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Das Ende der Gegenreformation

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Als Papst Pius IX. 1878 starb, glaubten viele europäische Staatsmänner und Intellektuelle, das Papsttum – und damit auch die katholische Kirche – sei am Ende seiner Möglichkeiten, um die Geschicke des Menschen zu beeinflussen. Nach dem Verlust des Kirchenstaats war der Papst »Gefangener im Vatikan«. Die rasch wachsende Arbeiterklasse eines zunehmend industrialisierten Europas trat in Scharen aus der Kirche aus, und die Säkularisierung der europäischen Hochkultur schritt immer schneller voran und führte nicht selten zu einer geradezu feindseligen Haltung gegenüber der biblischen Religion.3 Und obwohl viele Pius IX. (den ersten Papst, der eine Art Personenkult auslöste) als einen bewundernswerten Menschen in Erinnerung behielten, der von seinen Zeitgenossen schmählich geschmäht worden war, lastete das Bild des »Pio No-No« schwer auf der Kirche, denn er war eben auch der Papst, der seiner Epoche ein schallendes »Nein« entgegengerufen hatte, als er 1864 in seinem Syllabus Errorum (»Verzeichnis der Irrtümer«) die Vorstellung verurteilte, der römische Papst könne und müsse »sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der heutigen Zivilisation versöhnen und vereinigen«. Bei seinem Tod wies in der »Großwetterlage« nur wenig darauf hin, dass der Katholizismus noch einmal imstande sein würde, sich von den Schlägen zu erholen, die er hatte einstecken müssen, seit die Französische Revolution mit ihren kulturellen und politischen Folgen die alten europäischen Regime gestürzt, die traditionellen Autoritätsvorstellungen zerschlagen und das Band zwischen Kirche und Staat, das seit den Zeiten des römischen Kaisers Konstantin für zentrale Aspekte des katholischen Lebens prägend gewesen war, zerschnitten hatte.

Angesichts der antiklerikalen Stoßrichtung des Risorgimento (der Gründung des Nationalstaates in Italien im 19. Jahrhundert) waren die Kardinäle, die in Rom zusammenkamen, um Pius’ Nachfolger zu wählen, nicht einmal sicher, dass sie dies ohne Gefahr für Leib und Leben würden tun können. Der englische Kardinal Henry Edward Manning schlug sogar vor, man solle das Konklave des Jahres 1878 auf Malta – unter dem Schutz der Kanonen der Royal Navy – abhalten.4 Die Kardinäle entschlossen sich letztlich, doch in Rom zu bleiben, aber sie dachten vermutlich, sie hätten mit dem 68-jährigen Vincenzo Gioacchino Pecci lediglich einen Platzhalter gewählt. In Wirklichkeit läutete diese Wahl das Ende des gegenreformatorischen Katholizismus ein und setzte einen Prozess in Gang, der auch heute, im 21. Jahrhundert, noch nicht abgeschlossen ist.

Das Pontifikat Leos XIII. war das längste seit Beginn der zuverlässigen historischen Aufzeichnungen. Im Laufe dieser Amtszeit, die mehr als ein Vierteljahrhundert währte, arbeitete er unbeirrbar, stetig und beharrlich daran, die Voraussetzungen für eine neuartige katholische Auseinandersetzung mit dem kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Moderne zu schaffen. Dadurch, dass er eine gründliche Beschäftigung mit den Originaltexten Thomas von Aquins anordnete, die so zur Grundlage eines spezifisch katholischen Umgangs mit der Moderne wurden, reformierte er das philosophische und theologische Denken der Kirche.5 Er war der päpstliche Vater der modernen katholischen Bibelwissenschaft, die er für notwendig hielt, um dem zu begegnen, was die Herausforderung der historisch-kritischen Lesart antiker Texte womöglich an zersetzenden Einflüssen mit sich bringen würde.6 Mit seinen Bemühungen, das zu unterscheiden, was im Leben der Kirche wirklich von Dauer und was vergänglich ist, förderte er die ernsthafte historische Wissenschaft.7 Außerdem begünstigte er, gestützt auf die Ideen von Männern wie dem Deutschen Wilhelm Emmanuel von Ketteler und dem britischen Kardinal Manning, eine neue katholische Begegnung mit dem politischen und wirtschaftlichen Leben und legte 1891 mit der Enzyklika Rerum Novarum den Grundstein zu einer modernen katholischen Soziallehre; schon der Titel weist darauf hin, dass es darin um die »neuen Dinge« der Moderne geht und sich seit der rundweg ablehnenden, antimodernen Haltung Pius’ IX. (die Leo als eine Folge der besonderen Situation und Persönlichkeit seines Vorgängers gedeutet hatte) eine entscheidende Wende vollzogen hatte.8Seine stillschweigende Billigung der Art und Weise, wie das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in der amerikanischen Verfassung geregelt worden war, setzte einen Prozess in Gang, der dazu führte, dass die katholische Kirche die Religionsfreiheit auf dem II. Vaticanum als grundlegendes Menschenrecht anerkannte. Und das wiederum war die Voraussetzung dafür, dass Johannes Paul II. – der Mann, der das bisher längste Pontifikat Leos XIII. übertraf – die Geschichte des 20. Jahrhunderts veränderte.9

