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2.16Kommunikation wird überschätzt

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Sie wissen bereits, dass ich die radikale Position nicht teile, wonach wir keinerlei Aussage zu der Existenz oder Qualität einer außerhalb unserer subjektiven Wirklichkeit liegenden objektiven Wirklichkeit machen können. Gleichwohl berührt der Konstruktivismus einen sehr wesentlichen Punkt, der einen engen Bezug zum Thema dieses Buches hat. Wir überschätzen die Passgenauigkeit der durch Kommunikation vermittelten Inhalte enorm. Denn es ist in der Tat eine Quadratur des Kreises, durch Kommunikation in der subjektiven Repräsentanz der jeweils Beteiligten annähernd gleiche Inhalte vermitteln zu können. Wir geben uns schnell mit dem oberflächlichen Gefühl zufrieden, dass man sich verstanden hat. Das ist aber oft eine Illusion. So ist es auch kein Zufall, dass nicht selten das Ausmaß an Differenzen und das Gefühl, sich nicht zu verstehen, in dem Maße wächst, in dem Menschen einander besser kennenlernen. Denn bei genauem Hinsehen fallen einem viele feine Abweichungen dort auf, wo man bei grober Betrachtung Gemeinsamkeit und ein gemeinsames Verständnis verbucht hat.

In vielen Bereichen der Gesellschaft müssen Experten durch Personen kontrolliert werden, die selbst keine Experten im jeweiligen Fachgebiet sind. Krankenkassen sollen den Sinn und die Verhältnismäßigkeit ärztlicher Behandlungen beurteilen, Politiker, ob Atomkraftwerke sicher sind, die Finanzaufsicht soll Banken kontrollieren und Medikamenten-Zulassungsbehörden sollen einschätzen, ob Studien zu einem Medikament aussagekräftig sind oder nicht. Es gibt zahllose weitere Beispiele. Angesichts der Spezialisierung und Überspezialisierung unserer Zeit und der damit verbundenen Risiken gewinnt die Kontrolle dieser Prozesse und Risiken immer weiter an Bedeutung.

Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang sind Sozialarbeiter und Juristen, die Berichte über den Verlauf von Therapien von Straftätern beurteilen sollen. Juristen und Sozialarbeiter sind für den Straftäter nach seiner Entlassung verantwortlich. Sie müssen sich daher ein Bild davon verschaffen, welches Risiko beim Straftäter vorliegt und ob etwa eine durchgeführte Therapie sachgerecht und erfolgreich verläuft. Für diese Beurteilung sind sie auf Berichte von Therapeuten angewiesen. Damit stehen sie vor dem typischen Kontrollproblem, Experteninformationen beurteilen zu müssen. Können sie die relevanten Informationen aus dem Bericht herauslesen? Können sie erkennen, wenn in der Therapie ein Problem vorliegt, das durch den Therapeuten nicht erkannt oder verschleiert wird?

Unsere Forschungsgruppe hat einmal in einer Studie überprüft, welche Informationen die Kontrolleure aus diesen für sie fachfremden Berichten aufnehmen. Wir legten verschiedenen Juristen und Sozialarbeitern dieselben Therapieberichte zur Prüfung vor. Das Ergebnis war ernüchternd. Selbst bei scheinbar eindeutigen Aussagen kam es zu höchst unterschiedlichen Interpretationen des gelesenen Inhalts. Das betraf nicht nur komplizierte Dinge, sondern auch scheinbar einfache Fragen wie etwa: Enthält der Bericht die Information, wann die Therapie begonnen wurde? Die eine Hälfte der Leser sagte ja, die andere Hälfte nein – wohlgemerkt beim selben Bericht.

