Читать книгу Die Raben Kastiliens - Gabriele Ketterl - Страница 12
2.
ОглавлениеUnruhig ließ Nunzio seinen Blick über die Stadt schweifen, die dort im Schein der Morgensonne vor ihm lag. Die Stille war trügerisch. Im Augenblick war es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Natürlich wusste er, wie er eigentlich hätte handeln sollen. Eigentlich! Denn er gedachte durchaus nicht seinem, sich zaghaft zu Wort meldendem, Gewissen zu folgen.
Wie lange hatte er alle Last auf sich genommen, um endlich hier zu stehen? Es durfte keinesfalls alles vergebens gewesen sein. Nein, zu hart war sein Weg gewesen, um nun das Falsche zu tun.
Das Falsche? Schade, dass man seine Gedanken nicht einfach abzustellen vermochte, doch auch das würde er noch meistern. Ein zaghaftes Klopfen riss Nunzio aus seiner Nachdenklichkeit.
»Ja? Wer ist denn da?«
»Eminenz, ich bin es, darf ich eintreten?«
»Komm herein, ich habe schon auf dich gewartet.« Nunzio straffte seine Schultern und sah seinem Adlatus mit strengem Blick entgegen. »Du weißt, dass ich es nicht schätze, wenn andere meine Zeit vertändeln.«
Isaias Blick ließ deutlich erkennen, was er von den Worten seines Herrn hielt, doch er zog es vor zu schweigen. Weder hatte ihn Nunzio rufen lassen, noch war er in irgendeiner Weise zu spät. Folglich war er sich keiner Schuld bewusst. Daher verbeugte er sich vor Nunzio und nuschelte eine kaum hörbare Entschuldigung.
»Schon gut, sag mir lieber, was die ausgesandten Boten zu berichten hatten.« Nunzios Nervosität ließ sich kaum verbergen.
»Herr, die Krankheit hat sich ausgebreitet. Derzeit sind bereits drei Stadtviertel betroffen.«
»Welche sind das?«
»Die drei hinter den östlichen Toren, Herr. Das Viertel der Handwerker ist leider seit letzter Nacht auch mit der Krankheit geschlagen.«
Nunzio atmete tief ein. Das war höchst ärgerlich. Die Handwerker wurden gebraucht. Dringend! »Wie viele sind dort schon erkrankt?«
»Nur Carlos, der alte Tischler. Er war in den Hütten im Armenviertel unterwegs und hat Nahrung und irgendwelche Heilmittel verteilt. Dabei muss er sich wohl angesteckt haben.«
»Sind das alle, kein anderer?«
»Nein, Eminenz, nicht, soweit ich weiß.« Isaias Blick ruhte fragend auf seinem Herrn.
Doch der trat schweigend ans Fenster und schien ihn kurzfristig vergessen zu haben. »Isaia, wer ist das da unten?«
Isaia eilte an seine Seite und folgte dem ausgestreckten Zeigefinger. Nunzio zeigte auf eine junge Frau, die, ihr Kind in einem Tuch vor dem Körper tragend, verzweifelt gestikulierend vor der Wache im Innenhof stand. Er kniff die Augen zusammen, um die Frau gegen die aufsteigende Sonne erkennen zu können.
»Oh, das ist die Tochter des Schmiedes, mit ihrem kleinen Jungen. Ich habe sie vorhin gesehen, als ich über den Hof lief. Soweit ich gehört habe, bat sie um Medizin für die Kranken und darum, Ärzte zu ihnen zu schicken.«
»Was in aller Welt tut die Frau hier im Hof? Wer hat sie hereingelassen? Werft sie hinaus! Sofort! Ist euch Dummköpfen denn nicht bewusst, dass sie die Krankheit in sich tragen kann? Schick sie weg. Los, geh schon!«
»Eminenz? Sie bittet doch nur um Hilfe. Können wir ihr denn nicht ein paar Mittel aus unserem Arzneivorrat mitgeben?« Isaia klang fassungslos, auch wenn es so schien, als versuche er seine Gefühle vor Nunzio zu verbergen.
