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Ely / East Anglia, Montag 26. April, 09:15 Uhr

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Louis Cramshaw hatte seit geraumer Zeit nichts von den Vorfällen am Marktplatz gehört und genausowenig waren die Kollegen, die schon früh aus der Station gestürmt waren, zurückgekehrt. Er hatte zwei Berichte ins Reine getippt und machte nun eine kleine Pause. Die Berichte zu schreiben war normalerweise nicht seine Aufgabe, aber er erfüllte diese solange, bis sein Vorgesetzter anders entschied.

Vor einiger Zeit hatte Louis einen Unfall; als er bei seinem Streifengang durch die Broad Street sah, wie eine Gestalt aus einem Geschäft stieg und versuchte unauffällig wegzugehen. Dies war dahingehend ungewöhnlich, da es später Abend war und die Gestalt durch die zertrümmerte Glastür kletterte. Er stieg aus der Apotheke und Louis rief ihn an stehenzubleiben, aber der Einbrecher begann zu laufen und verschwand hinter der nächsten Ecke. Louis eilte ihm nach, doch ihn erwartete eine böse Überraschung. In dem Moment, in dem er um die Ecke bog, traf ihn ein heftiger Schlag vor die Beine. Er stürzte, überschlug sich noch zwei Mal und als er dann still dalag, raubte ihm der furchtbare Schmerz fast die Sinne.

Er hörte, wie eine Eisenstange fallen gelassen wurde, sich schnell entfernende Schritte, konnte aber seinen Angreifer nicht erkennen. Louis kroch zum Straßenrand, wo er wenig später gefunden wurde.

Er hatte links eine offene Unterschenkelfraktur und rechts, weil er versucht hatte sich abzufangen und dabei gestürzt war, einen Bänderriss im Sprunggelenk. Die Verletzungen waren fast völlig ausgeheilt, sah man einmal von einem fast unmerklichen Hinken ab, das man aber auch nur dann wahrnahm, wenn man Louis und den Vorfall kannte. Ansonsten fiel es gar nicht auf. Das psychische Problem war allerdings größer, als angenommen.

Ely in der Grafschaft Cambridgshire war ein ruhiges, ja fast verschlafenes Städtchen mit gerade einmal knapp über 20.000 Einwohnern in ihren kleinen Häuschen, die enge Gassen säumten. Ein nächtlicher Einbruch und ein Angriff auf einen Polizeibeamten waren bisher undenkbar. Deshalb war Louis` Vorgesetzter, Chief Constable Eltringham, der Meinung, etwas Büroarbeit würde ihm ganz gut tun. Da aber so wenig geschah, stürzte er sich immer gerne ins Getümmel, wenn dann doch einmal etwas passierte, wie eine Prügelei in einem der wenigen Pubs, ein Verkehrsunfall etwa oder ein Selbstmörder, wie sie ihn vor ein paar Jahren schon einmal hatten, und nun anscheinend wieder. So passte es Louis natürlich ganz und gar nicht, dass jetzt endlich einmal Leben in die Bude kam und er nur zum Zuschauen verdammt war. Da kam ihm eine glänzende Idee: zum Zuhören. Er schob die beiden Berichte zusammen und machte sich auf den Weg in die Funkzentrale.

»Hallo Louis«, begrüßte Ruth ihn. »Was gibt es Neues?«

»Nichts Großartiges, ein gestohlen gemeldetes Auto und Finney ist schon wieder eine Ziege entlaufen.«

»Na immerhin«, versuchte Betty ihn aufzumuntern. Allerdings verzog Louis die Mundwinkel und bedachte sie für diese Bemerkung mit einem beleidigten Blick.

»Und wie sieht es hier aus? Was ist am Marktplatz so los?« Louis versuchte gleichgültig zu klingen.

Ruth zischte und gab ihm mit einer wedelnden Handbewegung zu verstehen, er solle ruhig sein und sich auf den freien Stuhl in der Ecke setzen. Betty rutschte mit ihrem Stuhl näher an ihn heran, beugte sich zu Louis und erklärte flüsternd: »Wir sind doch jetzt nur noch Zuhörer. Donalds ist direkt mit der Zentrale in Cambridge verbunden und hat auch schon um Verstärkung gebeten. Wahrscheinlich werden sogar noch zusätzliche Kräfte aus Norwich herangezogen, oder sogar Spezialkräfte aus London.«

»Ja, aber wofür?«, unterbrach Louis Betty.

