Читать книгу Alua - Gesine Kunst - Страница 10

Iemanjá

Оглавление

Heute Abend wird nach dem Nachtmahl in Dom Augustos Haus keine Ruhe einkehren. Die Mägde kichern und flüstern beim Abwasch in der Küche, während die Stallburschen die Pferde vor den großen Erntewagen spannen. Auf dem Hof versammeln sich schon die älteren Schüler. Sie fühlen sich durch die Einladung ihrer Lehrerin geehrt. Noch nie sind sie wie Erwachsene behandelt worden und sie wissen, dass die heutige Nacht eine ganz besondere ist. Für nicht wenige Brasilianer ist der 7. zum 8. Dezember ein magisches Datum, weil diese Nacht Iemanjá, der Göttin des Meeres und der Flüsse, gehört. Celina hat ihre Schüler gründlich auf die candomblé-Feier vorbereitet, die sie gleich besuchen werden. Viele der jungen Menschen haben afrikanische Vorfahren, und gerade diese brachten vor fünfhundert Jahren die Sitten und Bräuche des candomblé aus ihrer fernen Heimat mit nach Brasilien. Diese Ahnen kamen nicht freiwillig. Sie wurden in Afrika gejagt, gefangen genommen und unter unmenschlichen Bedingungen nach Südamerika verschifft. Wer lebend ankommt, wird gleich einer Ware auf den Sklavenmärkten versteigert, versklavt und geknechtet. Die harte Arbeit in glühender Sonne auf den Baumwollfeldern oder in den Zuckerrohrmühlen fordert ihren Tribut. Nicht wenige Sklaven sind nach einigen Jahren körperlich und physisch verbraucht. Sie sterben in einem fremden Land, das ihnen alle Rechte nimmt und zudem die Praktizierung ihres Glaubens untersagt. Die neue Kirche zwingt sie sogar, zu ihrem, dem katholischen Glauben, überzutreten. „Den Menschen kann man versklaven. Seine Gedanken kann man beeinflussen, man kann auch versuchen, seinen Willen zu brechen. Aber letztlich sind und bleiben die Gedanken frei, denn niemand kann sie erraten.“ Celina gebraucht genau die Worte, die sie als kleines Mädchen von ihrem afrikanischen Großvater hört, als sie ihn fragt, warum es weiße Brasilianer, schwarze Brasilianer und alle Farbnuancen dazwischen gibt und warum die schwarzen Brasilianer in der Küche stehen oder Zuckerrohr schneiden, nur reden dürfen, wenn sie gefragt werden und erst essen können, wenn die Weißen satt sind? Großvater nimmt sich viel Zeit, um die Fragen seiner Enkelin zu beantworten, und so hört Celina mit großen Augen, dass die Sklaven zwar praktizierende Christen wurden, im Geheimen aber ihren Göttern treu geblieben sind. Dies gelingt ihnen durch folgendes jeito: sie ordnen ihre afrikanischen Götter den katholischen Heiligen zu. Jetzt können sie, sozusagen im Schutze der katholischen Kirche, ihren eigenen Heiligen treu bleiben. In der Nacht vor dem Feiertag zu Ehren der christlichen Heiligen Nossa Senhora da Conceicão huldigen sie so im geheimen Iemanjá. Auch heute, wo die Religionen frei nebeneinander praktiziert werden, gibt es noch immer nicht wenige Menschen, die sowohl der katholischen Kirche angehören als auch Anhänger des condamblé sind. Mit diesem Grundwissen wird es Celinas Schüler nicht erstaunen, dass sie am Strand, seitlich der prächtigen Iemanjá, auch eine Christusfigur antreffen. Wenn diese auch viel bescheidener wirkt und nicht von einer doppelten Reihe weißer Kerzen umrahmt ist, so stellt sie doch eine Brücke zum katholischen Glauben her. Die kleine Gesellschaft besteigt gerade den Pferdewagen, und los geht die Fahrt. Es ist eine klare Vollmondnacht mit einem prächtigen Sternenhimmel, so wie man ihn nur in den Tropen erleben kann. Die Sterne scheinen hier der Erde viel näher zu sein. Schon von weitem hören die Gäste die Trommeln, die unermüdlich zu der Feier einladen. Die dumpfen Trommelwirbel versetzen die Besucher in eine erwartungsvolle Stimmung. Endlich am Festplatz angekommen, ziehen die tanzenden Frauen in ihren langen, blauseidenen Gewändern die Zuschauer endgültig in ihren Bann. Die Schüler und Schülerinnen, die dem Fest zum ersten mal beiwohnen, gaffen mit offenen Mäulern, wie die Frauen und junge Mädchen, filhas dos Santos genannt, wie Federn durch den weißen Sand wirbeln. Die fremdartigen Tänze versetzen die Besucher in eine andere, in eine farbenfrohe und geheimnisumwitterte Welt. Die Tänzer, die sich etwas mehr im Hintergrund halten, tragen Hosen aus demselben blauseidenen Stoff, die sich in dem leichten Wind aufblähen. Auch für João ist es die erste candomblé-Feier. Er betrachtet die Darbietung aber mehr von der künstlerischen als von der religiösen Seite. Die Götter sind ihm fremd, und es widerstrebt seinem nüchternen Verstand, dass die Tanzenden als Werkzeuge von Göttern