Читать книгу Die Erneuerung der Kirche - George Weigel - Страница 14
Keine »Spiritualität«
ОглавлениеZu den Kuriositäten der spätmodernen und postmodernen Kultur gehört die Ausbreitung von »Spiritualitäten« aller Art. Auf den entsprechenden Regalen der Buchläden kann ihr Angebot Regal um Regal bestaunt werden: Produkte, die Zeugnis davon ablegen, dass – so »entzaubert« die westliche Welt des 21. Jahrhunderts nach den Worten Max Webers auch sein mag – die alten Bedürfnisse des Homo religiosus doch nach wie vor der Befriedigung harren. Im Großen und Ganzen handelt es sich bei diesen »Spiritualitäten« um zahllose Variationen über das Thema der menschlichen Suche nach Gott – mit dem Ergebnis, dass die Welt (und sogar die Kirche) jemanden, der den Kontakt mit dem Göttlichen anstrebt, heute ganz selbstverständlich als Seeker, als »Suchenden«, bezeichnet.
Diese anthropozentrische und zutiefst subjektive Suche nach dem Göttlichen ist genau das Gegenteil dessen, was der evangelikale Katholizismus will und was das Zweite Vatikanische Konzil gelehrt hat. Diese Lehre ist in dem zentralen theologischen Konzilsdokument der dogmatischen Konstitution Dei verbum über die göttliche Offenbarung präzise umrissen:
»Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1,9): dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben und teilhaftig werden der göttlichen Natur (vgl. Eph 2,18; 2 Petr 1,4). In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1,15; 1 Tim 1,17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33,11; Joh 15,14–15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3,38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen. Das Offenbarungsgeschehen ereignet sich in Tat und Wort, die innerlich miteinander verknüpft sind: Die Werke nämlich, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte wirkt, offenbaren und bekräftigen die Lehre und die durch die Worte bezeichneten Wirklichkeiten; die Worte verkündigen die Werke und lassen das Geheimnis, das sie enthalten, ans Licht treten. Die Tiefe der durch diese Offenbarung über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit leuchtet uns auf in Christus, der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist.«1
»Spiritualität« ist so, wie die postmoderne Welt sie versteht, die menschliche Suche nach dem Göttlichen. Das Christentum dagegen ist die Suche Gottes nach uns und der Prozess, durch den wir lernen, auf Gottes Wegen durch die Geschichte zu gehen. Diese Vorstellung vom Christentum ist es, die den evangelikalen Katholizismus trägt, und diese Vorstellung stimmt voll und ganz mit dem überein, was die christliche Orthodoxie seit Jahrhunderten lehrt – und worin sich wiederum die Dynamik der göttlichen Offenbarung gegenüber Abraham und seinen Nachkommen, dem jüdischen Volk, spiegelt.
Außerdem ist – und auch das lehrt die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung – diese Suche Gottes nach uns und unsere Glaubensantwort eine Wahrheit mit denkbar schwerwiegenden Folgen. Die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils wollten diese Folgen gleich zu Anfang des Konzils unmissverständlich darlegen:
»Gottes Wort voll Ehrfurcht hörend und voll Zuversicht verkündigend, folgt die Heilige Synode den Worten des heiligen Johannes: ›Wir künden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschien. Was wir gesehen und gehört haben, künden wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Wir haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus‹ (1 Joh 1,2–3). Darum will die Synode in Nachfolge des Trienter und des Ersten Vatikanischen Konzils die echte Lehre über die göttliche Offenbarung und deren Weitergabe vorlegen, damit die ganze Welt im Hören auf die Botschaft des Heiles glaubt, im Glauben hofft und in der Hoffnung liebt.«2
»Spiritualität« im postmodernen Sinne ist etwas für Suchende. Evangelikaler Katholizismus ist etwas für Finder. Den Finder aber – besser gesagt den, der von der Gnade gefunden wird und seine »Gefundenheit« akzeptiert – erkennt man daran, dass er die Welt bekehrt, und zwar in den herausfordernden kulturellen Gegebenheiten des je besonderen historischen Augenblicks.3