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Christus, Evangelium, Kirche
ОглавлениеIn Weiterführung dieser gedanklichen Linie bietet der evangelikale Katholizismus die Freundschaft mit Jesus Christus und die Unterwerfung unter das sanfte Joch seiner Herrschaft als Antwort auf die Frage an, die sich mit jedem menschlichen Leben neu stellt. Jesus ist, so der evangelikale Katholizismus, der Lehrmeister par excellence und gleichzeitig das Evangelium, das gelehrt wird, er ist der Prediger par excellence und gleichzeitig die Frohbotschaft, die gepredigt wird. Sein Evangelium, das Herzstück der evangelikalen katholischen Verkündigung, ist ein Aufruf, »umzukehren und zu glauben«. Es ist ein Aufruf, anzuerkennen, dass hier und jetzt und mitten unter uns das Himmelreich nahe ist. Es ist eine Einladung, hier und jetzt durch unsere Lebensweise und beständige Herzensumkehr in dieses Himmelreich einzutreten.14
Das Evangelium ist der Ausgangspunkt und daher betont der evangelikale Katholizismus, dass niemand als Katholik geboren wird und dass es ein Leben lang dauert, »katholisch zu werden«, das heißt, die Verheißungen und Gnaden der Taufe durch ein Leben der radikalen Nachfolge und Übereinstimmung mit den Lehren Christi, wie sie in der Heiligen Schrift und in der apostolischen Tradition der Kirche überliefert sind, umzusetzen. Man ist nicht deshalb im vollen Wortsinn Katholik, weil man eine Großmutter hat, die aus der Grafschaft Cork oder aus Palermo oder aus Guadalajara stammt, und weil man als Säugling von seinen Eltern einem bestimmten religiösen Ritual unterzogen worden ist. Man ist Katholik, weil man Jesus, dem Herrn, begegnet und eine reife Freundschaft mit ihm eingegangen ist. Das heißt, evangelikal katholisch gesprochen, dass die sakramentale Taufgnade (wenn man denn als Kind getauft worden ist) sich im Laufe des menschlichen Reifeprozesses im Muster des eigenen Lebens ausprägt.
Deshalb predigt der evangelikale Katholizismus keine allgemeine Wahrheit über Gott. Vielmehr verkündet der evangelikale Katholizismus, gestützt auf das Alte und das Neue Testament, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der auch der Gott Moses und des fortbestehenden Sinaibundes mit dem Volk Israel ist, sich selbst endgültig und abschließend in Jesus von Nazareth, dem Sohn Gottes und dem Sohn Marias, offenbart hat. Seine Menschwerdung, eines der beiden zentralen Geheimnisse des christlichen Glaubens, offenbart das zweite dieser großen Geheimnisse: dass Gott eine ewige Gemeinschaft, eine Heiligste Dreifaltigkeit der sich selbst verschenkenden und empfangenden Liebe ist. Das Bekenntnis dieser beiden Grundwahrheiten, das durch die Freundschaft mit Jesus Christus ermöglicht wird, ist die Essenz der Quintessenz des christlichen Glaubens. Niemand kommt zum Vater, außer durch die Freundschaft mit Jesus Christus. Und durch die Zugehörigkeit zu ihm empfängt man die Gabe des Heiligen Geistes, der vom Vater und vom Sohn ausgeht, um Feuerzungen über die Erde auszugießen.
Eines der großen Themen im Pontifikat Benedikts XVI. war, dass die Freundschaft mit Jesus Christus die Daseinsberechtigung der Kirche ist. Die Kirche existiert, um die Möglichkeit der persönlichen Freundschaft mit Jesus, dem Herrn, anzubieten, die alle, die sie annehmen, zur Wahrheit über Gott und zu der denkbar reichsten Fülle des menschlichen Lebens führt. Und wo finden wir diese Kirche, die uns hilft, Freunde Christi zu werden? Wir finden sie dort, wohin uns das zweite Kapitel der Apostelgeschichte weist: dort, wo die apostolische Lehre weitergegeben und wo das Brot im Leib Christi gebrochen und geteilt wird.15 In dieser Gemeinschaft werden Männer und Frauen ermächtigt, so zu leben, wie es nach Jesu eigenen Worten der Freundschaft mit ihm entspricht: Sie werden ermächtigt, den Hungernden Brot, den Dürstenden zu trinken, den Nackten Kleidung und den Gefangenen die Freiheit zu geben.16
Dieser Lebensstil ist zutiefst und (zumindest für einige) beunruhigend gegenkulturell. Doch der evangelikale katholische Entwurf ist sehr viel menschlicher – genau genommen unendlich viel menschlicher – als ein Leben, das sich nach den unersättlichen Forderungen des alles beherrschenden autonomen Selbst, nach seinem weltlichen Geltungskult und nach seiner Geringschätzung der Demut richtet. So, wie er sich im Sendungs- und Dienstverständnis der evangelikalen katholischen Gemeinden ausdrückt, ist dieser Lebensstil die Antwort der katholischen Kirche des 21. Jahrhunderts auf das unermessliche menschliche Leid, das durch die Politik des Machtwillens verursacht wurde. Die Welten der heidnischen Antike wurden zu einem nicht geringen Teil dank der unübersehbaren Überlegenheit des christlichen Lebensstils bekehrt. Die postmoderne Welt des 21. Jahrhunderts und des dritten Jahrtausends wird auf dieselbe Weise bekehrt werden: durch menschliche Lebensweisen, die in der Wahrheit des Evangeliums wurzeln und die Möglichkeit bieten, sich von dieser Wahrheit packen zu lassen.
Denn diese Wahrheit, so verkündet es der evangelikale Katholizismus, ist die Wahrheit der Welt: eine Wahrheit, die eine missionarisch ausgerichtete Gemeinschaft von Jüngern mit einem ausgeprägten Bewusstsein ihrer Identität und Sendung formt.