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4.2Investition in Vernunft: Ein evolutionäres Projekt mit Chancen und Risiken
ОглавлениеDass die Evolution in einen leistungsfähigeren Verstand und in ein ausgeprägtes Bewusstsein investiert hat, war ein gewagtes Unterfangen mit Risiken. Denn einerseits steigt der Energiebedarf und andererseits erhöhen sich die Fehlermöglichkeiten. Durch die Möglichkeit zur Variation und zur Abweichung von stereotypen Beurteilungen und Handlungsmustern wurden zwar neue Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen. Gleichzeitig entstanden aber auch viele neue Möglichkeiten für fatale Fehlbeurteilungen und falsche Handlungen. Das haben wir bei unseren beiden Urmenschen gesehen. Es kommt hinzu, dass ein ausgeprägtes Bewusstsein und ein differenzierteres Gefühlsspektrum Quelle vieler weiterer evolutionärer Nachteile sein können. Was, wenn der Mensch mit seinem Bewusstsein die Gefahr des Todes stärker empfindet und deswegen zu übertriebener Passivität neigt? Was, wenn der ausgestaltete Verstand zu mehr offenen Fragen, Verunsicherung, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit führt?
Jedenfalls gilt, dass die Investitionen in Vernunft und eine stärkere Variabilität von Urteilen und Handlungen nicht nur mit Chancen – z. B. für Anpassungsfähigkeit, Kooperation, Entwicklung von Werkzeugen etc. – verbunden sind. Sie gehen auch mit Risiken evolutionärer Nachteile einher. Die sind deswegen kritisch, weil der Mensch besonders darauf angewiesen ist, seinen durch das Gehirn gesteigerten Energiebedarf dauerhaft decken zu können. Nun, wir wissen, dass die Geschichte vorderhand gut ausgegangen ist. Bislang ist der Mensch evolutionär sehr erfolgreich. Er hat sich eine Position erarbeitet, durch die er keine natürlichen Feinde in Gestalt anderer Reproduktions- oder Nahrungskonkurrenten mehr hat. Oder sagen wir es anders. Er hat die Mittel, all diese natürlichen Konkurrenten zu vernichten. Es ist übrigens bei dieser Ausgangslage auch klar, dass der einzige existenzgefährdende Konkurrent des Menschen ein anderer Mensch ist. Wir werden auf diesen Punkt später zurückkommen.
An dieser Stelle geht es vor allem darum zu zeigen, dass die Evolution am Anfang der beschriebenen Entwicklung gut beraten war, ihr seit Jahrmillionen verwendetes Erfolgsprinzip nicht gänzlich über Bord zu werfen. Im Gegenteil wurde viel von dem bewährten Prinzip in die neue Konstruktion eingebaut. Wahrnehmungen und Beurteilungen sind kein Selbstzweck. Sie sind die Grundlage für darauf aufbauende Handlungen. Das ist ihre Funktion und deswegen lautet das zentrale Prinzip: besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig.
Absoluten Vorrang hat die Verhinderung fataler Konsequenzen (Tod) und damit Sensitivität vor Spezifität. Sensitivität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass möglichst alle lebensbedrohlichen Situationen erkannt werden, auch wenn das bedeutet, dass viele Situationen fälschlicherweise als lebensbedrohlich eingeschätzt werden (Verlust von Spezifität). Deswegen sind die Geschwindigkeit der Beurteilung und ihre Eindeutigkeit als Grundlage für eine Handlung entscheidend. Die Weiterentwicklung des Verstandes steht im Dienst dieser klassischen evolutionären Ausrichtung. Keine Rede also davon, dass die Vernunft dazu da ist, die Phänomene der Welt möglichst genau und richtig zu erkennen, sie durchschauen und erklären zu können. Vielmehr gilt das erwähnte zentrale Prinzip, dass sich in der Evolution seit Jahrmillionen bewährt hat: besser falsch, dafür aber schnell und/oder eindeutig. Um schnell und/oder eindeutig zu entscheiden und zu handeln, sind die Reduktion von Komplexität, Generalisierung und Automatisierung sehr nützliche Mechanismen. Wir haben genau diese Elemente in Form psychologischer Urteilsfehler kennengelernt.
So wird uns der Mechanismus der Automatisierung zum Beispiel beim Priming deutlich vor Augen geführt. Beim Priming speist unser intuitives System zuvor unbewusst aufgenommene Informationen – ungefragt – in unsere bewussten Beurteilungsprozesse ein oder lässt sie direkt ohne Umwege ins Verhalten einfließen.
