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Freundschaft mit Christus

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Am 25. Mai 1899, am Ende eines Jahrhunderts, das nach allgemeiner Überzeugung den Grundstein zu einer Ära des grenzenlosen menschlichen Fortschritts gelegt hat, promulgierte Papst Leo XIII. die Enzyklika Annum sacrum. Darin verfügte er, dass die Bischöfe der Kirche an drei besonderen Gebetstagen im darauffolgenden Monat die Weihe der Welt an das Heiligste Herz Jesu – das »Bild der unbegrenzten Liebe Jesu Christi […], die uns zur gegenseitigen Liebe bewegt«6 – vollziehen sollten.

Die Ära des 19. Jahrhunderts endete, ungeachtet des kalendarischen Diktats, tatsächlich erst eineinhalb Jahrzehnte später, nämlich im August 1914 mit jenen Gewehrschüssen, die den Beginn des 20. Jahrhunderts markierten: Eröffnungssalven zu einer siebenundsiebzig Jahre währenden Zivilisationskatastrophe, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion am 15. August 1991 endete (was gleichzeitig, epochal gesprochen, auch das Ende des 20. Jahrhunderts war). In diesen acht Jahrzehnten wurden um ein Vielfaches mehr Menschen aus politischen Gründen hingeschlachtet als in jeder anderen vergleichbaren Periode. So grauenvoll der Dreißigjährige Krieg auch gewesen sein mag – und er war in der Tat grauenvoll –, die siebenundsiebzig Jahre dauernde Katastrophe war grauenvoller.7 Diese siebenundsiebzig Jahre waren das Zeitalter der flandrischen Schützengräben, des Niemandslands und des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs, der Gulags, des Holodomors in der Ukraine, der Lager von Auschwitz-Birkenau, Majdanek und Sobibor, der Bombardierungen von Rotterdam und London, Hamburg und Dresden, Tokio und Hiroshima und Nagasaki, der bewussten Hungertötung hunderttausender Kriegsgefangener; eines Kalten Krieges, der jederzeit in einem globalen Desaster hätte enden können, und der größten Kirchenverfolgung der Menschheitsgeschichte.8 Die mittel- und langfristigen Auswirkungen dieser Katastrophe sind heute noch zu sehen. Ihre unmittelbare Folge aber war, dass Europa seine Rolle als zentraler Akteur des globalen Zivilisationsprojekts ausgespielt hatte. Der demografische Winter, zu dem Europa sich im 21. Jahrhundert durch seine mangelnde Bereitschaft, künftige Generationen hervorzubringen, offenbar selbst verurteilt hat, lässt sich als das Ergebnis eines Unbehagens deuten, das am Ende einer Ära, die doch eigentlich eine gereifte und von Vernunft und Wissenschaft geleitete Menschheit hatte hervorbringen wollen, wie ein dicker, drückender Nebel große Teile der westlichen Welt bedeckte.9

Am 30. April 2000, epochal betrachtet beinahe neun Jahre nach dem Ende des 20. Jahrhunderts, sprach Papst Johannes Paul II. die polnische Ordensschwester Maria Faustyna Kowalska heilig. Sie hatte in den 1930er-Jahren mehrere Visionen von der göttlichen Barmherzigkeit gehabt, die vom Herzen Christi ausstrahlte. Im Heiligen Jahr fiel der 30. April auf den Sonntag nach Ostern und so verfügte der letzte Papst des 20. und erste Papst des 21. Jahrhunderts, dass die Kirche den Sonntag nach Ostern von nun an als den Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit begehen sollte. Denn die göttliche Barmherzigkeit, so der Papst in seiner Predigt während der Heiligsprechung, ist das Antlitz Gottes, das die postmoderne Welt nach allem, was geschehen war, seit Leo XIII. mit der Erhebung des Heiligsten Herzens Jesu auf die vermeintliche Autonomie der weltlichen Moderne reagiert hatte, am dringendsten brauchte.

Die menschliche Hybris hatte das 20. Jahrhundert in ein Schlachthaus verwandelt, und die Visionen der hl. Faustyna waren Gottes Antwort auf die niederdrückende Last der Schuld, die die Menschheit auf sich geladen hatte. Diese Visionen kleideten die Fakten aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn – das (wie die rembrandtsche Darstellung seines Kulminationspunkts gezeigt hat) eigentlich besser das Gleichnis vom barmherzigen Vater genannt werden sollte – in ein modernes Gewand.10

Christus, so glaubte Johannes Paul, winkte der Welt zu: Er lud die postmoderne Menschheit zu einem neuen Verständnis ihrer Leiden ein und rief die Kirche zu einer neuen Verkündigung seines Evangeliums auf. Auch in dieser Hinsicht hat Johannes Paul II. eine Reform vollendet, die Leo XIII. in Gang gesetzt hatte.

Die Erneuerung der Kirche

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