Das Grabmal von Leo XIII. in der römischen Basilika St. Johannes im Lateran wird seiner epischen Leistung in angemessener Weise gerecht. Das Marmorbildnis zeigt den verstorbenen Pontifex nicht liegend, sondern aufrecht stehend und in Schrittstellung, den rechten Arm ausgestreckt, als wolle er die Welt zu einem ernsthaften Gespräch über die Aussichten der Menschheit einladen – und die Kirche aus der Vergangenheit heraus in eine neue, hoffnungsfrohe und evangelikale Zukunft führen.

Aus dieser leoninischen Perspektive lässt sich die katholische Geschichte nach dem II. Vaticanum schärfer ins Auge fassen als über die Einteilung in ein »progressives« und ein »konservatives« Lager, die noch vor Ablauf des Konzils gleichsam in Beton gegossen worden ist. Es trifft sicherlich zu, dass in den 59 Jahren zwischen Leos Tod 1903 und der Eröffnung des II. Vaticanums 1962 unterschiedliche Kräfte innerhalb der Kirche darum rangen, den zukünftigen Kurs zu bestimmen; einige dieser Kräfte wollten die bröckelnden Wälle des gegenreformatorischen Katholizismus abstützen, während andere dem leoninischen Erneuerungsvorstoß grundsätzlich wohlwollend gegenüberstanden. Doch wer versteht, wie große Teile der auf dem II. Vaticanum formulierten Lehre durch das bahnbrechende Pontifikat Leos XIII. überhaupt erst möglich geworden waren, der ist imstande, unter die Oberfläche der Wirrungen und Streitereien der heutigen katholischen Geschichte zu blicken. Und auf dieser tieferen Wahrnehmungsebene wird deutlich, dass sich die Ereignisse während des II. Vaticanums und in der Folgezeit, als die Kirche sich bemühte, die Konzilslehre getreulich umzusetzen, nicht auf einen kirchlichen Machtkampf zwischen einem linken und einem rechten Flügel reduzieren lassen. Es war mehr im Gange und es stand mehr auf dem Spiel – viel mehr.

Wer die tieferen Strömungen im Katholizismus des ausgehenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts auf Leo XIII., den letzten Papst des 19. und ersten Papst des 20. Jahrhunderts, zurückführt, wird auch das II. Vaticanum und alles, was seither geschehen ist, richtig und von Grund auf verstehen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat den Prozess, der mit Leos Reformen einsetzte und beabsichtigte, dass der Katholizismus über seine gegenreformatorische Prägung hinauswachsen sollte, auf einen dramatischen Höhepunkt geführt. Die Pontifikate Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. haben eine amtliche Auslegung des II. Vaticanums vorgelegt und es als ein Konzil der Reform durch Wiederherstellung, Erneuerung und Entwicklung interpretiert, das während der Gegenreformation verloren gegangene, vergessene oder vernachlässigte Elemente des kirchlichen Lebens wieder neu zur Geltung gebracht und in den Dienst der evangelikalen Erneuerung gestellt hat. Dieser durch die Lehre Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. geschaffene Deutungsrahmen wiederum hat zwei unangemessenen Lesarten des II. Vaticanums ein Ende bereitet: der (typischerweise im progressiven Lager verbreiteten) Vorstellung, das Konzil habe mit der Vergangenheit gebrochen, und der (von den Traditionalisten bevorzugten) Vorstellung, das Konzil sei ein Zugeständnis an die Moderne und schon allein deshalb ein furchtbarer Fehler gewesen.

