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Der beschwerliche Weg zum Zuckerrohrbaron

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Alua lebt wie im Rausch. Sie ist zur Königin des Nachtclubs aufgestiegen. Die Männer liegen ihr zu Füßen. Allen voran der Zuckerrohrbaron. Allabendlich bittet er sie nach ihrer Aufführung an seinen Tisch und bedenkt sie mit kleinen Aufmerksamkeiten. Die Tänzerin nimmt die Geschenke mit herablassender Miene entgegen. So, als ob sie eine Selbstverständlichkeit wären. Alua spürt, ihre Jugend verleiht ihr eine bis dahin nicht gekannte Macht. Der junge Pianospieler, der Aluas Auftritte musikalisch begleitet, finanziert mit der nächtlichen Musik sein Studium. Er liest der Tänzerin jeden Wunsch von den Augen ab und weiß stets im voraus, nach welcher Musik sie tanzen möchte. Nur eine Person im Club flößt dem Mädchen Furcht ein. Es ist Júlio, der ihr auflauert wie ein Alligator, der demnächst zuschnappen wird. Rita hat nach ihrem Wutanfall in der ersten Nacht nie wieder davon gesprochen, dass Alua aus der Wohnung ausziehen müsse. Umso entsetzter ist das Mädchen, als ihr Rita am letzten Abend des Monats ihr Kleiderbündel, fest verschnürt, in den Arm drückt. Obenauf ist Júlios Bild geheftet. Just jenes Bild, das Alua entwendet und sorgsam zwischen ihren persönlichen Papieren versteckt gehalten hat. Alua kämpft gegen die aufsteigende Wut und Scham an. Wut, weil Rita ganz offensichtlich in ihren Sachen gestöbert hat. Scham, weil sie nun als unehrliche Person entlarvt ist. Angst steigt erst später in Alua hoch, nämlich dann, als sie zum letzten mal die finstere Stiege hinabsteigt und trotzig ihr Kleiderbündel an sich presst. Sie weiß, sie hat ihre einzige Freundin verloren. Im Club wird Alua zum ersten mal bewusst, wie feindselig ihr die Kolleginnen gesinnt sind. Ihr Kleiderbündel erregt allgemeine Heiterkeit und einige Mädchen feixen mit boshaftem Lächeln, ob sie entkleiden mit ankleiden verwechsle. Alua zermartert sich den Kopf: wo wird sie die nächste Nacht verbringen? Zerknirscht betritt sie Júlios Büro um ihr erstes Gehalt entgegenzunehmen. Verstört zählt sie die wenigen Reais, die Júlio vor sie hinblättert. Einmal, zweimal. „Das ist nicht die vertraglich vereinbarte Summe“, stößt sie dann wütend hervor. Ungeduldig schiebt Júlio ihr ein eng beschriebenes Blatt über den Tisch und wendet sich dem nächsten Mädchen zu. In ihren zitternden Händen hält Alua die Abrechnung für den ersten Monat. Das vereinbarte Bruttogehalt vermindert sich um die Gebühr für die ärztliche Untersuchung, Alua überläuft es noch heute eiskalt, wenn sie sich an den schmierigen Mediziner erinnert, dem es offensichtlich Freude bereitete, an ihr herumzufummeln, für die Bereithaltung des Schlangenkostüms, für Vorhaltung von Schminke und zum Ausgleich von nicht erbrachten Umsätzen als Animierdame. „Wie soll ich davon meinen Lebensunterhalt bestreiten?“, presst sie endlich mit bebender Stimme hervor. „Vielleicht versuchst du es mal mit Arbeit, Prinzessin. Nimm dir ein Beispiel an deinen Kolleginnen. Rita belegt jede Nach ein- bis zweimal ein Appartement. Ich lerne dich gerne an.