»Hör doch mal zu. Du kennst Richard Foley? Seine Eltern haben den Friseursalon in der Chapel Street.«

»Ja klar, der kleine Ricky.«

»Pst«, zischte Ruth, rückte mit ihrem Ohr näher ans Funkgerät und Betty wisperte: »Der kleine Ricky ist mittlerweile Neunzehn und im Moment steht er mit einer Waffe in der Hand bei Cole`s im Lebensmittelladen und hat mit Veronica Cole und Kunden zusammen fünf Geiseln.«

Louis, der die ganze Tragweite des Gehörten noch gar nicht begriffen zu haben schien, überlegte, ob dies Rickys Vater wohl gefiele. »Was will er denn?«, fragte er und es wurmte ihn immer mehr, wie er hier zum Nichtstun verurteilt war.

Ruth machte wieder: »Pst.«

»Das weiß man anscheinend noch nicht. Soweit bekannt ist, hat er noch gar keine Forderungen gestellt. Ein Psychologe der Universität Cambridge wurde informiert und Foleys Eltern ebenso. Die können vielleicht sogar mehr erreichen als dieser Psychologe. Der Laden ist umstellt und im Moment tut sich nichts. Wir hören halt nur zu und versuchen, über die wenigen Funksprüche unsere Informationen zu beziehen und uns ein Bild zu machen.«

Louis hatte sich in der Zwischenzeit eine Pfeife angezündet und strich mit dem Mundstück über seinen feinen Oberlippenbart. Der Rauch störte Ruth ungemein. Hätte sie jedoch etwas gesagt, wäre sie beim Lauschen unterbrochen worden, obwohl es im Moment nur statisches Rauschen zu hören gab, aber sie wollte auf keinen Fall etwas verpassen. Louis lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und begann zu überlegen.

Ricky Foley? Bewaffnet? In Coles Laden? Geiseln? In Ely? Warum?

Er zog an seiner Pfeife, hielt den Rauch einen Moment in sich gefangen und entließ ihn langsam, wobei seine blaugrauen Augen hinter den Schwaden nahezu verschwanden.

Richard Foley war das einzige Kind im Hause seiner Eltern und wurde somit von diesen dementsprechend fürsorglich behandelt und wuchs fast verhätschelt auf. Das Geschäft seiner Eltern lief gut. Da es in dem kleinen Städtchen nicht viele Friseure gab, fehlte die ganz große Konkurrenz. Ricky war nicht vorbestraft, ja nicht einmal bei der örtlichen Polizei negativ aufgefallen. Er hatte seit einiger Zeit eine feste Freundin und keine Geldprobleme, zumindest keine, von denen man wusste. An Drogenprobleme dachte Louis noch nicht einmal, so abwegig war der Gedanke.

Jetzt war Ricky bewaffnet. Natürlich hatten einige der Landwirte rings um Ely Flinten auf ihren Höfen, aber die Foleys hatten ein Friseurgeschäft. Hatte Ricky die Waffe in der Nähe gestohlen? Hatte er sie sich in einer anderen Stadt besorgt oder woher kam sie? Im Grunde gab es für diesen Punkt viele Möglichkeiten. Wichtig war im Augenblick auch nur, dass er eine Waffe hatte. Und was machte er damit in Coles Lebensmittelladen? Erpressung? Die Familie Cole? Ihr Laden ging zwar ähnlich gut wie der von Rickys Eltern, aber viel blieb am Monatsende nicht übrig, da die fünfköpfige Kinderschar das Zurücklegen eines Sparpfundes verhinderte. Viel gäbe es dort nicht zu holen. Ging es um einen der Kunden? Wer wusste schon, wer sich im Moment im Laden aufhielt? Aber Louis fiel niemand aus der Umgebung ein, für den sich dieser ganze Aufwand gelohnt hätte. Vielleicht ein Streit mit jemandem? Aber bei diesem Ausmaß musste es sich schon um eine größere Familienfehde handeln. Ricky musste doch klar sein, dass sich nun Nichts mehr für ihn zum Guten wenden konnte.