Bei alledem war, wie schon gesagt, etwas sehr viel Weitreichenderes im Gange, als es die Verzerrungen durch die progressiv-konservative Brille ahnen lassen. Dieses Etwas war nicht weniger als das Ende eines Zeitalters – der Ära des gegenreformatorischen Katholizismus – und der Beginn einer neuen Etappe in der katholischen Geschichte: der Ära des evangelikalen Katholizismus.

Die Kirche der Gegenreformation, die darauf bedacht war, den Katholizismus durch einfache, geradlinige Katechese und fromme Andachtsübung zu erhalten, mag in der Zeit zwischen der Spaltung der abendländischen Christenheit Mitte des 16. Jahrhunderts und dem kulturellen Triumph der Moderne im Laufe des 19. Jahrhunderts durchaus ihre Berechtigung gehabt haben. Der gegenreformatorische Katholizismus hat durch die Reform des Priestertums und des Ordenslebens unzählige Heilige hervorgebracht. Er hat die Neue Welt evangelisiert, große Missionare wie Franz Xaver nach Indien, Japan und China und Peter Chanel nach Ozeanien entsandt und Charles Martial Lavigerie zur Gründung der Weißen Väter, der Missionare Afrikas, inspiriert. Er hat das katholische Leben in Großbritannien bis zu einem gewissen Grad wiederaufgebaut, die Französische Revolution überlebt, Bismarcks antikatholischem Kulturkampf die Stirn geboten und der antiklerikalen Verfolgung in Mexiko standgehalten. Der Katholizismus der Gegenreformation hat die Kirche in einer bis dato beispiellosen Situation der Religionsfreiheit gegen den Widerstand bigotter Protestanten und deistischer Skeptiker in den neuen Vereinigten Staaten etabliert. Er hat den ganzen Reichtum der marianischen Volksfrömmigkeit hervorgebracht. Und vor allem war es der gegenreformatorische Katholizismus, der der kommunistischen Verfolgung – der schlimmsten Verfolgung der Kirchengeschichte – Widerstand geleistet hat.

Andererseits war diese Form des Katholizismus nicht geeignet, sich der Herausforderung der Moderne zu stellen, denn das verlangte von den Katholiken mehr, als (auf amerikanische Verhältnisse bezogen) den Baltimore-Katechismus auswendig zu lernen und die Wundertätige Medaille zu tragen. Das wusste der Brite John Henry Newman schon Mitte des 19. Jahrhunderts, und er wusste auch, dass der »Liberalismus« in der Religion, wie er es abschätzig nannte – Religion als ein bloßes Gefühl –, keine angemessene Antwort auf die Herausforderung der Moderne war.10 Und Leo XIII. wusste es schon, als er noch Nuntius in Belgien und Diözesanbischof in Perugia war, und setzte dann als Bischof von Rom jenen Prozess in Gang, der zur Ablösung des gegenreformatorischen Katholizismus führen sollte.

Der Katholizismus der Gegenreformation brachte katholische Kulturen (oder Mikrokulturen) hervor, die den Glauben geradezu osmotisch weitergaben. Doch unter den Säureangriffen der Moderne stürzten diese katholischen Mikrokulturen – insbesondere in den turbulenten 1960er-Jahren – in sich zusammen: in den städtisch-ethnischen Zentren des US-amerikanischen Katholizismus, in Quebec, in Irland, in Spanien, in Portugal, in den Niederlanden, in Bayern, in Frankreich und de facto in der gesamten nordatlantischen katholischen Welt. Gleichzeitig gab es gewisse Hinweise auf eine mögliche und nötige Alternative zum gegenreformatorischen Modell, nämlich einen zutiefst biblischen und sakramentalen Katholizismus, der in Afrika gewaltigen Zulauf fand. Doch noch hat sich diese evangelikale Alternative zum Katholizismus der Gegenreformation in der abendländischen Kirche nicht vollends ausgeprägt, obwohl das gegenreformatorische Modell – aus kulturellen Gründen, die inzwischen klar geworden sein dürften – bereits auf Grund gelaufen und zerschellt ist.

