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2.15Radikaler Konstruktivismus und Grenzen der Kommunikation
ОглавлениеDen Radikalen Konstruktivismus könnte man auch gut im Kapitel über die generellen erkenntnistheoretischen Limitationen einordnen. Ich stelle ihn aber unter den psychologischen Mechanismen dar, weil er einen wichtigen Aspekt der Kommunikation aufgreift, über den wir uns häufig nicht ausreichend im Klaren sind. So überschätzen wir systematisch das Ausmaß eines gemeinsamen Verständnisses von Inhalten, die kommuniziert werden. Diese Überschätzung erfolgt aufgrund psychologischer und sozialer Gepflogenheiten, die etwas anderes nahelegen.
Im Radikalen Konstruktivismus wird der Begriff der Wirklichkeit anders gebraucht als im vorliegenden Buch. Für ihn ist Wirklichkeit immer ein subjektives Konzept. Jeder Mensch habe seine eigene Wirklichkeit, die Ergebnis der individuellen Erfahrungen und Prägungen dieses Menschen sei. Jeder Mensch lebe damit in einer eigenen Wirklichkeitsblase. Das Erkennen einer irgendwie außerhalb dieser subjektiven Wirklichkeit liegenden Wahrheit sei demnach unmöglich.
Prägenden Einfluss auf den Radikalen Konstruktivismus hatte Jean Piaget. Piaget ist allgemein durch sein Modell kindlicher Entwicklungsstufen bekannt. Ein wichtiges Element in seinen Arbeiten sind die Begriffe Konstrukt und Schema, die er in einem klassisch konstruktivistischen Sinn gebraucht. So sind Schemata internalisierte Denkmuster, die das Kind durch die Interaktion mit der Umwelt anhand eigener Erfahrungen aufbaut. Das Kind lernt und konstruiert demnach seine eigene subjektive Wirklichkeit durch Assimilation und Akkommodation. Assimilation bedeutet, dass das Kind ein Phänomen wahrnimmt und es dann mit den in seinem Gedächtnis gespeicherten Inhalten vergleicht. Wird bei diesem Abgleich etwas gefunden, das dem Phänomen ähnlich ist, dann wird angenommen, dass es sich um ein identisches Phänomen handelt. Findet sich beim Abgleich nichts Ähnliches, dann wird ein neuer Begriff gebildet. Häufig hat dieser Begriff dann etwas mit einem Detail zu tun, das bereits in der Ausgangssituation vorhanden war, aber zunächst übersehen wurde. Die Bildung eines neuen Begriffs führt zur Veränderung oder Erweiterung der Schemata (Akkommodation).
Ernst von Glasersfeld, dessen Werk durch Piaget beeinflusst ist, sieht in den Mechanismen der Assimilation und der Akkommodation universelle Elemente. Sie sind nicht nur in der Entwicklung des Menschen von Bedeutung, sondern generell für die Wirklichkeitskonstruktion des Menschen gültig.
Gegenüber dem Begriff der Wirklichkeit, der in der Sicht der Radikalen Konstruktivisten subjektiver Natur ist, wird der Begriff der Realität abgegrenzt. Dabei wird Realität aber nicht als eine abseits der Wirklichkeit existierende objektive Wahrheit verstanden. Realität ist vielmehr eine Quelle von Störungen, die bei der Assimilation und Akkommodation zu Widersprüchen führt. Ein solcher Widerspruch kann zum Beispiel sein, dass man bemerkt, dass etwas, das man als identisch angesehen hat, doch von der eigenen Kategorie verschieden ist. Solche Störungen kommen zum Beispiel regelmäßig in Kommunikationen vor. Ohnehin ist Kommunikation keine Möglichkeit, Informationen, das heißt eigene Wirklichkeiten, an eine andere Person zu übermitteln. Denn gemäß dem Radikalen Konstruktivismus ist es unmöglich, eine andere als die eigene Wirklichkeit tatsächlich nachzuvollziehen. Möglich ist lediglich, dass durch die Konfrontation mit den Informationen über eine andere subjektive Wirklichkeit, also durch Kommunikation, ein eigener Prozess angestoßen wird, der in der inneren subjektiven Wirklichkeit dann etwas Ähnliches produziert. Man kann diesen Vorgang mit Übersetzungen vergleichen. Auch sehr gute Übersetzungen können nie das Gleiche wie der Ursprung sein. Sie sind immer etwas anderes und im besten Falle dem Ursprung sehr ähnlich. Denn jede Sprache konstruiert wieder eine subjektive Wirklichkeit, der man sich in einer anderen Sprache bestenfalls annähern kann. [9; 10]