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Privateigentum
ОглавлениеDie Überlegungen des Karl Marx zu Reichtum, Armut und Ausbeutung bauen auf einigen allgemeinen Erkenntnissen der Kulturanthropologie über den Zusammenhang von Natur, Arbeit und Eigentum auf.13 In einem sehr elementaren Sinn besteht Reichtum zunächst in der reichlichen Verfügung über materielle Dinge als Folge einer hohen Produktivität der menschlichen Arbeit. Zur |32|näheren Bestimmung der Art und Weise, wie über diese Dinge verfügt wird, ist ein Blick auf die Geschichte des Eigentumsbegriffs hilfreich. „Eigentum“ bezeichnet ursprünglich das Verhältnis eines Individuums zu seinem Leib und den Dingen, mit denen es sich umgibt. Historisch spielt Eigentum als gesellschaftliche Institution erst in der Ackerbau- und Viehzuchtgesellschaft eine größere Rolle. Bei Jägern und Sammlern galt zwar die Beute (Tiere, Früchte) als Eigentum derjenigen, die sie erbeutet hatten, und natürlich auch die unmittelbaren Werkzeuge (Waffen, Messer, Körbe), die dafür verwendet wurden. Aber das Territorium, in dem gejagt und gesammelt wurde, war einfach für alle da, als gemeinsames Erbe der Vorfahren, der Götter, der Natur selbst. Bei Ackerbauern und Viehzüchtern überwog das Gemeineigentum an Land und Tieren, wiederum begründet aus der menschlichen Arbeit (Urbarmachung, Düngen und Füttern), die jetzt als Zusammenarbeit innerhalb von Familien, Sippen etc. stattfand. Die technischen Voraussetzungen für das Wirtschaftsleben (Bewässerung, Handel, Güterverteilung) waren Aufgabe und zugleich Machtgrundlage des Staates. Noch im germanischen Recht und im Mittelalter war der Besitz von Grund und Boden mit starken Bindungen gekoppelt, die zu beachten waren. Er galt als Leihgabe und war in eine Lehenspyramide eingebunden, an deren Spitze Gott stand.
Der Übergang vom mittelalterlichen Lehen zum neuzeitlichen Privateigentum wird schon am Wort „privat“ deutlich, das vom lateinischen Wort für „rauben“ abgeleitet ist. Wenn zum Beispiel im Mittelalter ein Grundherr einen Dorfteich, ein Feld am Dorfrand oder ein Stück Wald, das bisher als Gemeinschaftseigentum des Dorfes, als sogenannte Allmende, gegolten hatte, für sich allein beanspruchte und einzäunte, dann wurde mit diesem Gewaltakt „Privateigentum“ geschaffen. Erst in der Zeit der Aufklärung wurde der Begriff Privateigentum positiv belegt: entweder als dasjenige Eigentum, das zur Befriedigung der Grundbedürfnisse jedes Menschen quasi „von Natur aus“ zu ihm gehört, also seine naturgewollte Freiheit sichert, oder als dasjenige Eigentum, das durch die Arbeit einer Person entsteht und deshalb „von Natur aus“ auf den Umfang dessen begrenzt ist, was der Einzelne erarbeiten kann.14 Entscheidend für diesen Begriff von Privateigentum ist, dass mit ihm das enge Band zwischen Person und Sache prinzipiell auch gelöst werden kann: Grund und Boden werden käuflich. Seither wird begrifflich auch streng zwischen privatem und gemeinschaftlichem Eigentum unterschieden und über Abgrenzungs- und Legitimitätsfragen, wie wir wissen, heftig gestritten.
Etliche Stellen im Marx’schen Werk befassen sich mit dieser Vorgeschichte des Kapitalismus, die 99 Prozent der Menschheitsgeschichte ausmachte. Marx interessiert sich als Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretiker dabei weniger für das Eigentum an den Dingen des persönlichen Bedarfs, an Geschirr, Kleidern und Schmuck etc. Wichtig ist ihm vielmehr das Eigentum an jenen Dingen, die |33|in enger Verbindung mit der Arbeit stehen, den Produktionsmitteln, weil dieses Eigentum die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen prägt. Marx untersucht vor allem jenen Prozess, durch den das ursprüngliche Gemeineigentum in Privateigentum verwandelt wurde.15 Dabei kommt Marx zufolge der sogenannten „Ackerbaugemeinde“ eine entscheidende Bedeutung zu. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass die Dorfbewohner nicht mehr durch Blutsverwandtschaft miteinander verbunden waren, sondern aus freien Stücken zusammenlebten. Während die umliegenden Wälder, Brachland und Weiden Gemeineigentum waren, waren das Ackerland sowie selbstverständlich Haus und Garten bereits Privatbesitz der einzelnen Familien. Die Ackerbaugemeinde war also bereits ein erster Schritt der Privatisierung, der Keim zur Eigentumsform der Neuzeit war gepflanzt. Von ihr ging Marx zufolge ein wachsender Sog auf das umliegende Gemeineigentum aus, der zunächst das noch verbliebene Ackerland, dann die Wälder, Weiden und das Brachland in Privateigentum verwandelte und die ursprüngliche ökonomische und soziale Gleichheit zersetzte. Im Dualismus von kollektiven und privaten Eigentumsstrukturen, so Marx, steckte eine enorme „Lebenskraft“, und er betont, dass es von den je konkreten Bedingungen abhing, wie sich die Spannung zwischen den beiden Seiten, dem individuellen und dem öffentlichen Wirtschafts- und Lebensstil, weiterentwickelte – ob sich der genossenschaftliche oder der private Stil durchsetzte. Man sieht also: Marx hat keineswegs das Privateigentum generell verurteilt, ihm ging es immer um die Wechselwirkungen zwischen den gesellschaftlichen Errungenschaften und der Entwicklung der menschlichen Möglichkeiten.