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|44|Die globale Absaugung des Reichtums

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Während Marx den Mehrwert ausschließlich aus dem Lohnarbeitsverhältnis ableitet, ist für Wallerstein diese Frage nach der arbeitsrechtlichen Stellung zweitrangig. Auch die Arbeit von Sklaven und Leibeigenen auf Plantagen und in Bergwerken wird von den Kapitaleigentümern in den Zentren der Weltökonomie angeeignet, und zwar indirekt, und dies steigert den Mehrwert. Sogar die Arbeit selbstständiger Bauern und Handwerker in den Peripherien wird zur Kapitalakkumulation in den Zentren herangezogen, indem die dortigen Regierungen Steuern einführen, die zur Mehrarbeit für den Markt zwingen.25 Die Entstehungsgeschichte des kapitalistischen Weltsystems zeigt, dass die Staaten es von Anfang an als ihre Aufgabe angesehen haben, die Rahmenbedingungen für die Absaugung des Mehrwerts aus der Peripherie zu schaffen. Wallerstein betont, im Gegensatz zu Marx, dass die Durchsetzung des kapitalistischen Weltsystems keineswegs als historischer Fortschritt zu werten ist, weder moralisch noch materiell, jedenfalls für eine große Mehrheit der Weltbevölkerung.26 Welche Zukunft sieht Wallerstein für diese Weltwirtschaftsordnung? Die Kosten für ihre Aufrechterhaltung werden im Vergleich zu den Profiten immer mehr steigen, die Konkurrenz um Akkumulationschancen innerhalb des Zentrums, also zwischen Nordamerika, Europa und Japan wird sich verschärfen, wobei er die weltpolitische Hegemonialstellung der USA bereits in Auflösung sieht. Für die nächsten Jahrzehnte müssen wir, so Wallerstein, mit anarchischen Verhältnissen, mit „extremer Ungewissheit“ rechnen.27 Er prognostiziert den Zusammenbruch des kapitalistischen Weltsystems, wobei keineswegs klar ist, ob das, was danach kommt, besser, also gerechter und demokratischer, oder schlechter, also hierarchischer und autoritärer, sein wird.28 Sicher ist jedenfalls, dass, wenn heute nahezu eine Milliarde Menschen hungert und täglich zigtausend Menschen am Hunger oder an seinen unmittelbaren Folgen sterben, dies viel mit der herrschenden ökonomischen, sozialen und politischen Ordnung der Welt zu tun hat. Wären konkrete Personen für diese tägliche Katastrophe verantwortlich, so könnte man höchstens darüber streiten, ob es sich um „unterlassene Hilfeleistung“ oder, wie es Jean Ziegler, der langjährige Sonderbotschafter der UNO für das Recht auf Nahrung, immer wieder drastisch formuliert, um „Mord“ handelt.

Warum konnten sich diese Strukturen so lange halten? Für diese Frage nach der Stabilität des Kapitalismus ist vermutlich von Anfang an der Umstand besonders wichtig gewesen, dass der Staat zwar von den Interessen der Großagrarier, Großkaufleute, Großindustriellen und Großbanker sowie von der Notwendigkeit, nach innen und außen Stärke zu beweisen, angetrieben wurde, dabei aber in gewisser Hinsicht auch den materiellen Interessen der Mehrheit der Gesellschaft diente und weiterhin dient. Denn die Bewohner der Zentren werden nun, ob sie wollen oder nicht, in das globale System der |45|Ausbeutung der Peripherien integriert und profitieren davon, je nach ihrer sozialen Stellung, mehr oder weniger. Der über mehrere Jahrhunderte aus der sogenannten Dritten Welt abgepumpte Reichtum versetzte die Staaten des Zentrums in die Lage, ihren Bürgern ein relativ hohes Maß an rechtlicher und sozialer Sicherheit zu gewähren. Dies ist vermutlich der zentrale Grund dafür, dass – anders als Marx dies erwartet hatte – es bisher zu keiner flächendeckenden Verelendung in den hoch entwickelten Zentren gekommen ist. Im Gegenteil: Die Lohnabhängigen nahmen am Wohlstandszuwachs der Zentren teil und wurden auch in den Staat immer besser integriert. In Deutschland begann dies bekanntlich unter Bismarck und führte über die Burgfriedenspolitik während des Ersten Weltkriegs zur tragenden Rolle von Gewerkschaften und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. Wer die Erfahrung macht, dass es ihm von Jahr zu Jahr materiell besser geht, der kann relativ leicht über die Schattenseiten des Gesamtsystems, wenn sie ihm denn bewusst werden sollten, hinwegsehen: dass nämlich eine kleine Minderheit sich auf seine Kosten maßlos bereichert und dass sein materieller Aufstieg auf Kosten anderer geht, die in den Peripherien der Welt den Wohlstand in den Zentren weitestgehend bezahlen, indem sie in Bergwerken, Plantagen und Manufakturen die materiellen Grundlagen für den Reichtum der Zentren bereitstellen und dafür ein Zehntel oder ein Hundertstel dessen verdienen, was in den Zentren verdient wird. Einst galt in den Zentren die sozialrevolutionäre Parole, der Arbeiter habe nichts zu verlieren als seine Ketten. Jetzt heißt es: Es stehe auch sein Tariflohn, sein Urlaubs- und Rentenanspruch, sein Reihenhaus zur Disposition.

Andererseits stehen die Staaten des Zentrums in einem ständigen Wettbewerb als Wirtschaftsstandorte und sehen sich deshalb gezwungen, auch die Ausgaben für den Rechts- und Sozialstaat mehr oder weniger zu begrenzen. Die Konsequenz daraus ist, dass auch in den reichsten Gesellschaften der Welt zig Millionen Menschen in Armut leben – und es werden vermutlich immer mehr. Auf lange Sicht könnten Löhne und soziale Sicherungssysteme der Zentren sich denen der Peripherien annähern und sich auf einen Weltdurchschnitt einpendeln. Denn der Wert der Ware Arbeitskraft, das ist eines der zentralen Erkenntnisse im „Kapital“, bemisst sich nach den durchschnittlichen Reproduktionskosten, und mit fortschreitender Internationalisierung des Arbeitsmarktes verschiebt sich die Bezugsgröße dieses Durchschnitts immer weiter vom Zentrum weg, hinaus in die Peripherie. Insgesamt aber hat die aus der Entwicklungslogik des Kapitalismus folgende Ausdehnung des Ausbeutungssystems und der Aufbau einer Zentrum-Peripherie-Struktur bisher zu einer gewissen Befriedung der Gesellschaften des Zentrums und so zur Stabilisierung des Kapitalismus geführt. Das System hat gewissermaßen durch seine fortwährende Ausdehnung umfangreiche Stützbalken bekommen – die sich freilich als nicht ganz billig erweisen werden (vgl. Kapitel 9).

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