Читать книгу Das Lied des Steines - Frank Riemann - Страница 13

Mombasa / Kenia, Montag 26. April, 07:50 Uhr

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Naomi war zu Tode erschrocken. So einen lauten Knall hatte sie noch nie zuvor gehört. Jetzt fiel erneut ein Schuss. Auf dem Fußgängerübergang stürzte ein Mann und blieb mitten auf der Straße liegen. Nun erst bemerkte Naomi, dass Ken nicht mehr neben ihr stand. Auch er lag auf dem Pflaster. Noch ehe sie wusste, was das Alles zu bedeuten hatte, brach an einer Kreuzung in Mombasa an einem gewöhnlichen Montagmorgen die Hölle los. Von nun an war es alles andere, als ein üblicher Morgen.

Menschen liefen schreiend durcheinander und versuchten, hinter Häuserecken und parkenden Fahrzeugen Schutz zu finden. Ein Zeitungsverkäufer sprang hinter seinen Kiosk in Deckung, ein Obstverkäufer suchte diese hinter seinem Stand.

Autos bremsten vor dem am Boden liegenden Mann scharf ab, die Fahrer stürzten aus ihren Wagen und liefen zu vermeintlich sicheren Stellen, an denen sich schon zahlreiche andere Leute aufhielten, die sich in Sicherheit gebracht hatten. Innerhalb weniger Sekunden war die Kreuzung wie leer gefegt. Der nächste Schuss erwischte eine flüchtende Frau noch am Bein, bevor sie um eine Ecke biegen konnte und sie humpelte, nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte, in Deckung.

Der Mann auf der Straße rührte sich nicht mehr. Es bildete sich unter seinem Kopf eine kleine Blutlache, die rasch an Größe zunahm.

Als Naomi das Blut sah, erinnerte sie sich daran, wie sie sich einmal in den Finger geschnitten hatte und überlegte, dass der Mann am Boden wohl große Schmerzen haben müsse.

Nachdem sie das entstandene Chaos erschrocken und zugleich fasziniert betrachtet hatte, fiel ihr Ken wieder ein. Er lag auf dem Rücken und blutete aus einer Wunde in der rechten Schulter. Naomi hockte sich neben ihn, sich der Gefahr, in der sie schwebte, nicht bewusst. Sie glaubte, dass auch er Schmerzen haben müsse, verstand aber nicht, warum ihr Freund sich nicht regte und nicht mehr weitergehen wollte. Ihr fielen die Bilder aus dem Fernsehen wieder ein. Da wurde von Toten gesprochen. Sie wusste zwar noch nicht, wie man starb, aber was ein Toter war, das wusste sie schon. Ihre Großmutter war tot, und ihre Mama hatte ihr erklärt, dass sie in den Himmel vorausgegangen sei und nicht mehr zurückkommen werde. Plötzlich hatte sie Angst, Ken könnte auch tot sein und fühlte sich betrogen. Er hatte ihr doch gerade erst versprochen, sie immer zu beschützen. Und jetzt war er tot? Wer sollte ihr nun helfen? Er konnte sie doch nicht einfach so alleine lassen. Sie rüttelte an Ken und begann zu weinen. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er ihren Tränenfluss gestoppt. Jetzt wurde ihr Jammern immer lauter, bis sie nur noch seinen Namen rief. Er sollte aufstehen, sie mussten doch zur Schule und er wusste doch, wie die Lehrer Verspätungen hassten. »Ken, komm doch, wir müssen weiter!«

Der nächste Schuss zerstörte eine Fensterscheibe und sein Echo rollte durch die Straßen. Bis auf eine kleine Verletzung durch Splitter an einer neugierigen Frau, die ihr rundes Gesicht ans Glas gedrückt hatte, gab es dieses Mal keine schwereren Wunden. Der Schrecken durch das krachende Zerbersten des Glases bei denen, die sich in dem kleinen Laden aufhielten, war noch das schlimmste Übel.

Naomi schrie mittlerweile immer wieder Kens Namen und zerrte an seinem Arm, ohne ihn jedoch vom Fleck zu bewegen. Alle, die sich in Sicherheit gebracht hatten und das sahen, blickten gebannt auf das kleine schreiende Mädchen, aber niemand konnte sich rühren.

Der nächste Schuss traf Naomi am linken Ohr, riss sie herum und verursachte ihr einen schlimmen brennenden Schmerz. Jetzt schien sie zu verstehen, was passiert war. Sie krabbelte zurück zu Ken und weinte herzzerreißend.

Nun endlich löste sich in einem etwa dreißig jährigen Mann die angestaute Spannung, er verließ seine Deckung und rannte auf das kleine Mädchen zu. Der Schweiß glitzerte auf seiner dunklen Haut. Er hatte die knapp fünfzig Meter schnell zurückgelegt, bekam aber Naomi nicht sofort zu fassen, da sie sich wehrte und lieber bei Ken bleiben wollte. Schroff riss er sie an sich und wollte umkehren. Jetzt kreischte und zappelte und schrie sie um Hilfe. Ken hatte doch versprochen, ihr zu helfen. Wo war nun seine Hilfe, jetzt, da sie sie brauchte?