Das Rauschen im Funkgerät wurde von einem Knacken unterbrochen. Ruth und Betty sahen sich neugierig an, Louis nahm die Pfeife aus dem Mund, lehnte sich vor und alle drei horchten gebannt. Louis gespannter, als er sich selbst eingestehen mochte. Niemand sagte etwas, trotzdem machte Ruth wieder: »Pst.«

»Leitstelle Cambridge, von Cambridge-1.«

»Ja, hier Leitstelle Cambridge.«

»Wir sind am Marktplatz von Ely eingetroffen und erkunden erst einmal die Lage. Wie heißt gleich noch mal der Einsatzleiter vor Ort?«

»Donalds.«

»Verstanden. Wir melden uns dann wieder.«

»Ja, ist gut.« Dann ein Knacken und erneut Rauschen.

Ruth und Betty sahen Louis an, als ob er mehr gehört hätte, als sie selbst. Er zuckte mit den Schultern, lehnte sich wieder zurück und zog an seiner Pfeife. Sie war erkaltet und er musste sie aufs Neue entzünden. »Das war wohl die Verstärkung«, dachte er. Vielleicht kam man ja einen Schritt weiter, wenn man wusste, wer die anderen Geiseln waren.

War eine der Geiseln der Schlüssel? Aber in Ely konnte man sich untereinander solche Spannungen gar nicht vorstellen, die eine derartige Reaktion, wie die von Richard Foley, hervorrufen würde, geschweige denn, dass man sie verstehen würde.

Man konnte zwar in Ely nicht jeden kennen, aber die Atmosphäre im Ort war bisher ruhig und familiär. Wäre man vor hundert Jahren durch Ely gekommen und jetzt wieder, hätte man bis auf winzige Ausnahmen keine großartigen Veränderungen feststellen können. Ringsherum betrieb man Landwirtschaft. Hin und wieder gingen die Gutsbesitzer, die sich hier für den Adel hielten, auf die Jagd, aber ansonsten war der Jahrmarkt, der zum Sommerbeginn für drei Tage in Ely Station machte, noch das Aufregendste. An diesen drei Tagen war alljährlich der ganze Ort auf den Beinen und man vergnügte sich in Fahrgeschäften und beim Tanz und stärkte sich an einem der zahlreichen Essenstände. Es gab Kaffee und Kuchen für die Damen, Grillfleisch für den großen Hunger, saftig und mit grobem Brot, und das Ale floss in Strömen. Zu vorgerückter Stunde wurde dann schon mal ein Zwist mit den Fäusten ausgetragen. Dies war meist schon der Höhepunkt des Jahres in Ely. Aber bis dahin waren es noch knapp zwei Monate.

Louis zog an seiner Pfeife. Warum mochte Ricky Foley sein Leben aufs Spiel setzen, oder zumindest seine Zukunft? Wer wusste tatsächlich, was in Rickys Kopf vor sich ging? Vielleicht wurde sein Plan durch Langeweile gezeugt und aus Unzufriedenheit geboren. Hier geschah so gut wie nie etwas Aufregendes. Vielleicht wich dumpfe Lethargie der Wut, lähmender Alltagstrott einer Explosion in Form eines 19-jährigen Jungen, der wahrscheinlich als Einziger die große Preisfrage beantworten konnte.

Ruth und Betty hatten in der Zwischenzeit angefangen, die wildesten Vermutungen anzustellen, was am Marktplatz los sein mochte, aber Louis hatte sie, ganz in seine Überlegungen versunken, gar nicht wahrgenommen. Auch nicht das erneute Knacken im Funk, wohl aber Ruths schneidendes »Pst.«

»Leitstelle Cambridge, von Cambridge-1.«

»Hier Leitstelle Cambridge.«

»Lage wie folgt: Ein junger Mann, identifiziert als Richard Foley, 19 Jahre, wohnhaft in Ely, bewaffnet, hält in einem Ladenlokal gewaltsam fünf Personen fest, alles Erwachsene, von denen bisher lediglich die Besitzerin einwandfrei ausgemacht werden konnte, Veronica Cole. Versuche, Kontakt zu Richard Foley aufzunehmen, waren negativ. So wissen wir noch nicht, was er eigentlich will. In diesem Moment trifft der Psychologe ein. Wir werden weiterhin probieren, mit Foley Verbindung aufzunehmen, und die Geiseln erst einmal über Verhandlungen frei zu bekommen. Ich melde mich wieder. Cambridge-1 Ende.«

»Hier Leitstelle Cambridge. Verstanden.« Ein Knacken, Rauschen.