»Nein, das können wir nicht. In jeder Sekunde, die sie hier verbringt, kann allein ihr Atem den Tod bringen. Du gehorchst jetzt sofort und sorgst dafür, dass sie dieses Haus verlässt.« Ohne Isaia eines Blickes zu würdigen drehte Nunzio sich um und schickte sich an, den Raum zu verlassen. An der Tür angelangt, wandte er sich Isaia noch einmal kurz zu. »Und wenn du sowieso unten bist, dann schick mir Adolfo. Er soll sich beeilen.«
Isaia verbeugte sich tief. Er schien Nunzio gut genug zu kennen, um zu wissen, dass es nicht erstrebenswert war, ihn zu verärgern. Mit mürrischem Gesicht trollte sich Isaia in den Innenhof.
Die junge Frau war ausgerechnet auf Adolfo getroffen und versuchte noch immer, den Hauptmann der bischöflichen Wache zu überzeugen, dass die Menschen in der Stadt Hilfe brauchten.
»Adolfo, wir kennen uns seit Kindertagen. Was ist denn nur mit dir geschehen? Ich bitte dich nicht um Gold oder Silber, sondern nur um Heilmittel für die Menschen. Ein wenig Nahrung, damit sie bei Kräften bleiben und sich gegen die Krankheit wehren können.« Ihre sanften braunen Augen ruhten fragend auf dem hochgewachsenen Mann.
»Lass es gut sein, Sarah. Ich habe meine Anweisungen und denen leiste ich Folge. Es ist besser, du gehst jetzt.« Adolfo konnte der einstigen Freundin offenbar nicht in die Augen blicken, denn er sah stur über ihren Kopf hinweg.
Sarah schüttelte traurig den Kopf. »Du enttäuschst mich fürchterlich. Ich hatte ein wenig mehr Menschlichkeit von dir erwartet, von allen hier. Gerade hier!«
Noch ehe Adolfo zu Wort kommen konnte, tippte Isaia ihm auf die Schulter. »Du sollst zu seiner Eminenz kommen, jetzt gleich. Ich kümmere mich darum.«
»Ja, tu das!« Adolfo lief mit solch schnellen Schritten über den Hof, dass ein Blinder hätte erkennen können, wie froh er war, dieser Situation entronnen zu sein.
Isaia war nicht weniger unglücklich, aber Order war Order. »Sarah, ich kann dir auch nichts anderes sagen. Es tut mir aufrichtig leid, aber ich darf dir nicht helfen.«
Sarah seufzte leise und traurig. »Du kannst nicht oder du willst nicht?«
»Ich kann nicht. Klare Anweisung des Bischofs. Es tut mir ehrlich leid. Ich habe versucht, ihn umzustimmen. Er will nicht, dass Menschen, die schon erkrankt sein könnten, hier um Medizin betteln.«
»Das werden sie auch, wenn niemand hilft und alle nur zusehen.« Aus der Stimme der jungen Frau klang Verzweiflung. »Kaum einer arbeitet mehr, sei es, dass er krank ist oder sich aus Furcht vor Ansteckung nicht mehr aus dem Haus wagt. Es gibt fast keine Nahrungsmittel mehr in unserem Viertel. Sag mir, wie wir überleben sollen.«
»Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Ich muss dich jetzt, so sehr ich es bedaure, bitten zu gehen.« Isaia fühlte sich nicht wohl in seiner Haut.
Sarah sah noch einmal hinauf zu den Fenstern in den oberen Räumen. Isaia folgte ihrem Blick und bemerkte die dunkle Gestalt, die sich hastig in den Schatten zurückzog. »Sag deinem heiligen Mann dort oben, dass er die Menschen ebenso gut eigenhändig töten könnte. Sein Handeln ist alles andere als christlich!«
»Sarah, ich denke, es ist jetzt wirklich besser, du gehst. Du weißt doch, dass die Wände hier Ohren haben. Bitte, geh. Ich hoffe, du schaffst es, und der Kleine auch.« Isaia wich Sarahs Blick aus und zeigte halbherzig auf das Tor, das nur noch zur Hälfte geöffnet war.
Wie auf Kommando begann in diesem Augenblick das Kind in Sarahs Armen zu weinen. Sie wandte sich um, weg von Isaia, weg von den Menschen hier, die jede Hilfe verweigerten und damit so viele zu einem grausamen Tod verurteilten.
Mit müden Schritten schlurfte Sarah zum Tor, das direkt hinter ihr mit lautem Krachen geschlossen wurde.
Das Weinen ihres kleinen Sohnes wurde lauter und als sie ihm im Gehen zärtlich über das Köpfchen streichelte, fühlte sie zu ihrem Entsetzen, dass Juanitos kleiner Körper im Fieber brannte.