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Die historische Genese der Ausbeutung und die soziale Gewalt

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Wie zeigt sich die materielle Logik nun in der konkreten historischen Entwicklung? Wie kam es in Europa zu dieser Trennung von Arbeit und Eigentum, durch die millionenfach Menschen als „doppelt freie“ Personen gezwungen wurden, ihre Arbeitskraft anzubieten? Am Anfang stand die nackte Gewalt: die Vertreibung der Bauern, die Zerschlagung der Zünfte, die globale Landnahme in Übersee. Die Geburt des Kapitalismus basiert auf einer gigantischen weltweiten Enteignung von Produktionsmitteln. Allein die Opfer der weißen Landnahme in Nord- und Südamerika sind unermesslich und dürften die des Stalinismus oder des Nationalsozialismus in den Schatten stellen. Was in Schulbüchern meist beschönigend als „Zeitalter der Entdeckungen“ dargestellt wird,22 beleuchtet Marx von einer ganz anderen Seite: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära […] Der außerhalb Europas direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floss ins Mutterland |40|zurück und verwandelte sich hier in Kapital.“23All dies wurde zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert im Wesentlichen durch die zumeist absolutistischen Staaten Europas organisiert. Marx spricht von der „ursprünglichen Akkumulation“, einer Art Sündenfall in der Entwicklung des Warentausches, mit dem der Kapitalismus die Welt erobert hat. Zwar wurden in Europa die vertriebenen Bauern persönlich frei, die aus der Zunftordnung entlassenen Handwerker erhielten erstmals die Möglichkeit, selbst ein Gewerbe zu gründen, und Afrikaner und Indianer lernten die europäische Zivilisation kennen und konnten so geistig ihre Erfahrungen erweitern. Zumindest aus europäischer Perspektive muss dies als Fortschritt gewertet werden. Von nun an aber bestimmten für alle drei Gruppen von Opfern der ursprünglichen Akkumulation anstelle der traditionalen und feudalen Gewalt die Gewalt der europäischen Kaufleute, Bankiers und Fürsten ihr Leben, eine zwar zunächst ebenso personale Gewalt, die selbst aber wiederum in die Strukturen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung eingebunden war (vgl. Kapitel 4).

Diese Gewalt entscheidet nicht nur über den Lebensstandard der Menschen, also den Konsum, sondern auch über die Bedingungen des Arbeitens: den Ort, die Zeit und Dauer, die Anstrengungen und Gesundheitsgefahren, den Grad der Abwechslung, der Kreativität, die Möglichkeiten der kollegialen Kommunikation etc. Weil der Privateigentümer an den Produktionsmitteln allein über die Verwendung des Mehrwerts entscheidet, ist er es, der die Richtung der Investitionen, also der Entwicklung von Neuem festlegen kann: von neuen Techniken für die Produktion genauso wie von neuen Produkten für die Konsumtion. Die kapitalistische Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, wie Marx sie darstellt, nimmt so dem Großteil der Menschen letztlich die Möglichkeit, die Zukunft selbst zu bestimmen, und legt diese Macht in die Hände einer kleinen Minderheit.

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