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KAPITEL EINS Abschlüsse und Anfänge

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Einige wenige Jahre nach der Wahl Benedikts XVI. war eine markante Tatsache über seinen Nachfolger bereits bekannt: Wer auch immer er sein und woher auch immer er stammen mochte – der nächste Papst würde kein Mann sein, der am Zweiten Vatikanischen Konzil teilgenommen hatte.

Anders als der heilige Johannes Paul II., der als junger polnischer Bischof eine bedeutende Rolle bei der Vorbereitung mehrerer Konzilsdokumente gespielt hatte, und anders als Benedikt XVI., der als Joseph Ratzinger ein wichtiger theologischer Berater auf dem II. Vaticanum gewesen war, wird der nächste Bischof von Rom das wichtigste katholische Konzil seit dem Tridentinum nicht selbst miterlebt haben. Und sollte Benedikt XVI. ein solch langes und erfülltes Leben vergönnt sein wie dem Begründer des modernen Papsttums – Leo XIII., der 1903 im Alter von 93 Jahren starb –, dann wäre es sogar möglich, dass sein Nachfolger in der Zeit, als das Konzil tagte, also 1962 bis 1965, noch nicht einmal geboren war oder vielleicht gerade erst die Grundschule besuchte. Der nächste Papst wird sein gesamtes kirchliches Leben in den Turbulenzen der nachkonziliaren katholischen Kirche verbracht haben. Anders als seine beiden unmittelbaren Vorgänger wird der 265. Nachfolger des heiligen Petrus an der Erfahrung des II. Vaticanums, die Johannes Paul II. und Benedikt XVI. so maßgeblich geprägt hat, nicht teilgehabt haben.

Als Benedikt XVI. 2005 im Alter von 78 Jahren gewählt wurde, sagten manche, er werde ein »Übergangspapst« sein. Exakt dasselbe hatte man auch 1958 bei der Wahl des 58-jährigen Johannes XXIII. erwartet. In beiden Fällen erwies sich die Prognose als wahr – wenn auch nicht unbedingt so, wie sie von ihren Urhebern eigentlich gedacht war. Denn keiner dieser beiden Päpste war nur ein Platzhalter, wie sich die Propheten ihr »Übergangspapsttums« vorgestellt hatten; der »Übergang« spielte sich auf einer ganz anderen Ebene ab.

Mit der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils versuchte Johannes XXIII., die kirchlichen Voraussetzungen für ein neues Pfingsten, eine neue und belebende Geisterfahrung zu schaffen, die es der Kirche ermöglichen sollte, mit erneuerter evangelikaler Energie in das dritte Jahrtausend einzutreten und die moderne Welt in einen Dialog über die Zukunft der Menschheit einzubinden. Schlussendlich löste sein Konzil jedoch eine katholische Identitätskrise aus, die das Pontifikat seines Nachfolgers, Pauls VI., zu einem langen Leidensweg, zu einer päpstlichen Via Crucis hat werden lassen. Als Papst Paul VI. am 6. August 1976 starb, schienen sowohl das Papsttum als auch die katholische Kirche erschöpft und mutlos.

Dann, nach dem kurzen »Septemberpontifikat« von Johannes Paul I., kam der Papst aus Polen, Johannes Paul II., und flößte der katholischen Kirche neuen evangelikalen Mut ein, als er bei seiner ersten öffentlichen Messe als Bischof von Rom mit kühnen Worten zur Furchtlosigkeit aufrief: »Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!« Sechsundzwanzigeinhalb Jahre lang tat Johannes Paul II. mit der tatkräftigen Unterstützung seines wichtigsten theologischen Beraters, Joseph Kardinal Ratzinger, das, was man noch 1978 für unmöglich gehalten hatte: Er gab dem Konzil eine amtliche Deutung; er führte die Kirche durch das große Ereignis des Heiligen Jahrs 2000 zu einem neuen Pfingsterlebnis, wie Johannes XXIII. es sich erhofft hatte, und er richtete die Kirche mit der »Neuevangelisierung«, die er zur Gesamtstrategie für die Kirche im 21. Jahrhundert und dritten Jahrtausend erklärte, fest und zuversichtlich auf die Zukunft aus.1 Dadurch, dass Benedikt XVI. diese Gesamtstrategie beibehielt, stand sein Pontifikat in dynamischer Kontinuität mit dem seines Vorgängers, der aufgrund seiner Leistungen vielleicht als Johannes Paul der Große in die Geschichte eingehen wird.

