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Die materielle Logik der Ausbeutung und die formale Gerechtigkeit
ОглавлениеIn der zu Marx’ Zeiten und auch heute noch herrschenden Wirtschaftstheorie kommt das Wort „Ausbeutung“ nicht vor. Wenn umgangssprachlich von Ausbeutung gesprochen wird, ist eine singuläre moralische Verfehlung innerhalb moralisch insgesamt unbedenklicher Verhältnisse gemeint. Ganz anders sieht |38|dies Marx: Er zeichnet eine detaillierte Anatomie der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Beginnen wir mit der logisch-materiellen Seite: Der Geldbesitzer kauft auf dem Markt die Arbeitskraft des arbeitsfähigen und arbeitswilligen Menschen und zahlt dafür ihren Wert. Dieser besteht, wie bei jeder anderen Ware auch, in der Arbeitszeit, die zur Herstellung der Arbeitskraft notwendig ist. Dazu gehört alles, was zum Lebensunterhalt des Arbeiters nötig ist: Ernährung, Kleidung, Behausung, aber auch Ausbildung, Zerstreuung etc. Eingeschlossen in den Lebensunterhalt sind dabei auch jene Zeiten beziehungsweise Kosten, welche die Sorge für die Nachkommen als Voraussetzung für die Kontinuität des Lohnarbeitsverhältnisses mit sich bringt. Schließlich sollen auch morgen und übermorgen arbeitsfähige wie -willige Kräfte zur Verfügung stehen. Sinnvoll ist dieser Einkauf der Arbeitskraft für den Geldbesitzer aber nur, wenn er am Schluss mehr einnehmen kann, als er zuvor ausgegeben hat. Dieses Ziel kann er auf zwei Wegen erreichen: Entweder er lässt den Arbeiter länger arbeiten, als für die Wiederherstellung der Arbeitskraft erforderlich ist, oder er sorgt durch technische Verbesserungen dafür, dass der Arbeiter den Gegenwert seiner Arbeitskraft in kürzerer Zeit erwirtschaftet. In beiden Fällen entsteht ein sogenannter Mehrwert: der Überschuss, der sich ergibt, wenn man vom Erlös der Waren, die der Arbeiter produziert hat, die Kosten, die dabei entstanden sind, abzieht. Zwar gehen in diese Kosten auch die Ausgaben für Rohstoffe und Maschinen mit ein, aber diese werden Marx zufolge während des Produzierens nur auf das Produkt übertragen. Werte schaffen kann allein der arbeitende Mensch, und weil der Geldbesitzer Rohstoffe, Maschinen und Arbeitskräfte rechtmäßig erworben hat, hat er auch das Recht, den gesamten Erlös der produzierten Waren, also auch den Mehrwert, als sein Eigentum zu behandeln.
Bei diesem Tauschgeschäft geht es, formal betrachtet, gerecht zu: Der Verkäufer der Arbeitskraft erhält als Gegenwert den gesamten Wert der Arbeitskraft erstattet, kann sich also nicht beschweren, und der Käufer der Arbeitskraft erhält so eine Möglichkeit der intelligenten Schatzbildung: Er kann mehr konsumieren, muss aber dabei selbst nicht mehr arbeiten. Er kann sein persönliches Arbeitspensum vielleicht sogar einschränken oder sich ganz auf das „arbeitende“ Geld verlassen. Zwar wird er über kurz oder lang von seinen Konkurrenten gezwungen, Teile des Mehrwerts wieder neu zu investieren, aber der dann neu entstehende Mehrwert ist „naturgemäß“ wieder sein Eigentum. Indem so der Geldbesitzer die Schatzbildung auf eine raffiniertere, nämlich effiziente und automatisierte Basis gestellt hat, ist er zum Kapitalisten geworden. Der Kapitalist nutzt also letztlich nur die Fähigkeit des Menschen, ein Mehrprodukt zu schaffen, zur Umwandlung dieses Mehrprodukts in einen Mehrwert, um diesen sich aneignen und akkumulieren zu können. Alles |39|scheint mit rechten Dingen zuzugehen, und doch findet nichts als Ausbeutung statt.
Für eine materialistisch-logische Analyse der Herkunft des Reichtums an Geld ist es wichtig, sich das Verhältnis zwischen dem Eigentum, jetzt in der Form des Geldes, und der menschlichen Arbeit näher anzusehen. Im Vergleich zur einfachen Warenproduktion, also der für den Markttausch bestimmten Produktion des Bauern oder des Handwerkers, hat sich in der kapitalistischen Warenproduktion etwas Entscheidendes verändert: „Ursprünglich erschien uns das Eigentumsrecht gegründet auf eigene Arbeit […] Eigentum erscheint jetzt, auf der Seite des Kapitalisten, als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf der Seite des Arbeiters, als Unmöglichkeit, sich sein eigenes Produkt anzueignen. Die Scheidung zwischen Eigentum und Arbeit wird zur notwendigen Konsequenz eines Gesetzes, das […] von ihrer Identität ausging.“ Der private Reichtum beruht also nun auf der gewaltsamen Trennung der arbeitenden Menschen von den Bedingungen ihrer Arbeit, den Werkzeugen, Maschinen, Rohstoffen, mit denen sie täglich zu tun haben. Mit jeder Generation wird diese Trennung weitervererbt und -vertieft, weil den Arbeitenden der aus ihrer Arbeit entstandene Überschuss vorenthalten wird und sie immer nur den Wert ihrer Arbeitskraft ersetzt bekommen. Dies ist die fundamentale Logik der Verwendung von Geld als Kapital. Wie sich diese Logik im Bewusstsein der Betroffenen ins Gegenteil verkehrt, soll später untersucht werden (vgl. Kapitel 5).