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In unserer Krippe liegt ein Rabenkind
ОглавлениеMenschwerdung in Europa. Wer fordert von uns
und gibt uns, was nicht zu kaufen ist?
Georg Sporschill
Die Raben brachten ihm Brot und Fleisch am Morgen
und ebenso Brot und Fleisch am Abend.
1 KÖNIGE 17,6
Das ärgste Schimpfwort für die Roma-Bevölkerung in Rumänien ist cioara, es bedeutet so viel wie Krähen oder Raben. Kinder ärgern sich gegenseitig, wenn sie mit den Armen wippen und den Flügelschlag des Raben nachahmen. So zeigen sie dem anderen: Du bist ein Kind von Rabeneltern, du bist ein Zigeuner.
Den Raben wird oft Unrecht getan, vor allem ihren Eltern. »Wer bereitet dem Raben seine Nahrung, wenn seine Jungen zu Gott schreien und umherirren ohne Futter?« (Ijob 38,41).
Seit Luther diesen Text aus dem Alten Testament interpretierte, spricht man abwertend von Rabeneltern und Rabenmüttern. Biologen beobachten allerdings das Gegenteil, wenn junge Raben das Nest verlassen und unbeholfen erste Schritte versuchen. Ihre Eltern füttern die hungrigen Jungen wochenlang und schützen sie, bis sie fliegen können.
Die Bibel adelt die Raben geradezu, weil sie einem Flüchtling zu überleben helfen. Als sich der Prophet Elijah vor dem ungerechten König in der Wüste verstecken musste, »brachten Raben ihm Brot und Fleisch am Morgen und ebenso Brot und Fleisch am Abend«. Auf rumänischen Ikonen wird der Prophet Elijah deshalb oft mit dem lebensrettenden Raben dargestellt. Und wir haben ihn als Symbol für unseren neuen Verein Elijah gewählt, weil wir das Zusammenleben mit der Roma-Bevölkerung suchen.
In Ziegental/Tichindeal, das meine Gemeinde geworden ist, gibt es in der vierklassigen Volksschule nur noch Roma-Kinder. Die anderen Rumänen sind alt oder weggezogen. Die Roma-Familien mit ihren vielen Kindern leben in bitterer Armut und Verwahrlosung. Die vierzehnjährige Victoria schaut mich mit ihren funkelnden schwarzen Augen an und fragt, ob sie in der Bäckerei mithelfen dürfe, um für zu Hause Brot zu bekommen. Wenn sie Arbeit bekäme, könnte sie dem üblichen Schicksal entkommen: dass sie an einen älteren Mann vergeben werden muss. Eltern und Kinder kämpfen Seite an Seite ums Überleben. Wenn sie helfen dürfen, sind sie froh. Tagsüber kommen viele Kinder in unser Haus mit dem großen hellen Raum, wo es warm ist. Ein Brot mit Käse macht sie glücklich. Und dann ist Musikstunde, es wird getrommelt, getanzt und im Chor gesungen.
Unter den fröhlichen Kindern denke ich oft an die einfache Rechnung, die Viktor Frankl aufstellte: Wir geben ihnen Brot, sie geben uns Sinn. Kein schlechtes Geschäft. Mir geht es wie einer jungen Volontärin, die nach einem Jahreseinsatz sagte: »Ich bin gekommen, um zu helfen. Viel mehr aber wurde mir geholfen.« Sie weiß jetzt, wie gut es ihr geht, wie reich sie ist und dass sie die Kraft hat, Leben zu retten. Ihr neues Selbstbewusstsein verdankt sie den Rabenkindern.
Die Rabenkinder fordern, aber viel mehr noch schenken sie, was wir nicht kaufen können. Einen Frieden, den die Welt nicht geben kann. In unserer Krippe liegt in diesem Jahr ein Rabenkind, mit dem wir leben lernen müssen. Es hilft uns in Europa, Mensch zu werden.