In seinen 2011 erschienenen intellektuellen Memoiren Adventures of an Accidental Sociologist hat Peter L. Berger aus seinem lebenslangen Nachdenken über die Beziehung zwischen Religion und Moderne Folgendes herausdestilliert: Der Pluralisierungsprozess der Moderne bringt die traditionellen Kulturen zum Einsturz. Die Bedingungen der Moderne (die Urbanisierung, die Märkte, die allgemeine Schulpflicht, die postabsolutistische Politik, das herrschende naturwissenschaftliche Paradigma) führen unweigerlich dazu, dass konkurrierende Deutungen der Welt und der menschlichen Bestimmung aufkommen. Wie Berger schreibt: »Die Moderne […] relativiert alles, auch die religiösen Weltanschauungen und Wertesysteme. Diese Relativierung ist für die Moderne wesentlich und beinahe unvermeidlich. Sie ist eine echte Herausforderung für alle religiösen Traditionen und ihre Wahrheitsansprüche.«11 Unter solchen Bedingungen geschieht es nicht und kann es nicht geschehen, dass religiöse Gewissheit auf dem Weg der Osmose durch die umgebende Kultur (oder Mikrokultur) vermittelt wird. Religiöser Glaube, Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und eine religiös geprägte Moral können nicht länger als selbstverständlich vorausgesetzt werden.

Der progressive Katholizismus akzeptiert diese Relativierung der religiösen Wahrheit als eine mögliche Deutung – eine mögliche Wahrheit – in einer pluralistischen Welt der Wahrheiten und »Erzählungen«, von denen keine Gewissheit beanspruchen kann. Der traditionalistische Katholizismus dagegen meint, man könne die Moderne rückgängig machen und die alten, kulturell tradierten Gewissheiten wiederherstellen. Doch die »Schlachtbank der Geschichte«, wie Hegel es nannte, hat entschieden, dass die letztgenannte Option de facto keine Option mehr ist. Und gleichzeitig zeigt sich die ganze Unfruchtbarkeit des progressiven Katholizismus – eine Unfähigkeit, den Glauben an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, die einiges mit der Verwässerung der katholischen Wahrheitsansprüche und Lehren zu tun hat –, wenn man sich den religiösen Kahlschlag in Westeuropa ansieht: jenem Teil der Weltkirche, der das progressive Projekt mit der größten Begeisterung aufgegriffen hat. Keine theoretische Beweisführung, sondern die Geschichte selbst hat gezeigt, dass der progressive Katholizismus keine plausible Strategie ist, wenn es darum geht, die Kirche im dritten Jahrtausend in ihrer missionarischen Sendung zu bestärken.

Doch auch der katholische Traditionalismus ist kein plausibles, ja nicht einmal ein mögliches Modell eines lebendigen Katholizismus. Er leugnet die Realität der Bedingungen, unter denen das Evangelium im 21. Jahrhundert verkündet werden muss – und verurteilt sich damit selbst zur evangelikalen Unfruchtbarkeit, weil er, statt zu Bekenntnis und Mission aufzurufen, lieber den Rückzug in Bunker und Katakomben propagiert. Der progressive Katholizismus ist eine Variante des liberalen Protestantismus und findet (obwohl das Tenure-Track-System sein akademisches Fortleben begünstigt) in der Weltkirche keinen demografischen Rückhalt, doch Letzteres gilt ebenso für den traditionalistischen Katholizismus und insbesondere für den schismatischen Traditionalismus, wie ihn der verstorbene französische Erzbischof Marcel Lefebvre begründet hat. Und wer genauer hinsieht, wird sogar feststellen, dass es sich bei beiden Optionen um Varianten desselben gegenreformatorischen, regelbasierten, katechetisch-devotionalen Katholizismus handelt: Das traditionalistische Lager will die Regeln, Katechismusantworten und Frömmigkeitsübungen straffen und festzurren und die Progressiven wollen die Schrauben im Namen der Offenheit oder Barmherzigkeit lockern. Dennoch beziehen sich die einen wie die anderen auf das gegenreformatorische Modell und bleiben darin gefangen wie ein in Bernstein eingeschlossenes Fossil.

Sie werden beide enden und in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist ihr Niedergang nur ein weiterer Hinweis für den Aufstieg des evangelikalen Katholizismus: eines Katholizismus, der aus einem neuen Pfingsten, einer neuen Ausgießung missionarischer Energie für eine neue historische und kulturelle Epoche geboren wird.

Die Erneuerung der Kirche

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