Wir stellten fest, dass es für fachfremde – das heißt mit der spezialisierten Expertensprache nicht vertraute – Fachpersonen (es waren ja keine Laien) schlicht unmöglich war, zu erkennen, ob eine Information über den Therapiebeginn vorhanden war oder nicht. Denn es stellte sich die Frage, wie genau der Therapiebeginn zu definieren ist. Ist der Therapiebeginn die erste Therapiestunde? Ist der Therapiebeginn eine vorausgehende Abklärung der Therapiefähigkeit? Ist der Therapiebeginn der Zeitpunkt, an dem eine juristische Verfügung über die Anordnung der Therapie ausgestellt ist? Ist der Therapiebeginn der Zeitpunkt, an dem diese Verfügung rechtskräftig ist? Ist der Therapiebeginn die fünfte Stunde, weil erst danach definitiv entschieden wird, ob die Therapie bei einem bestimmten Therapeuten wirklich Sinn macht?

Selbst diese überaus banale Information generiert eine Fülle von Unklarheiten und Missverständnissen, wenn man mit dem Alltag der Therapiedurchführungen nicht vertraut ist. Und da reden wir noch nicht über komplizierte Inhalte wie die Diagnose, die Änderung einer Diagnose, die Bestimmung des Risikos des Täters oder fachliche Beschreibungen des Therapieverlaufs. Wenn nicht einmal eine so einfache Frage wie die zum Therapiebeginn zuverlässig beantwortet werden konnte, wie soll es da gelingen, die wirklich wichtigen Inhalte an die verantwortlichen Fachpersonen zu vermitteln?

Es gibt Strategien, mit dieser Grundproblematik umzugehen, die im Kern bei jeder Kommunikation besteht. Sie sind aber alles andere als ein Selbstläufer. Generell darf man zufrieden sein, wenn es zu Annäherungen im Sinne von Ähnlichkeiten anstelle von den Sinn verzerrenden Diskrepanzen kommt.

Bei den von uns untersuchten Sozialarbeitern und Juristen handelte es sich um besonders qualifizierte Fachpersonen, die darüber hinaus sehr viel Wissen rund um das Thema »Therapie von Straftätern« hatten. Dennoch kam es zu diesen Problemen. Das zeigt, wie groß der Spielraum zu subjektiv geprägten eigenen Wirklichkeiten ist, wenn man verschiedenen Personen genau dieselbe Information vorlegt.

Generell würde man staunen, wie viele Abweichungen sich ergeben, wenn man wie in dem konkreten Beispiel überprüfen würde, was genau bei den Rezipienten einer Information konkret ankommt. Wenn man also die Personen, die eine Dokumentation anschauen, einem Vortrag zuhören oder an einer Besprechung teilnehmen, nachher standardisiert und konkret nach den Inhalten befragt, würden eklatante Abweichungen und viele eigene Wirklichkeitskonstruktionen zum Vorschein kommen. Dies, obwohl man in der Regel nach einer Besprechung von einem gemeinsamen Verständnis aller Teilnehmenden ausgeht. Das Ausmaß dessen, was in solchen Informationen vermittelt und einem einheitlichen Verständnis zugeführt werden kann, ist aber ausgesprochen begrenzt.

Deswegen ist es überaus berechtigt, auf die Macht der subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen hinzuweisen. Sie erzeugen zwischen unterschiedlichen Personen bestenfalls Ähnlichkeiten, nie aber das wirklich gleiche Verständnis. Ich bin aber optimistischer als die Radikalen Konstruktivisten. Denn in einer Kommunikation kann die Ähnlichkeit so weit kultiviert werden, dass sie in vielen praktischen Fragen ein ausreichend gemeinsames Verständnis hervorbringt. Würde ich daran nicht glauben, würde ich dieses Buch nicht schreiben, und dann hätten vermutlich auch die Radikalen Konstruktivisten keine Bücher geschrieben. Aber man soll keinesfalls die Hindernisse unterschätzen, die einem gemeinsamen Verständnis durch subjektive Wirklichkeitskonstruktionen entgegenstehen. Wenn ein gemeinsames Verständnis eines Inhalts wichtig ist, sollte man kontrollieren bzw. nachfragen und nicht dem oberflächlichen Gefühl trauen, dass alle das Gleiche verstanden haben. Ähnlich wie bei den typischen psychologischen Verzerrungen bin ich aber auch hier davon überzeugt, dass die Kenntnis dieses Phänomens hilft, den tatsächlichen Grad an gemeinsamem Verständnis verbessern zu können.

Darwin schlägt Kant

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