Читать книгу Elijah & seine Raben - Georg Sporschill - Страница 11

Von der kreativen Kraft des Selbstzweifels

Оглавление

Welche Brüche meiner Biografie stellen meine Identität

infrage? Welche Kräfte können sie freisetzen?

Dominik Markl

Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war,

um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen …

JOHANNES 13,1

Charlie Chaplin, die wohl strahlendste Ikone des Humors im 20. Jahrhundert, erlebte eine Kindheit voller Traumata. Sein Vater war Alkoholiker und vernachlässigte die Kinder. Die alleinerziehende Mutter Hannah war so mittellos, dass Chaplin mit sieben Jahren in einem Londoner Workhouse arbeiten musste. Er wurde von seiner Mutter getrennt, kam in ein Waisenhaus, wurde misshandelt. Mit neun Jahren musste er erleben, wie Hannah erstmals eine Psychose erlitt, wohl verursacht durch schlechte Ernährung und Syphilis. Mit zwölf verlor Charlie seinen Vater; für Monate fühlte er sich vor Trauer unfähig zu atmen. Mit vierzehn musste er Hannah endgültig ins Irrenhaus bringen und ihr Schicksal akzeptieren. Inmitten dieses Desasters von Armut und Schicksalsschlägen entwickelte Chaplin sein Talent und seinen festen Willen, Komödiant zu werden. Als Achtzehnjähriger erlebte er seine ersten größeren Bühnenerfolge in London, sechs Jahre später folgte sein Filmdebüt in Los Angeles. Während des Ersten Weltkrieges brachte er die Welt als »The Tramp« zum Lachen, während des Zweiten Weltkriegs verhöhnte er in The Great Dictator Hitler als Adenoid Hynkel und Mussolini als Benzino Napaloni. Wie konnte ein in seiner Kindheit zutiefst traumatisierter Mensch zum Inbegriff intelligenten Humors und in Krisenzeiten der Aufheiterung der Menschheit werden?

Wenn man der Biografie des Filmkritikers John McCabe Glauben schenken darf, erinnerte sich Chaplin an eine Kindheitsszene von symbolischer Bedeutung. Mutter Hannah, von der Chaplin als überaus feiner und gebildeter Frau sprach, habe dem kranken Kind aus den Evangelien vorgelesen. Jesu Ausruf am Kreuz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!« erklärte sie als Ausdruck seiner Menschlichkeit, da selbst er Zweifel gehabt habe – worauf Hannah und Charlie gemeinsam weinten. Was an diesem Tod so bewegend ist − die dramatische Spannung zwischen Todesangst und vollkommener Hingabe –, fasst der Evangelist Johannes in einem einzigen Vers zusammen. »Als Jesus wusste, dass seine Stunde gekommen war« − kein selbstsicheres und bequemes Wissen, sondern voller kaltem Schweiß der Todesangst –, »liebte er die Seinen bis zur Vollendung.« Die totale Infragestellung seines menschlichen Lebens befähigt Jesus zur absoluten Liebe. Transformierte Selbstzweifel finden sich in den Berufungsgeschichten aller biblischen Propheten. Mose, der behauptet, nicht reden zu können, wird zum größten Redner der Bibel. Jeremia hält sich für zu jung, als Gott ihn zum Propheten für die Nationen erklärt.

Selbstzweifel finden sich in den Biografien aller Genies. Chaplin hielt sich zwar für den größten Schauspieler der Welt, war aber letztlich von fehlender Selbstsicherheit und daraus resultierendem Perfektionismus getrieben. Erst an seinem siebzigsten Geburtstag war er zum Gedicht Als ich mich selbst zu lieben begann fähig – ein Ausdruck seiner Versöhnung mit dem eigenen Leben. Welche Brüche meiner Biografie stellen meine Identität infrage? Welche kreativen Kräfte können sie freisetzen?

Elijah & seine Raben

Подняться наверх