Aus Sicht der Evolution kann man sich einen Reim darauf machen, warum diese Automatisierung einmal sinnvoll gewesen sein könnte. Beim Priming wird eine Information aus der Außenwelt (z. B. in den vorangehend dargestellten Experimenten irgendeine Zahl, das Thema »Geld«, das Thema »Altwerden«) in einen zeitlich darauffolgenden Entscheidungsprozess eingebunden. Ähnlich wie beim Halo-Effekt findet auch hier ein Prozess der Angleichung statt. Unser Wahrnehmungssystem geht davon aus, dass zeitlich eng aufeinanderfolgende Dinge etwas miteinander zu tun haben, statt völlig unabhängig voneinander zu sein. In der Tat dürfte es bei einem eher homogenen Lebensraum, zum Beispiel beim Leben in der Savanne oder in einem Wald, eher so sein, dass Dinge, die in naher zeitlicher Abfolge stattfinden, etwas miteinander zu tun haben bzw. in die gleiche Richtung weisen. Dass nicht alle Details im Bewusstsein registriert und aufgenommen werden, ist eine Frage der Ökonomie. Die meisten Wahrnehmungen werden ständig weggefiltert, um die Möglichkeiten unserer Informationsverarbeitung nicht zu überfordern.
Nun dürfte es aus Sicht der Evolution eine Frage gewesen sein, ob die unterhalb der Bewusstseinsschwelle registrierten Informationen komplett verloren gehen oder auf einem subtilen Weg nicht doch – stereotyp, automatisiert und auf gut Glück – wieder in Beurteilungsprozesse und Verhaltensweisen einfließen sollen. Man kann sich gute Gründe dafür vorstellen, warum die Evolution das so eingerichtet hat – und zwar vor allem dann, wenn die Information in enger zeitlicher Nähe zu einer Beurteilung oder einem Verhalten steht. Auch hier wird es durch diesen Mechanismus oft zu verzerrten oder falschen Beurteilungen und unsinnigen Verhaltensweisen kommen. Aber darauf kommt es gar nicht an. Denn es geht nur darum, in einigen wenigen Fällen fatale Konsequenzen zu verhindern, weil eine entscheidende Information verpasst wurde.
Die Mechanismen der Reduktion von Komplexität und der Generalisierung lassen sich in nahezu allen psychologischen Urteilsfehlern nachweisen. So führt zum Beispiel der Halo-Effekt gleichermaßen zur Generalisierung (einer Beurteilung) und zur Reduzierung von Komplexität (Vermeidung von Heterogenität). Der Rückschaufehler entspricht der Reduzierung von Komplexität.
Alle diese Mechanismen haben auf subjektiver Ebene eine Fülle positiver Wirkungen. Sie vermitteln das Gefühl, die Welt zu verstehen und dadurch Kontrolle über die Umwelt zu haben. Es findet damit eine Immunisierung gegenüber den Gefahren statt, die mit der Weiterentwicklung des Verstandes und des Bewusstsein verbunden sind. Der stark weiterentwickelte Verstand soll nicht zu Verunsicherung, Entscheidungs- und Handlungsunfähigkeit führen. Im Gegenteil ist etwas Selbstüberschätzung sogar vorteilhaft. Deswegen macht es aus Sicht der Evolution Sinn, die starke Ausweitung des Verstandes mit einer Vielzahl von Stoßdämpfern zu versehen, um die damit verbundenen Risiken zu reduzieren. Der Preis sind Mechanismen, die zu verzerrten und falschen Beurteilungen und entsprechenden Handlungen führen – all das aber mit einem subjektiv guten Gefühl. Denken wir daran, von welchem der beiden Urmenschen wir abstammen. Nicht von dem Neugierigen, der die Welt differenziert erforschen und erkennen wollte.
Aus einer aufklärerischen Perspektive sind die Mechanismen, die er uns vererbt hat, problematisch. Man kann auch fragen, ob sie im 21. Jahrhundert noch die Berechtigung haben, die sie vielleicht vor 50 000 Jahren hatten. In jedem Fall ist es aber sinnvoll, sich mit diesen Mechanismen und ihren Auswirkungen auseinanderzusetzen. Denn ohnehin sind sie nicht zu eliminieren. Aber sowohl individuell als auch gesellschaftlich kann es gelingen, negative Folgen zu begrenzen. Aus einer aufklärerischen Haltung heraus ist zu sagen: Das muss gelingen. Aber selbstverständlich ist das keineswegs. Gerade in den westlich orientierten Demokratien, die sich eigentlich den Grundgedanken der Aufklärung verbunden fühlen, zeigen sich in Politik, Medien, Ökonomie und Wissenschaft genau gegenteilige Tendenzen. Die evolutionär mit einer anderen Zielsetzung geschaffenen Fehlerquellen werden genutzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um Produkte zu verkaufen oder um Politik zu machen (vgl. Kap. 15).