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Vorwort
ОглавлениеEvangelikaler Katholizismus: eine Einladung zu einer tiefgreifenden katholischen Reform
Als die katholische Kirche den 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils beging, waren die Forderungen nach einer Reform der Kirche nachdrücklich, weitverbreitet und nicht selten misstönend. Doch der Ruf nach einer »Reform« war oft schon das Einzige, was die Rufer miteinander verband.
In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts weisen sowohl die »progressiven« als auch die »traditionalistischen« Katholiken ihre Reform-Agenda vor. Hans Küng, der die Aufgabe des II. Vaticanums einst als »Reform und Wiedervereinigung« beschrieb, ist fest davon überzeugt, dass er weiß, was Reform bedeutet, und auch die Herausgeber von The Wanderer1 oder The Tablet2 sind sich ihrer Sache sicher, obwohl keiner von ihnen sich mit dem jeweils anderen auf die Einzelheiten dieser Reform einigen könnte. Die New York Times hat eine genaue Vorstellung davon, wie eine katholische Reform aussehen sollte, L’Osservatore Romano ebenfalls und dasselbe gilt für Hunderttausende von Bloggern und Internetkommentatoren überall auf der Welt. Damit hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf. Die Forderung nach einer Reform ist de facto universal, doch die Modalitäten der Reform sind allesamt umstritten.
Dennoch gibt es vielleicht noch einen weiteren Berührungspunkt. Grundsätzlich stimmen alle streitenden Parteien darin überein, dass sich die Probleme und Chancen des Katholizismus des 21. Jahrhunderts zwischen 1962 und 1965 – also in den Jahren des Zweiten Vatikanischen Konzils – herauskristallisiert haben. Besonders scharfsinnige Beobachter gehen in ihrer Analyse womöglich noch um einige Jahrzehnte weiter zurück, nämlich bis in die Zeit der katholischen intellektuellen Renaissance Mitte des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich waren viele Aspekte, die die Konzilsdebatten prägten, damals schon präsent: ein neues biblisches Bewusstsein; ein feineres Gespür für die Bedeutung der Geschichtstheologie und verschiedener philosophischer Sichtweisen; die Erneuerung des kirchlichen Gottesdiensts; eine neue Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Leben. Gemeinhin besteht jedoch über das gesamte Spektrum der kirchlichen und weltlichen Meinungen hinweg Einigkeit darüber, dass der Katholizismus des 21. Jahrhunderts – zum Guten oder zum Schlechten – mit dem II. Vaticanum begann.
Dennoch läuft dieser Konsens-im-Dissens Gefahr, die tieferen Strömungen der kirchlichen und weltlichen Kulturgeschichte außer Acht zu lassen. Er erweckt den Eindruck, als wären die Debatten über die katholische Identität, die die Jahre des Konzils und die darauffolgenden Jahrzehnte geprägt haben, ex nihilo entstanden – oder von Anfang an in der Form geführt worden, zu der sie in der Tat schon sehr bald erstarrten. Das vorliegende Buch und die darin enthaltenen Vorschläge gehen von der Hypothese aus, dass diese bekannten Analysen verschiedene Aspekte des Katholizismus des 21. Jahrhunderts zwar durchaus treffend beleuchten und erklären, insgesamt aber zu oberflächlich sind. Und das wiederum heißt, dass auch die »Reformvorschläge«, die aus diesen Analysen erwachsen, im Großen und Ganzen zu oberflächlich sind und im Kern an einer wirklich tiefgreifenden katholischen Reform vorbeigehen.
In Wirklichkeit hat die tiefgreifende Reform der katholischen Kirche bereits vor über 125 Jahren eingesetzt. Sie begann unter Papst Leo XIII. und wurde Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Wiederbelebung der katholischen Wissenschaften (Bibelforschung, Liturgiewissenschaft, Geschichte, Philosophie und Theologie) und, mehr noch vielleicht, durch das millionenfache Martyrium der Katholiken weitergeführt, die den totalitären Systemen dieser Epoche zum Opfer fielen. Sie wurde fortgesetzt, als Papst Pius XII. seine Lehre von der Kirche als dem »Mystischen Leib Christi« (Enzyklika Mystici corporis Christi) vorlegte.3 Sie erreichte auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil einen kirchendramatischen Höhepunkt und sie erhielt neuen Schwung durch das apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi (1975), in dem Papst Paul VI. die ganze Kirche dazu aufrief, das Evangelium mit neuem missionarischem Eifer zu verkünden.4 Durch die Pontifikate zweier brillanter Männer, des heiligen Johannes Paul II. und Benedikts XVI., wurde sie noch schärfer akzentuiert. Viele Kämpfe im Katholizismus des 21. Jahrhunderts – angefangen bei der Missbrauchskrise über die radikale Säkularisierung Europas und den Kampf mit dem evangelikalen, pfingstlichen und fundamentalistischen Protestantismus um die christliche Zukunft Lateinamerikas bis hin zu der Herausforderung, für Afrika und Asien geeignete Formen der »Inkulturation« des katholischen Glaubens zu finden – lassen erkennen, welche Wellen diese tieferen Reformströmungen geschlagen haben, auf welche Widerstände sie getroffen sind und wie sich aus alledem allmählich und mühsam ein neues Katholisch-Sein herausschält: eine neue »Form« des Katholizismus.