Mit der sich windenden Naomi unter dem Arm kam der Mann nicht mehr so schnell vorwärts. Der nächste Schuss traf ihn an der Ferse des linken Fußes. Er wurde herumgewirbelt, behielt aber durch Glück und Dank einer immensen Kraftanstrengung das Gleichgewicht, blieb auf den Beinen und stolperte um die rettende Hausecke, hinter der man ihm das Mädchen sofort abnahm.

Vom Zeitpunkt des ersten Schusses bis jetzt waren keine fünf Minuten vergangen. Nun waren auch Sirenen zu hören, die aus allen Richtungen näher kamen und immer lauter wurden, bis vier Streifenwagen die Zugangsstraßen zur Kreuzung blockierten, die Sirenen abstellten und die Besatzungen hinter ihren Wagen Schutz suchten. Die sich drehenden roten und blauen Alarmlichter hatten sie angelassen; sie spiegelten sich zuckend in den umliegenden Fensterscheiben.

Der nächste Schuss traf den Scheinwerfer eines Streifenwagens ohne jemanden zu verletzen.

Die Menschen, die von der Kreuzung geflüchtet waren, hatten sich eigentlich nicht darum gekümmert, woher die Schüsse kamen. Alles, was sie wollten, war sich in Sicherheit zu bringen. Die Polizisten, die mit ihren Waffen im Anschlag über Kofferräume und Motorhauben lugten, nahmen den erst halbfertigen Neubau an der nordöstlichen Ecke der Kreuzung Koinage Road und Narok Road ins Visier.

Als der nächste Schuss fiel, erwiderten die Polizisten das Feuer auf eine der oberen Etagen, deren Fensteröffnungen noch ohne Scheiben auf die Kreuzung herunter gähnten. Von einem Schützen war nichts zu sehen, geschweige denn, dass er getroffen wurde. Einige Geschosse trafen das Mauerwerk, Querschläger pfiffen. Einer davon traf eine Straßenlaterne, ein anderer bohrte sich in einen Baum, und wiederum ein anderer den Zeitungskiosk, was dem Verkäufer zeigte, dass seine Reaktion richtig gewesen war.

Nachdem die Polizisten das Feuer mangels eines eindeutigen Ziels eingestellt hatten und der Klang der Schüsse in den Ohren aller Anwesenden verhallt war, wurden erneut Sirenen lauter. Es mussten sich etliche Einsatzwagen von Polizei und Rettungsdienst nähern. Einer der Streifenbeamten vor Ort hatte über Funk Verstärkung angefordert und nach seinem knappen Bericht waren nun weitere Streifenwagen, ein Sonderkommando, Scharfschützen und Rettungswagen unterwegs.

Die Streifenwagen sperrten die Zufahrtsstraßen weiträumig ab und hielten Fußgänger zurück. Die Besatzungen klärten sie über die Notwendigkeit auf, Umwege in Kauf zu nehmen und verwehrten ihnen den Durchgang, gaben den Grund dafür aber nicht an, um zu verhindern, dass noch mehr Schaulustige die Einsatzkräfte behinderten. Dennoch hatten sich an den eilig errichteten Absperrungen bereits Gruppen Neugieriger zusammengefunden. Schüsse und Sirenen hatten die Sensationshungrigen angelockt.

Andere Polizisten sorgten dafür, dass alle sich noch im Gefahrenbereich befindlichen Personen in weiter hinten liegende sichere Areale gebracht wurden. Einige leisteten Erste Hilfe bei den Verletzten, andere nahmen Zeugenaussagen auf. Die Rettungswagen blieben zwischen der ersten und der zweiten Absperrung, ihre Besatzungen nahmen Verletzte entgegen und behandelten sie. Der Frau, die am Bein getroffen worden war, wurde ein Druckverband angelegt. Naomis Ohr hatte aufgehört zu bluten, es wurde nur noch gesäubert und desinfiziert. Die Verletzung des Mannes, der sie gerettet hatte, war komplizierter. Im Gegensatz zu der Frau, bei der das Entfernen des Geschosses kein Problem darstellen sollte, würde der Mann ein dauerhaftes Gebrechen davontragen. Die Kugel zerstörte den Fersenknochen in seinem Fuß, und er würde weiterhin ein leichtes Humpeln zurückbehalten. Aber was bedeutete das schon, wenn man ein Leben, und dazu noch das eines Kindes, gerettet hatte? Einer weiteren Frau wurden leichte Schnittverletzungen im Gesicht und an den Händen gesäubert. Bis auf winzige Narben, die man kaum bemerken würde, war sie mit dem Schrecken davongekommen.

