Читать книгу Die Erneuerung der Kirche - George Weigel - Страница 16
Neue Vorgaben
ОглавлениеFünfzig Jahre nach dem II. Vaticanum fällt die Autorität der Kirche kaum mehr ins Gewicht. Der Satz »Die Kirche lehrt …« hat außerhalb der Kirche keinerlei Bedeutung. Und auch innerhalb der Kirche hat er weniger Bedeutung, als er haben sollte – das beweisen die unzähligen Beispiele von Katholiken, die eine Art selbstgestrickten Katholizismus praktizieren. Die katholische Lehre mag darin durchaus noch eine Bezugsgröße darstellen, aber auf die Lebensgestaltung hat sie keinen nennenswerten Einfluss mehr. Und doch haben – wie die Amerikaner in den Debatten über Themen wie das Recht auf Leben oder die Bedeutung der Ehe feststellen mussten – diese Lehren sehr wohl Einfluss auf die Lebensgestaltung: Das liegt in ihrer Natur. Und deshalb wird sich der Ausgang dieser Debatten ganz konkret auf das auswirken, was die Welt »das richtige Leben« nennt. Gleichwohl bleibt die harte Tatsache bestehen, dass der Satzanfang »Die Kirche lehrt …« im 21. Jahrhundert auf taube Ohren stößt, denn es dominiert die Kultur der radikalen Subjektivität und die höchste Autorität gebührt dem alles beherrschenden autonomen Selbst.
Anders verhält es sich mit dem Satzanfang »Das Evangelium offenbart …« – »Das Evangelium offenbart …« ist eine herausfordernde Antwort auf den Zweifel an der schieren Idee einer »Offenbarung«, wie ihn die Hochkulturen des Westens in den letzten zwei Jahrhunderten geäußert haben. »Das Evangelium offenbart …« ist eine ähnliche Herausforderung wie die, vor die Jesus seine Jünger auf dem Weg nach Cäsarea Philippi gestellt hat: »Ihr aber, für wen haltet ihr mich?« (Mk 8,29). »Das Evangelium offenbart …« ist wie ein Handschuh, den man dem anderen vor die Füße wirft und der eine Reaktion erzwingt. Diese Reaktion kann zunächst skeptisch oder sogar feindselig, wird aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gleichgültig sein. Ja, mehr noch, wenn die Wahrheit klar und furchtlos genug verkündet wird und ihre eigene Kraft entfaltet, dann kann »Das Evangelium offenbart …« – und das belegen zwei Jahrtausende christliche Geschichte – zumindest ein Anfang sein, ein Einstieg ins Gespräch, während bei den Worten »Die Kirche lehrt …« in den Köpfen und Herzen der von ihrer westlichen Umgebungskultur geprägten Menschen des 21. Jahrhunderts sämtliche modernen, postmodernen und antiautoritären Alarmglocken läuten.
Dem evangelikalen Katholizismus ist durchaus bewusst, dass es eine innere Verbindung zwischen der göttlichen Offenbarung und der Kirche gibt: »Das Evangelium offenbart …« führt letztlich zu der Aussage »Die Kirche lehrt …« Doch der Ausgangspunkt ist ein anderer. Der evangelikale Katholizismus beginnt mit einem unmissverständlichen Bekenntnis des christlichen Glaubens als eines Offenbarungsglaubens an »das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde« (1 Joh 1,2).5 Dieses ewige Leben, dieses Wort Gottes, das in die Geschichte gekommen ist, um nach uns zu suchen, ist das, »was wir gesehen und gehört haben« (1 Joh 1,3).
Das, und nichts weniger und nichts anderes als das, ist der Ausgangspunkt des evangelikalen Katholizismus, seiner Verkündigung und der Reformen, die er in der Kirche herbeiführen wird. Ein zugegeben dramatisches, aber vielleicht nicht völlig unwahrscheinliches Beispiel kann helfen, die Sache auf den Punkt zu bringen. Nehmen wir einmal an, irgendein Bistum wäre durch Skandale, Kirchenaustritte und Bankrott so heftig erschüttert worden, dass am Ende nur noch der Bischof übrig bliebe, und nehmen wir weiter an, dieser Bischof säße, nachdem er seine Sonntagsmesse gelesen hätte, auf einer Parkbank und spräche die Passanten an: »Hallo, ich bin Bischof _______. Darf ich Ihnen von Jesus Christus erzählen?« Das Evangelium als die wesentliche Natur und Sendung der katholischen Kirche wäre in diesem Bistum, trotz seines vermeintlichen institutionellen Totalschadens, noch immer lebendig.
Denn im Zentrum des evangelikalen Katholizismus steht die Freundschaft mit Christus.