Diese neue Form steht in wesentlicher Kontinuität mit den Ursprüngen und der Entwicklung der katholischen Lehre, denn sonst wäre sie keine wirklich katholische »Form« der Kirche. Und doch ist sie auch etwas Neues. Oder, anders und vielleicht besser ausgedrückt: Sie ist die Wiederentdeckung und Wiederanwendung von etwas ganz Altem – von etwas, das bis in die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung zurückreicht.
Dieses »Etwas« soll im Folgenden »evangelikaler Katholizismus« genannt werden. Ehe ich dieses Konzept – was damit gemeint ist und was es im Hinblick auf eine tiefgreifende Reform der katholischen Kirche bedeuten könnte – näher erläutere, muss ich jedoch klarstellen, was ich nicht darunter verstehe.
Der evangelikale Katholizismus ist keine Art und Weise des Katholisch-Seins, die gewisse katechetische Praktiken und gottesdienstliche Formen des evangelikalen, fundamentalistischen und pfingstlichen Protestantismus adaptiert.
Der evangelikale Katholizismus ist nicht der Katholizismus der Zukunft, wie ihn sich die »progressiven« oder die »traditionalistischen« Katholiken vorstellen, obwohl er von den Ersteren und von den Letzteren die Forderung nach einer Entwicklung – einer Reform – übernimmt, die die Form, die Christus der Kirche gegeben hat, im Wesentlichen beibehält.
Der evangelikale Katholizismus ist nicht auf die Situation der katholischen Kirche in den Vereinigten Staaten zugeschnitten, die, gemessen an den westeuropäischen Verhältnissen, vergleichsweise gut dasteht.
Der evangelikale Katholizismus ist nicht einfach eine Antwort auf die Missbrauchskrise, die das mediale Erscheinungsbild der katholischen Kirche seit 2002 geprägt hat.
Der evangelikale Katholizismus ist keine Bewegung innerhalb des Katholizismus, keine katholische Sekte und auch keine neue katholische Elite.
Der evangelikale Katholizismus ist kein Ersatz für den römischen Katholizismus, im Gegenteil: Seine Entstehung ist eng mit dem Aufkommen des modernen Papsttums verbunden, auch wenn seine weitere Entwicklung gewisse Anforderungen an ein reformiertes Petrusamt in der Kirche stellen wird.
Wenn also der evangelikale Katholizismus alles das nicht ist – was ist er dann?
Der evangelikale Katholizismus ist ein Katholizismus, der – nicht selten unter großen Schwierigkeiten – als das Ergebnis einer tiefgreifenden katholischen Reform durch das Wirken des Heiligen Geistes hervorgebracht wird. Diese Reform reagiert auf die Herausforderungen, vor die sich die christliche Orthodoxie und das christliche Leben durch den Sog der Veränderungen gestellt sehen, die die Welt seit dem 19. Jahrhundert verwandeln. Der evangelikale Katholizismus wird im ersten Teil des vorliegenden Buchs, Die Sichtweise des evangelikalen Katholizismus, genauer definiert werden. Die tiefgreifenden Reformen, die diese Sichtweise im konkreten Leben der Kirche auslösen sollten, sind das Thema des zweiten Teils, Die Reformen des evangelikalen Katholizismus.
