Читать книгу Das Lied des Steines - Frank Riemann - Страница 4

Santiago de Chile, Montag 26. April, 05:00 Uhr

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Der alte wackelige Bus kämpfte sich mühsam durch die engen Straßen.

»Natürlich habe ich keinen Sitzplatz mehr bekommen«, dachte sie. »Ich habe noch nie einen Sitzplatz bekommen. Schon wieder so ein verdammter Montagmorgen. Und das Wochenende war auch wieder die Hölle. Diese ewigen Streitereien halte ich nicht mehr lange aus. Ist das noch der Mann, den ich geheiratet habe, weil ich ihn liebe? Früher war er witzig, wusste zu unterhalten, war aber ein ruhiger ausgeglichener Typ. Doch dann wurde er nach und nach verschlossener, härter. Irgendwann war er rechthaberisch, etwas, was er früher nie war. Dann hat er unsere einzige Tochter, Sandra, aus dem Haus gejagt. Und jetzt? Seitdem er entlassen wurde, ist es noch schlimmer. Er steht spät auf, setzt sich vor den Fernseher und zum Frühstück gibt es bereits die erste Flasche Bier. Wenn ich nachmittags nach Hause komme, sind es schon einige mehr und er wartet nur noch darauf, dass ich ihm etwas zu essen mache.

Und oft gibt es dann abends Streit. Über irgendwelche Zeitungsberichte. Er hatte natürlich Recht. Über das Fernsehprogramm. Er hatte natürlich wieder Recht. Über Vorfälle an meinem Arbeitsplatz. Selbst dabei hatte er Recht. Er hatte einfach immer Recht«.

Ihr war bewusst, dass es für ihn nicht einfach war. Durch die Arbeitslosigkeit fühlte er sich zurückgesetzt, wertlos, und versuchte, sich auf diesem Wege zu behaupten, aber allmählich wurde es ihr zu viel.

Der Bus hielt und sie war die Einzige, die ausstieg. Jetzt hatte sie noch einige Hundert Meter zu gehen, bis sie in der kleinen Näherei ankam, in der sie nun schon seit über zwanzig Jahren arbeitete. Ihre kleinen stämmigen Beine trugen sie schleppend vorwärts. Mittlerweile taten ihr die Waden schon morgens weh.

»Was ist nur aus meinem Leben geworden?«, ging ihr durch den Kopf. »Wo ist der liebevolle Mann, mit dem ich alt werden wollte? Wo ist das schöne Häuschen, oder zumindest die geräumige Wohnung, in der die Enkelkinder herumtollen sollten? Was ist aus den schicken Kleidern geworden, in denen mich mein Mann ins Restaurant und ins Theater ausführen sollte, oder wenigstens ins Kino. Ich träumte doch davon, in einem offenen roten Wagen übers Land zu fahren«, sehnte sie sich in Gedanken. »Der Wind spielt in meinen Haaren und ich singe glücklich das Lied mit, das aus dem Radio klingt.«

Plötzlich rissen ihre Träume ab, denn sie war tot!

Das Lied des Steines

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