Читать книгу Das Lied des Steines - Frank Riemann - Страница 5

Minsk / Weißrussland, Montag 26. April, 07:10 Uhr

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Er war guter Laune. Nein, das stimmte nicht ganz. Er war in hervorragender Stimmung. Es war fantastisch; er schwebte geradezu. Was für ein herrlicher Tag. Die Sonne schien, vereinzelt waren Wolken am sonst klaren Himmel zu sehen und es war das erste Mal seit Jahren, dass er in Hochstimmung ins Ministerium ging.

Seit knapp zehn Jahren war seine Frau jetzt tot. Diesen Schock hatte er lange Zeit nicht verarbeitet. Er war zum Einsiedler in einem Hochhaus mit Dutzenden Bewohnern geworden. Er kümmerte sich nicht um sein Äußeres, er kümmerte sich nicht um seine Wohnung. Er verließ sie nur, um zu arbeiten oder um einzukaufen. Überall lagen Essensreste und standen leere Gläser herum. Dicke Flausen auf dem Teppich, dicker Staub auf den Regalen, dicker Staub in seinem Kopf. Es war ihm alles egal. Er lebte in seiner eigenen kleinen Welt, in der sie auch noch lebte. Im Ministerium ließ man ihn in Ruhe. Er wertete die Akten aus, die man ihm gab, erstellte Statistiken und fertigte Berichte an. Niemand bemerkte an ihm eine Veränderung, von seinem Erscheinungsbild einmal abgesehen. Vormals, unter Sowjetherrschaft hätte man ihn deswegen schon längst zur Ordnung gerufen, aber heute hatte man andere Probleme.

Und dann kam sie: Natascha Petrovka war eine neue Mitarbeiterin des Ministeriums und für Planung und Organisation zuständig. Sie sah fabelhaft aus und hatte sofort zahlreiche Bewunderer. Von alldem bekam er allerdings nichts mit. Seine leblose Hülle hockte in seinem schlichten Büro und arbeitete stoisch vor sich hin.

Sie begegneten sich das erste Mal auf einem der vielen Flure, als sie sich versehentlich anrempelten. Verschreckt versuchte er seine Unterlagen zu ordnen, die herunter gefallen waren. Als sie ihm helfen wollte, schob er hastig die Blätter zusammen und verschwand eilig im nächsten Aufzug.

Zwei Tage später tauchte sie in seinem engen Büro auf. Mit seinen eingefallenen Augen im blassen Gesicht schaute er sie ängstlich an.

Sie sagte: »Ich habe ja schon viele kaputte Typen gesehen, Tawarischtsch, aber keiner war so fertig, wie Sie. Sie brauchen ein Bad, eine Rasur, etwas Ordentliches zu essen und Schlaf. Ich bringe Sie heute nach Hause.«

Natascha hatte ihn vom Büro abgeholt, heimgefahren, geschaudert als sie seine verwahrloste Wohnung sah und sich an die Arbeit gemacht. Sie hatten viel miteinander gesprochen und er fragte sich, was sie wohl in ihm gesehen hatte, bei ihrer ersten Begegnung.

Nach einigen Wochen war er wieder auf den Beinen, soweit, dass er sie zum Essen ausführen konnte. Beim Dessert nahm sie zum ersten Mal seine Hand und sagte: »Du bist ein wundervoller Mensch, Pjotr. Dass Menschen sterben, ist der Lauf der Dinge. Halte Lara in Ehren, aber zerstöre nicht dein eigenes Leben. Das hätte sie nicht gewollt.«

Da begriff er das erste Mal, was er sich all die Jahre angetan hatte. Das war Freitagabend gewesen, und sie hatten das ganze Wochenende miteinander verbracht.

An diesem Montagmorgen pfiff er ein fröhliches Liedchen, warf einen letzten Blick in den Spiegel, band sich die Krawatte, griff nach Aktentasche und Jacke und verließ die aufgeräumte Wohnung.

Er hatte das Haus noch nicht verlassen, da war er tot!

Das Lied des Steines

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