Gepanzerte Fahrzeuge des Sonderkommandos kamen behäbig herangerollt und fuhren bis neben die bereits anwesenden Wagen, aber zwei fuhren weiter genau auf die Kreuzung und stellten sich direkt neben die beiden Verwundeten, die immer noch auf der Straße lagen, und schirmten sie zum Neubau hin ab. Türen sprangen auf, Beamte, in dunkler Kleidung und mit Helmen und Splitterschutzwesten ausgestattet, liefen auf die Fahrbahn und sicherten die Umgebung, schwere Schilde in ihren Händen haltend. Andere nahmen den Mann und den kleinen Jungen auf, luden sie in die Fahrzeuge und fuhren, nachdem alle wieder eingestiegen waren, zu den bereitstehenden Rettungswagen. Das alles geschah so schnell, dass lediglich ein Schuss den Asphalt traf und niemanden verletzte. Aber alle zuckten zusammen und nun war das Fenster lokalisiert, hinter dem der Schütze sitzen musste.

Dem angeschossenen Mann hätte man vielleicht noch helfen können, wenn er sofort, nachdem er getroffen worden war, in eine Klinik gekommen wäre, aber so war er verblutet und schon etliche Minuten ohne Atmung gewesen. Eine dennoch eingeleitete Reanimation blieb erfolglos.

Ken hatte einen Durchschuss unter dem rechten Schlüsselbein. Er würde bald wieder auf den Beinen sein und bis auf zwei geringe Nachwirkungen keine größeren Schäden davontragen. Da war zum Einen die kleine Narbe an seiner Schulter, die aussehen würde, als hätte ein Arzt bei der Pockenimpfung gepfuscht, und zum Anderen seine Erinnerung, obwohl er eigentlich gar nichts wusste. Dennoch erzählte er später die ganze Geschichte, das entstandene Chaos, das Eintreffen und die Maßnahmen von Rettungsdienst und Polizei, als hätte er das Alles von einem sicheren Logenplatz aus verfolgt. Zum Beweis dafür, dass er dabei gewesen war und auch selber betroffen war, würde er dann seine Narbe zeigen. Das würde jedes Mal eine tolle Geschichte werden, nur Naomi würde eifersüchtig und neidisch werden, weil es nicht ihre Geschichte war. Sie konnte sich nämlich an nichts mehr erinnern. Ihre Erinnerung setzte nach dem ersten Schuss erst in dem Moment wieder ein, als ein freundlich lächelnder Mann ihr linkes Ohr rieb und dies höllisch brannte.

Sie fragte nach ihrem Freund, und man sagte ihr, es würde Alles wieder gut werden. Dennoch dauerte es eine geraume Zeit, bis man sie vollends beruhigt hatte. Das Schlimmste aber war, dass die ganze Angelegenheit Kens Geschichte war und nicht ihre, denn sie als die weltgrößte Geschichtenerzählerin wusste nicht mehr, was geschehen war. Da würde es auch nicht helfen, wenn sie später ihr vernarbtes Ohr zwischen die Finger nahm und daran rieb.

Die letzten Panzerwagen rollten heran und aus einem weiter hinten anhaltenden Fahrzeug stieg eine imponierende Gestalt. Am Wagen vorbei nahm er die gesamte Szene in sich auf.

»Roger?«, wurde er angesprochen.

Er wandte sich um und erblickte seine beiden Freunde David Solomon und Robert Mathenge. »Guten Morgen David, hallo Robert«, erwiderte Roger Hanley, der Einsatzleiter.

David Solomon berichtete knapp: »Vermutlich ein einzelner Schütze, oberstes Stockwerk. Meine Jungs sind bereit und ich warte nur auf deinen Befehl.«

Solomon war der Leiter des Sondereinsatzkommandos. Er hatte seine Leute an der Häuserfront rechts und links neben dem Eingang Aufstellung nehmen lassen. Sie warteten nur noch darauf, das Gebäude zu betreten, wobei sie dort unten relativ sicher waren, denn um einen von ihnen im toten Winkel zu erwischen, hätte sich der Schütze schon recht weit aus dem Fenster lehnen müssen und hätte dabei selber ein wunderbares Ziel für die Scharfschützen abgegeben. Diese hatten in sich in den Häusern gegenüber des Neubaus befindenden Zimmern Position bezogen, nachdem die Bewohner zum Verlassen ihrer Wohnungen aufgefordert worden waren, und zielten auf das Dachgeschoss.

»Ich warte nur noch auf die Bestätigungen«, beendete Mathenge, der Chef der Präzisionsschützen, seinen kurzen Bericht.

»Danke«, antwortete Roger, drehte sich wieder um und überblickte die Kreuzung.

Die noch tief stehende Sonne würde gleich für kurze Zeit hinter dem Gebäude verschwinden. Dann würde niemand mehr geblendet werden, und auch der letzte Scharfschütze hätte freie Sicht. Eine bedrückende Stille senkte sich für einen Moment über das Geschehen.

»Wenn das die Ruhe vor dem Sturm war«, dachte Roger bei sich, und es war ruhig, von den etwa zweihundert anwesenden Personen sprach kaum jemand »dann würde es einen schlimmen Orkan geben.«

Das Lied des Steines

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