fungieren sollen. Mag Exu der Verbindungsmann zwischen den Lebenden und den Toten sein und Oxóssi, der Gott der Jagd, dem Heiligen Georg zugeordnet werden, für João ist und bleiben die Darbietungen eine Show und es fällt ihm gar nicht schwer, zuzugeben, dass sie auf einem beachtenswerten künstlerischen Niveau angesiedelt ist. Celina, der candomblé-Feste nichts Neues sind, pflichtet ihrem Kollegen bei. Es sitzt wirklich jeder Tanzschritt perfekt. Besonders ein Knabe von vielleicht zwölf Jahren zieht alle Blicke auf sich. Der Junge tanzt mit einer grazilen Anmut und Besessenheit Stunde um Stunde, ohne eine Pause einzulegen. Doch jetzt werden die Zuschauer und auch die Tanzenden unruhig. Gerade verliert ein Tänzer die Kontrolle über sich. Er verdreht die Augen, krümmt sich wie unter Krämpfen, und ein Zittern durchläuft immer wieder seinen nackten Oberkörper. Schnell eilen die als Helfer bestellten Tänzer herbei und legen dem Gepeinigten beruhigend ihre Hände auf die Arme. Sie tun dies solange, bis sich der Leidende beruhigt. Sinkt eine Tänzerin vor Iemanjá auf die Knie und wirft sie dann noch mit wilder Gebärde ihren Kopf nach vorne, so bedecken ihre langen, schwarzen Haare den weißen Sand gleich einem Teppich. Bei diesen Gesten durchzuckt es João jedes Mal. Es scheint ihm, ein elektrischer Schlag habe ihn getroffen. Er fürchtet, dass die Haare der Tänzerin Feuer fangen. „Wie kann man nur so nüchtern denken?“, Celina will sich wegen Joãos Ängsten halb totlachen. Beleidigt wendet sich der Lehrer ab. Manchmal kann er die Brasilianer und auch seine verehrte Kollegin wirklich nicht verstehen. Die an und für sich so fürsorgliche und bedächtige Celina scheint ihm heute Nacht total verwandelt. Gerade zieht Celina João mit einem festen Ruck zur Seite. Er verliert fast das Gleichgewicht. Celina hat es noch eben geschafft, João und sich selbst vor der klebrigen Dusche in Sicherheit zu bringen. Vielen Zuschauern und auch manch einem Schüler ist dies nicht gelungen. Diejenigen, die interessiert zuschauen, wie die mãe dos Santos die cidre-Flasche schüttelt und dann mit einem Ruck öffnet, baden jetzt in der klebrigen Brühe, die sie zuerst auf Iemanjá und dann in die Zuschauermenge hält. Es wird nicht die letzte Flasche sein, die in dieser Nacht geöffnet und versprüht wird. João stellt erstaunt fest, dass sich neue Aktivitäten unter der Tanzgruppe bemerkbar machen. Da bekommen Tänzerinnen verschiedenfarbige Tücher um die Hüfte geschlungen, und für die Tänzer werden aus den Requisiten Hüte ausgewählt. Sobald die Tänzer einen Hut erhalten, haben sie offensichtlich einen Auftrag auszuführen. Tanz und Gestik drücken das veränderte Rollenverhältnis aus. Hat der Tänzer seinen Auftrag erledigt, gibt er den Hut oder auch andere Gegenstände zurück. Indessen stolziert die mãe dos Santos ungerührt von den Ereignissen und mit stolz erhobenem Haupt unter ihrem Volk einher. Sie hält ein langstieliges Champagnerglas in der Hand. Ab und an nippt sie genüsslich an ihrem Getränk. Als die Stunden noch weiter vorgerückt sind, umarmt die mãe einzelne Tänzer und haucht ihnen auch mal einen Kuss auf die Wange. Die Geküssten verharren ein paar Sekunden, vielleicht auch eine Minute regungslos, bevor ein Zittern ihren Körper durchläuft und ihre Bewegungen in einen wilden Tanz übergehen. Der Handlungsablauf wird jetzt insgesamt immer schneller. Da versuchen doch wirklich Tänzer die Zuschauer ins Geschehen einzubeziehen. Manchmal haben sie sogar Erfolg. Und zu all dem dringen die Rufe der Trommeln ohne Unterlass durch die Nacht. Auch die Mägde Dom Augustos beginnen sich im Takte der feurigen Musik zu wiegen. Chica, die alte schwarze Köchin, tritt in den Kreis der Tänzer, kniet vor Iemanjá nieder und murmelt ein Gebet. Celina fühlt, die geliebte Alte ist momentan in eine unerreichbare Ferne gerückt und diese Tatsache ruft ein wehmütiges Gefühl in ihr hervor. Die Lehrerin weiß, das Fest wird bis zum Morgengrauen andauern, dann werden die Blumengebinde als Huldigung für Iemanjá den Fluten des Amazonas übergeben, und anschließend wird die doppelstöckige Iemanjá-Torte verzehrt werden. Doch so lange wollen die Besucher der fazenda nicht ausharren. Als ihre Füße zu schmerzen beginnen, ruft Dom Augusto zum Aufbruch, und bereitwillig klettert die kleine Gesellschaft auf den Pferdewagen, der sie zum Gut zurückbringen wird. Auf dem Nachhauseweg ist es merklich stiller. Die Erlebnisse dieser Nacht klingen bei allen Teilnehmern nach und werden die Schüler noch lange beschäftigen.

Alua

Подняться наверх