Die Turbulenzen, die das katholische Leben seit dem II. Vaticanum prägen, werden oft auf einen anhaltenden kirchlichen Bürgerkrieg zwischen »Progressiven« und »Konservativen« (oder »Traditionalisten«) zurückgeführt. Diese Einteilung hat sich seit dem II. Vaticanum im öffentlichen (und katholischen) Denken festgesetzt und ist den Menschen seither kaum mehr auszutreiben. Und doch muss sie ausgetrieben werden. Denn wenn es darum geht, das katholische Leben nach dem II. Vaticanum zu erkennen, ist die progressiv-konservative Brille eher dazu angetan, unsere Sicht zu trüben, als sie zu schärfen. Und vor allem trübt sie unseren Blick auf die tiefgreifende Reform, die in der Kirche im Gange ist, seit Vincenzo Gioacchino Kardinal Pecci am 20. Februar 1878 zum Bischof von Rom gewählt wurde und sich den Namen Leo XIII. gab. Peccis Wahl – und nicht etwa die Eröffnung des II. Vaticanums am 11. Oktober 1962 – ist der Geburtstag der Kirche des 21. Jahrhunderts. Denn Leo XIII. setzte eine weitreichende Veränderung des Katholizismus in Gang, die die Kirche Schritt für Schritt von dem seit der Gegenreformation des 16. Jahrhunderts vorherrschenden katechetisch-devotionalen Modell weg- und einem neuen Modell entgegenführte: einem Modell, das sich am besten als evangelikaler Katholizismus beschreiben lässt.

Heute, mehr als eineinviertel Jahrhunderte nach ihrer Initiierung durch Leo XIII., ist diese Veränderung alles andere als abgeschlossen. Um sie zu vollenden, bedarf es einer weiteren und tieferen Reform der katholischen Kirche. In dieser Reform wird sich eine radikal neu grundgelegte Vorstellung sowohl von der christlichen Jüngerschaft als auch von der Aufgabe der Kirche niederschlagen: eine Vorstellung von Jüngerschaft und Sendungsauftrag, in der sich die Entwicklung des katholischen Selbstverständnisses von Leo XIII. bis hin zu Benedikt XVI. verdichtet; die anerkennt, dass die Herausforderungen dieses einzigartigen Augenblicks in der Geschichte der Weltkultur eine neue und dynamische Art des Katholisch-Seins in Kontinuität mit dem authentischen Erbe der Vergangenheit erfordern; und die die Kirche aus den seichten Gewässern der institutionellen Instandhaltung herausführt und den Katholizismus auf das hin ausrichtet, was Johannes Paul II. den »tiefen See eines neuen Jahrtausends«2 genannt hat.

Benedikt XVI. ist also insofern ein »Übergangspapst«, als die katholische Kirche mit seinem Pontifikat tatsächlich am Ende einer Ära steht. Doch das nahe Ende trägt die fruchtbare Saat einer neuen Zukunft in sich. In dieser Zukunft wird eine zutiefst katholische Reform – eine Reform, die auf zwei Grundpfeilern ruht, nämlich Wort und Sakrament – die Kirche in die Lage versetzen, mit neuer Energie auf den Missionsauftrag ihres Meisters zu reagieren: »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes« (Mt 28,19).

Die Erneuerung der Kirche

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