Читать книгу Die Raben Kastiliens - Gabriele Ketterl - Страница 16
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ОглавлениеEs war Mitternacht geworden und ein herrlicher Sternenhimmel wölbte sich über Toledo. Benito blickte zum Firmament und konnte es doch nicht erkennen. Seine Augen, durch die Arbeit in der Schmiede sowieso nicht mehr die besten, waren jetzt auch noch blind von Tränen. Dort, in der kleinen Hütte hinter ihm, kämpfte sein kleiner Enkel um sein Leben. Warum? Jahrzehntelang hatte er geschuftet, um Frau und Kind ein schönes Leben zu ermöglichen. Er war so glücklich gewesen, als Sarah sich in Angel verliebt hatte, auch wenn der nicht gerade den besten Ruf genoss. Doch Benito hatte schon immer gewusst, dass in dem verrückten, wilden Kerl ein liebevoller Ehemann und Vater steckte. Er hatte Recht behalten! Angel hatte seine Tochter vom ersten Tag an auf Händen getragen und er betete seinen kleinen Sohn geradezu an. Was würde er sagen, wenn er nun zurückkam? Benito war verzweifelt, denn er ahnte, dass es Angels Herz brechen würde. Doch was konnten sie tun, was, außer zu beten? Sarah hatte ihm erzählt, wie sie heute am Morgen aus dem Sitz des Bischofs geworfen worden war. Man hatte sich glatt geweigert, ihr zu helfen. Um der Wahrheit Genüge zu tun, hätte es Sarah und ihrem Kind wahrscheinlich auch nicht mehr geholfen, doch allein die Tatsache, dass man Hilfesuchende so rüde abwies, verstörte ihn. Es passte nicht zu dem gütigen Gott, an den er aus tiefstem Herzen glaubte.
»Papa? Warum gehst du nicht schlafen? Ich will nicht, dass du auch noch krank wirst.« Leise war Sarah neben ihren Vater getreten.
Benito seufzte tief. »Hab keine Angst. Ich glaube, ich habe so viel mit Feuer gearbeitet und meinen Körper so viel Hitze ausgesetzt, dass die Krankheit mich meidet. Und für den Rest sorgt deine Mutter mit ihren Essigwaschungen und Essigtüchern. Ab und an rieche ich schon überall Essig. Aber sie scheint – wie immer – das Richtige zu tun. Weder sie noch ich haben uns je angesteckt, obwohl wir oft bei Kranken sind.«
»Und ich dumme Gans nehme ihre Warnung nicht ernst und töte wahrscheinlich mein Kind und auch mich. Gut so. Wenn Juanito stirbt, will ich auch nicht mehr leben.«
Hilflos hielt der alte Mann seine leise weinende Tochter in den Armen. Welchen Trost hätte er ihr spenden sollen? Ihm fiel nichts ein.
Estella kam zu ihnen. »Juanito schläft. Er ist sehr schwach, wollte auch nichts trinken. Ich habe ihn dazu gebracht, zumindest etwas Wasser zu sich zu nehmen. Sarah, ich bin hilflos. Versuch zu schlafen, ein wenig an Kraft zu gewinnen, trink, so viel du kannst. Dein Körper braucht Flüssigkeit. Wir werden jetzt nach Hause gehen und uns auch ein wenig ausruhen. Morgen kommen wir wieder und werden sehen, was wir tun können.«
Estella hatte den Satz gerade beendet, als ein Trupp Soldaten im Gleichschritt an ihnen vorbei zum östlichen Stadttor eilte. Sie gingen sehr leise, fast so, als solle man sie nicht hören. Wollten sie die Kranken nicht stören oder nur möglichst rasch aus der Gegend fortkommen, in der die Pest wütete? Benito war sich sicher, dass es Letzteres war, das sie zu solch stillschweigender Eile antrieb.
»Wohin wollen denn unsere Stadttruppen? Jetzt, mitten in der Nacht?«
Benito zuckte müde mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist es die mitternächtliche Ablösung. Ich weiß es nicht, es ist mir auch egal. Lass uns gehen. Umso schneller sind wir morgen zurück.« Er wandte sich seiner in sich zusammengesunkenen Tochter zu. »Nun komm schon, Kind. Was geschehen ist, können wir nicht ändern. Wir können aber noch immer auf ein Wunder hoffen. Bete, meine Kleine, bete.« Der alte Schmied nahm das Gesicht seiner Tochter in beide Hände, fühlte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn und spürte die Verzweiflung in sich aufsteigen. Es kostete ihn große Anstrengung, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. »Mut, meine Kleine! Du warst doch immer meine starke Tochter. Sei es auch jetzt!«
Sarah nickte unter Tränen. »Ich verspreche es dir, Vater. Du sollst dich nicht für mich schämen müssen.«
»Als ob ich das jemals getan hätte.« Ein letztes Mal strich Benito Sarah über die Wange, dann wandte er sich ab und nahm sein Bündel auf.
Estella hatte ihren Korb über den Arm gehängt und umarmte ihre Tochter liebevoll. »Passt gut auf euch auf. Wir kommen so schnell wie möglich zurück.«
Sie folgte Benito mit müden Schritten und als beide sich noch einmal umwandten, sahen sie ihre Tochter dort im Mondlicht vor den kleinen Häuschen stehen und ihnen nachwinken. Die Ahnung, ihr Kind nie wiederzusehen, überfiel sie wie eine Flutwelle. Eilig versuchten sie dieses grässliche Gefühl zu verscheuen, doch es wollte ihnen nicht gelingen.