Ruth war enttäuscht. »Was soll das? Das wissen wir doch schon.«

Louis gab zu bedenken: »Wir schon, aber die nächst höhere Dienststelle in Cambridge noch nicht. Das ist hier kein Hörspiel, das für dich aufgeführt wird.«

»Ich will aber wissen, was jetzt passiert.« Ruth war zornig und enttäuscht.

Ein Telefon klingelte, Ruths Apparat, und mit niedergeschlagener Stimme meldete sie sich: »Polizei Ely…Ja…Nein…Einen Moment bitte.« Sie reichte Louis den Hörer.

»Für mich?«, war er erstaunt. »Wer ist denn dran?«

Ruth zischte: »Mach`s leise und mach`s kurz.«

Betty hatte langsam von Allem die Nase voll und wollte zur Toilette.

Louis stand auf, nahm den Hörer und führte ein knappes Gespräch mit William Finney, der es nicht glauben mochte, dass ihm schon wieder eine Ziege abhanden gekommen und bis jetzt nicht wieder aufgetaucht war. Er vermutete eine Verschwörung gegen sich, hatte aber keine bestimmten Personen in Verdacht.

»Nein, Mr. Finney«, versuchte Louis, ihn zu vertrösten, »es gibt noch nichts Neues wegen Ihrer Ziege. Sie müssen sich noch etwas gedulden. Wir haben im Augenblick andere Sorgen. Sobald wir Neuigkeiten haben, sind Sie der Erste, der sie erfährt…Ja, ganz bestimmt…Auf Wiederhören.«

Louis reichte Ruth, die sich aber nicht rührte, den Hörer hinüber. So legte er selbst auf, setzte sich wieder, zog einen Abfallkorb zu sich heran und begann die Reste aus seiner erneut erkalteten Pfeife zu kratzen.

Ruth trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Was geschieht denn dort, was geschieht denn dort?«

Louis sah von seiner Tätigkeit nicht auf. »Ich schätze, jetzt werden wir erst einmal lange Zeit nichts hören. Wahrscheinlich erst wieder, wenn Alles vorbei ist, oder plötzlich noch mehr Rettungswagen und Notärzte gebraucht werden. Die haben jetzt andere Probleme, als Berichte durchzufunken und deine Neugier zu befriedigen. Sei nicht so aufgeregt.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein. Endlich ist hier einmal etwas los, und ich bekomme absolut nichts mit.« Ruth schien persönlich beleidigt.

»Ich bin auch neugierig«, gestand Louis, »aber wir können nichts Anderes tun, als zu warten. Ob es uns gefällt oder nicht. Außerdem würde ich mir wünschen, du würdest der Situation mit etwas mehr Respekt begegnen. Stell dir einmal vor, eine der Geiseln wäre deine Schwester Janet. Kauft sie nicht montagmorgens immer für eure Mutter ein?«

Ruth schien jetzt noch angestrengter zu lauschen, als wolle sie in das Funkgerät hineinkriechen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Neugier zu Besorgnis.

Louis klopfte seine Pfeife am Korbrand aus. Betty kam wieder herein und Ruth zuckte zusammen, weil sie im ersten Moment dachte, das Geräusch der Tür käme aus der Funkanlage. Sie funkelte Betty an, sauer und enttäuscht. Diese bemühte sich, jedes Geräusch und jeden Kommentar zu vermeiden und setzte sich leise auf ihren Platz. Louis steckte seine Pfeife ein und lehnte sich wieder zurück.

Es war beinahe still in der kleinen Telefonzentrale. Nur das statische Rauschen des Funks und das Trommeln von Ruths Fingern auf ihrer Tischplatte störten diese Ruhe.

Im Gegensatz zu Betty und Ruth, die ja die Notrufleitungen besetzt halten mussten, konnte Louis verschwinden; ihm wurde das Warten auf Nichts nun zu langweilig. Auch er war neugierig, vielleicht sogar noch mehr, als die beiden Telefonistinnen, die ja auf jeden Fall zum Zuhören verdammt waren, während er aber im Normalfall just in diesem Moment vor Ort wäre. Diese Situation mochte er auch nicht besonders, aber er hatte sich besser in der Gewalt als Ruth, von der man den Eindruck gewinnen konnte, es ginge hier um ihr Leben.

Louis stand auf, verließ die Zentrale und kehrte in sein Büro zurück.

Das Lied des Steines

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