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2.11Der schwarze Schwan und stumme Zeugen
ОглавлениеNassim Nicholas Taleb war ursprünglich Finanzmathematiker. Im Libanon geboren, studierte er in den USA und war an verschiedenen Universitäten als Professor tätig. Im Investmentbanking arbeitete er für verschiedene Firmen an der Wallstreet. 2007 veröffentlichte er ein Buch, in dem er vor den Gefahren der Finanzwirtschaft und den gängigen mathematischen Modellen warnte. Anlagen, die nach seinen Empfehlungen investierten, erwirtschafteten in der Finanzkrise 2008 sehr hohe Gewinne. Taleb versteht sich als ein »skeptischer Empirist« und hat sich mit seinen Büchern und wissenschaftlichen Publikationen weltweit einen Namen gemacht. Stark beachtet und in viele Sprachen übersetzt wurde sein Buch über den »Schwarzen Schwan«. [5]
In diesem Werk setzt sich Taleb damit auseinander, wie anfällig wir dafür sind, insbesondere seltene Ereignisse – die schwarzen Schwäne – vollkommen falsch einzuschätzen. Wir über- oder unterschätzen ihre Häufigkeit, über- oder unterschätzen ihre Wirkungen und produzieren häufig falsche Erklärungen für das Auftreten solcher Ereignisse. In diesem Zusammenhang beschäftigt sich Taleb intensiv mit unserer Tendenz, überall Kausalitäten zu erkennen und vermeintlich stimmige Geschichten zu konstruieren. Wir haben dieses Phänomen bereits als Kausalitätsillusion kennengelernt (Kap. 2.8). Taleb bringt zahlreiche Beispiele für verzerrte Wahrnehmungen, haltlose Kausalitäten und Geschichten, die uns subjektiv einleuchtend und überzeugend erscheinen. Er bezeichnet dieses Phänomen als »Theoretisierungskrankheit«, von der viele Menschen befallen seien. [5, S. 90ff.]
Zu Recht betont er dabei die Rolle der Medien. Denn deren berufsmäßige Bestimmung ist es, am laufenden Band vermeintliche Kausalitäten und stimmige Geschichten zu produzieren. Viele der so verbreiteten Kausalitäten und Geschichten halten einer Prüfung nicht stand. Witzig und gleichzeitig anschaulich ist folgendes Beispiel, das Taleb schildert:
»An einem Tag im Dezember 2003, als Saddam Hussein gefasst worden war, verbreitete Bloomberg News um 13:01 Uhr die folgende Schlagzeile: ›US-Staatsanleihen steigen; Ergreifung von Hussein wird den Terrorismus vielleicht nicht eindämmen.‹
Wenn der Markt sich bewegt, fühlen die Nachrichtenmedien sich immer verpflichtet, den ›Grund‹ dafür zu nennen. Eine halbe Stunde später war eine neue Schlagzeile nötig. Die US-Staatsanleihen waren im Preis gefallen (sie fluktuieren den ganzen Tag über, das war also nichts Besonderes), und Bloomberg News hatte dafür einen neuen Grund: die Ergreifung von Saddam (demselben Saddam). Um 13:31 Uhr kam das nächste Bulletin heraus: ›US-Staatsanleihen fallen; Ergreifung von Hussein steigert Attraktivität riskanter Anlagen.‹
Die gleiche Ergreifung (die Ursache) wurde also als Erklärung für ein Ereignis und sein genaues Gegenteil benutzt. Das kann natürlich nicht sein; die beiden Fakten können nicht miteinander im Zusammenhang stehen […].
Es passiert ständig: Man führt einen Grund an, damit wir die Nachricht schlucken und die Sache konkreter aussieht. Nach der Wahlniederlage eines Kandidaten wird man uns die ›Ursache‹ für die Verärgerung der Wähler liefern. Dafür ist jede erdenkliche Ursache recht. Die Medien bemühen sich aber sehr, den Prozess durch die Heerscharen ihrer Mitarbeiter, die die Fakten überprüfen, ›gründlich‹ zu machen. Sie wollen sich anscheinend mit unendlicher Genauigkeit irren (statt zu akzeptieren, dass sie in etwa recht haben, wie die Verfasser von Fabeln).« [5, S. 101]
Im Zusammenhang mit verzerrenden und oft haltlosen Kausalitäten behandelt Taleb auch das Thema der stummen Zeugen. Stumme Zeugen sind ein Spezialfall der WYSIATI-Regel, wie sie vorangehend dargestellt wurde (Kap. 2.4). Das, was wir nicht wahrnehmen, gibt es im inneren Verarbeitungsprozess nicht. Es kann daher auch nicht angemessen berücksichtigt werden. Diesem Schicksal sind stumme Zeugen nahezu immer ausgesetzt. So werden geschichtliche Epochen stets durch die Überlebenden und in der Regel durch die Sieger bzw. die Mächtigen erklärt. Die Verfolgten, die Unterdrückten, die auf den Schlachtfeldern Dahingemetzelten oder auf andere Art frühzeitig Verstorbenen können sich nicht mehr äußern. Sie geraten in Vergessenheit und sind typische Vertreter der Gattung der stummen Zeugen. Auch in der Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte können selbstverständlich nur die Arten Berücksichtigung finden, die fossile oder zumindest genetische Spuren hinterlassen haben. Diejenigen, die sang- und klanglos ausgestorben sind, ohne für uns Nachfahren irgendwelche Zeugnisse ihrer Existenz zu hinterlassen, kommen in unseren Vorstellungen und den wissenschaftlichen Modellen nicht vor. Es ist, als hätte es sie nie gegeben.
Mit Recht verehren wir große Komponisten und große Autoren. Ihre Größe und den Wert ihrer Werke messen wir meist an anderen Komponisten und anderen Autoren, die uns bekannt sind. Diese Vergleichsgruppe ist aber sehr willkürlich gewählt. Denn es gibt Millionen von Musikern und Millionen von Schriftstellern, deren Werke nie publiziert wurden oder aus anderweitigen Gründen für immer in Vergessenheit geraten sind. Vielleicht sind sie früh verstorben, vielleicht konnten sie ihre musikalischen oder literarischen Fähigkeiten aufgrund ihrer sozialen Situation nicht entfalten. Vielleicht gerieten ihre Werke aus anderen Gründen für immer in Vergessenheit. Noch viel wahrscheinlicher ist es aber, dass sie gar keinen Musikproduzenten oder keinen Verleger gefunden haben. Renommierten Buchverlagen werden jedes Jahr viele Tausend Manuskripte zugeschickt. Die wenigsten davon werden gelesen und fast alle werden abgelehnt. Sie verschwinden für immer in der Versenkung. Es wäre völlig naiv anzunehmen, dass unter den vielen Millionen verhinderten Musikern und Schriftstellern nicht auch etliche große Persönlichkeiten mit hervorragenden Werken waren. Aber wir kennen sie nicht und werden sie niemals kennenlernen. Ja, wir halten sogar gerne die Illusion aufrecht, dass die großen Meister, die uns bekannt geworden sind, deswegen erfolgreich waren, weil sie sich von den vielen Namenlosen entweder in persönlichen Eigenschaften oder in der Qualität ihrer Werke unterscheiden. Taleb weist mit Recht darauf hin, dass neben dem zweifellos nützlichen Talent, über das ein Künstler verfügt, auch jede Menge Glück und Zufälligkeiten dafür entscheidend sind, dass er und seine Fähigkeiten bekannt werden. So, wie Erfolg im Leben fast immer etwas – zumindest auch – mit Glück und Zufall zu tun hat. [5, S. 131ff.]