Die katholische Kirche glaubt, dass sie durch den Willen Christi selbst in ihrer charakteristischen Form konstituiert worden ist. Deshalb erfolgt jede wirklich katholische Reform mit Bezug auf diese von Christus gegebene Konstitution oder Verfassung der Kirche (Verfassung weniger im amerikanischen als vielmehr im britischen Sinne des Wortes). In der über 2000-jährigen Geschichte des Christentums hat eine echte katholische Reform immer darin bestanden, sich auf diese Verfassung zu besinnen und Aspekte der von Christus gegebenen Form der Kirche wieder neu zur Geltung zu bringen. Das trifft auf das frühe Mittelalter und die Entwicklung des abendländischen Mönchtums zu. Das trifft auf die gregorianischen Reformen des elften Jahrhunderts zu (die übrigens ebenfalls weitreichende Folgen für die Entwicklung des politischen Lebens in Westeuropa hatten). Das trifft auf das 16. Jahrhundert zu, als das Konzil von Trient die Korruption, die die Reformation mitverursacht hatte, schonungslos offenlegte und im Zuge der Gegenreformation eine Form des Katholizismus schuf, die die Jahrhunderte überdauerte. Und das trifft auf die Absichten und zumindest in Teilen auch auf die Maßnahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu.
Heute besteht die Herausforderung nicht allein darin, dass der Katholizismus sich mit feindlichen kulturellen Kräften konfrontiert sieht, die behaupten, die Kirche leiste den Männern und Frauen in einer freien, gerechten und menschlichen Gesellschaft einen schlechten Dienst. Das ist ein alter Hut. Und offen gesagt wirken solche neuen Atheisten wie Richard Dawkins, Sam Harris und der inzwischen verstorbene Christopher Hitchens eher harmlos, wenn man sie mit Nero oder Diokletian, Voltaire, Robespierre oder Bismarck, Lenin oder Mao Zedong vergleicht. Die Herausforderung besteht heute darin, das Besondere an dieser kulturellen Animosität zu erkennen: dass sie nämlich im Grunde in einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der biblischen Religion wurzelt und dass sich aus dieser Gleichgültigkeit erst später, im Nachgang, die Auffassung entwickelt hat, der Gott der Bibel sei ein Feind der menschlichen Freiheit, der menschlichen Reife und des naturwissenschaftlichen Fortschritts. Im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts wird diese Animosität womöglich dazu führen, dass Gläubige, einfach weil sie Gläubige sind, neuen Formen der offenen Verfolgung ausgesetzt sein werden. In den ersten beiden Jahrzehnten des neuen Jahrtausends hat sie sich jedoch vor allem darin geäußert, dass der Katholizismus an den Rand gedrängt und auf eine private Lifestyle-Entscheidung ohne jede öffentliche Relevanz reduziert worden ist. So oder so steht die nachkonziliare Kirche vor der Herausforderung, das Evangelium in einer neuen und vielleicht bisher noch nie dagewesenen kulturellen Situation zu verkünden.
Die westliche Welt, historische Heimat des Christentums, ist, um es mit dem berühmten Wort des Soziologen Max Weber zu sagen, »entzaubert« worden. Es scheint, als hätte man die Fenster und Dachluken der menschlichen Erfahrung zugenagelt und übertüncht. Eine Moderne (und Postmoderne), die der christlichen Zivilisation des Westens weit mehr zu verdanken hat, als viele Erben der kontinentalen Aufklärung es sich eingestehen wollen, hat eine nicht selten toxische öffentliche Kultur hervorgebracht, die zunehmend christophobe Züge annimmt, um einen Begriff des orthodoxen Juden und international anerkannten Rechtswissenschaftlers Joseph H. H. Weiler zu verwenden.5 Das alles stellt den Katholizismus vor neue Herausforderungen. Diesen Herausforderungen können wir nur durch die tiefgreifenden Reformen des evangelikalen Katholizismus begegnen: Reformen, die die wesentliche, von Christus gegebene Form der Kirche wieder zur Geltung bringen und gleichzeitig ihren Gläubigen und geweihten Amtsträgern das Rüstzeug an die Hand geben, um eine entzauberte und nicht selten feindselige Welt zu bekehren.
Zusammenfassend betrachtet ruft der evangelikale Katholizismus die Katholiken (und alle, die sich für die katholische Kirche interessieren) dazu auf, die von links und von rechts vorgebrachten, oberflächlichen Argumente der vergangenen Jahrzehnte, bei denen es in erster Linie um die Macht der Kirche ging, hinter sich zu lassen und sich eingehender mit dem missionarischen Herzen der Kirche zu befassen – und mit der Frage, wie dieses Herz sich im 21. Jahrhundert und im dritten Jahrtausend ausdrücken könnte. Der evangelikale Katholizismus handelt von der Zukunft. Sein Wesen zu erfassen setzt jedoch auch einen veränderten Blick auf die jüngere katholische Vergangenheit voraus. Deshalb wollen wir genau dort beginnen.