meinen Eltern erzählte, waren sie ganz stolz auf mich.« Naomis strahlende Zähne mit der gähnenden Lücke grinsten in die Runde ihrer Zuhörer.

»Das glaubst du doch selbst nicht«, hatte Tom gezweifelt und seine Brille hochgeschoben. Drei Mitschüler nickten.

»Und was ist das?« Naomi öffnete ihre Hand und zeigte Allen ein kleines, mit einer seltsamen grünen Kruste verklebtes, Büschel Haare. »Das habe ich dem Monster aus dem Fell gerissen. Da seht Ihr es, es ist alles wahr.«

Tatsächlich war an jenem Abend ihr Hund in einen nahen Tümpel gesprungen und über und über mit Wasserpest und Algen überzogen gewesen. Er kam mit wedelndem Schwanz nach Hause und stürzte sich auf Naomi, um sie abzulecken, was ihr überhaupt nicht gefiel und sie zeterte und jammerte.

Aber wie sie jetzt mit dem vermeintlichen Beweisstück in der Hand dastand, wollte niemand mehr etwas Gegenteiliges behaupten. Eigentlich war es ihr egal, ob die anderen ihre Geschichten glaubten, oder nicht. »Hauptsache, sie hören mir zu«, dachte Naomi stets.

Ken stieß sie leicht an der Schulter. »Hey, was hast du denn?«

»Ich habe gestern etwas Schlimmes im Fernsehen gesehen.«

»Kommt jetzt wieder eine Story?«, wollte er wissen. Er war überhaupt nur noch mit ihr zusammen, weil sie ihn nie belog. Na, meistens jedenfalls nicht.

»Nein«, hörte Ken Naomi flüstern und nickte ernst.

Seine Freundin fuhr fort: »Ich habe gestern im Fernsehen gesehen, wie Männer miteinander gekämpft haben. Und sie haben aufeinander geschossen. Das war unten in Südafrika und mein Vater erklärte mir, dass dort schon lange schwarze gegen weiße Männer kämpfen. Früher soll das noch schlimmer gewesen sein, weil die Weißen die Schwarzen unterdrückt haben. Mein Vater hat mir das so erklärt, dass die Weißen alles durften, was sie wollten und die Schwarzen nicht. Das hat zwar schon nachgelassen, aber mein Vater sagt, dass es einige Weiße immer noch nicht ertragen können, dass Schwarze im selben Lokal essen, wie sie. Und heute Nacht habe ich geträumt, dass ein Junge hinter mir her läuft, mich fängt und mich dann verprügelt. Und dieser Junge warst du, Ken. Du warst größer als jetzt und stärker und hast mir sehr weh getan.« Eine Träne lief langsam über ihr Gesicht und sie fing sie mit der Zunge auf.

Ken verstand das Problem nicht. Nur weil irgendwo ein Weißer einen Schwarzen schlug, musste er das doch nicht bei seiner Freundin tun, nur weil er auch weiß und sie auch schwarz war. Ja, warum sollte er sie überhaupt schlagen? Er begriff gar nichts mehr. Die Nachbarn stritten sich auch öfters, und laut, und Mami und Daddy stritten sich nie. Der Mann im Laden schrie auch immer den Jungen an, der die Regale auffüllte. Der Hausmeister in der Schule machte das mit ihm auch nicht. Nicht alle Menschen waren gleich. Ken verstand Naomis Sorgen nicht, aber er spürte, dass er sie trösten musste. In solch einer Gemütslage hatte er sie noch nie erlebt, sonst war sie immer so fröhlich.

»Ich würde dir doch niemals etwas tun«, beruhigte er sie sanft.

»Nein?« Sie sah zu ihm auf.

Er witterte, dass er die richtigen Worte gefunden hatte.

»Nein. Und wenn die ganze Schule sich prügelt, oder unsere ganze Straße, ich werde immer dein Freund sein. Wir bleiben immer und ewig zusammen, ja?«

Naomi hörte zu weinen auf, schniefte laut und lächelte wieder.

Jetzt war er obenauf. »Und wenn dir Einer etwas tun will, bekommt er es mit mir zu tun.«

»Auch die Großen?«

Ken zögerte einen Moment aber als er bemerkte, wie sich ihre Miene wieder verfinsterte, bekräftigte er schnell: »Auch die Großen. Besonders die Großen.«

Sie nahm seine Hand, gab ihm einen Kuss auf die Wange, was ihn ganz ruhig und rot werden ließ und sie setzten ihren Weg fort. Sie sprachen über die Schule und darüber, dass Ken die Mathematiklehrerin nicht leiden konnte. Wenig später fanden sie heraus, dass Ken Mathe nicht mochte. Die Lehrerin mit ihrem streng zurückgekämmten Haar war gar nicht das eigentliche Problem.

Vor einer roten Ampel blieben sie stehen, als plötzlich ein Schuss die Stille zerriss.

Das Lied des Steines

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