“ Boshaft lächelnd klappt Júlio sein Zahlbuch zu. Alua schleicht wie ein geprügelter Hund zur Garderobe. Verzweiflung macht sich in ihr breit. Ihre ungewisse Zukunft drückt ihr förmlich die Kehle zu. Sie blickt verstohlen in den Zuschauerraum. Erschreckt stellt sie fest, dass der Zuckerrohrbaron nicht an seinem Stammplatz sitzt. Jetzt fällt ihr ein, dass er auf Reisen gehen wollte. Als er gestern um einen Abschiedskuss bettelte, hat sie ihm frech ins Gesicht gelacht. Oh, was gäbe sie darum, wenn er heute hier wäre. Er würde sie sicherlich aus dieser ausweglosen Situation befreien. Die Verzweiflung verleiht in dieser Nacht Aluas Darbietung einen neuen Reiz. Das Publikum ist hingerissen von dem ausdrucksvollen Tanz. Nur der Pianist spürt, wie verstört die angebetete Tänzerin ist. In der Pause nimmt er sie zur Seite. Alua berichtet ihm unter Tränen, dass sie auf der Straße säße. Der Pianist hört dem Mädchen schweigend zu. Er ist kein Frauentyp, der Jüngling mit den feuerroten Haaren und den unzähligen Sommersprossen. Von den Mädchen wird der linkisch wirkende Junge gerne verspöttelt, und er weiß dies auch. Niemals hätte er gewagt, die begehrte Tänzerin einzuladen. Doch in dieser schwierigen Situation muss er ihr helfen. Natürlich in allen Ehren. Trotzdem fängt er an zu stottern, als er Alua anbietet, mit seiner bescheidenen Behausung vorlieb zu nehmen, bis sie einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage findet. Erleichtert nimmt die Tänzerin das Angebot an, und so betritt sie im Morgengrauen mit dem Pianisten dessen winzige Wohnung. Das Zimmerchen ist so eng, dass man es nicht durchqueren kann, wenn einer der beiden in dem abgewetzten Rohrsessel platz nimmt. Doch die Wohnung ist blitzsauber, stellt Alua anerkennend fest, bevor sie ihr Kleiderbündel auf das Bett wirft und wortlos duschen geht. Sie bleibt lange im Bad. Bei ihrer Rückkehr nimmt sie in ihrer herrischen Art, die keinen Widerspruch duldet, das Zimmer in beschlag. Der Pianist hat sich bereits seine Hängematte in dem fensterlosen Flur aufgespannt. Später holt er leise seine Bücher aus dem Wandregal und besucht die Vorlesung in der Universität. Zuvor hat er aber für Alua liebevoll den Kaffeetisch gedeckt. Dafür opfert er sogar die kleine Dose goiabada, die er eigentlich seiner Mutter zu Weihnachten schenken wollte. Alua schläft lange, dann frühstückt sie ausgiebig. Neugierig nimmt sie ihre neue Behausung in Augenschein. Diese winzige Wohnung wird für sie keine Bleibe auf Dauer sein. Schnell stellt sie fest, dass das einzig wertvolle die Bücher in dem grob gezimmerten Wandregal sind. Doch mit der Juristerei hat sie nichts am Hut. Enttäuscht stellt sie die Bücher an ihren Platz zurück. Als der Pianist nach Hause kommt, liegt Alua wieder lang ausgestreckt auf dem Bett. Sie hat an diesem Morgen gründlich nachgedacht. Die Gastfreundschaft des Pianisten wird sie nur so lange als unbedingt erforderlich in Anspruch nehmen. Sie spürt, dass dieser sommersprossige Junge in sie verliebt ist, und dass dies über kurz oder lang zu Problemen führen wird. Sie will aber nicht in solch ärmlichen Verhältnissen leben und abwarten, bis der Pianist sein Studium beendet hat. Viele Jahre der Entbehrung würden vor ihr liegen, und dann wäre es noch immer ungewiss, ob er eine der begehrten Doktorantenstellen ergattern könne. „Dies ist kein Leben für mich“, schreit Alua in einem Anflug von Zorn die Bücher an, und im selben Augenblick weiß sie auch, dass sie ihren Körper verkaufen muss, wenn sie schnell in ein besseres Leben zurückkehren will. Ach, wie sie Celina hasst. Warum hat ihr die Lehrerin Einblick in das Leben der Reichen verschafft und sie dann wieder hinausgestoßen? Alua weiß natürlich, dass Celina nicht reich sondern tüchtig ist, und dass sie, Alua, ihre jetzige Situation selbst zu verantworten hat. Der Pianist ahnt nicht, welche Kämpfe das Mädchen an diesem Morgen mit sich ausgefochten hat, als er es bei seiner Rückkehr so friedlich auf dem Bett liegen sieht. Fröhlich packt er seine Einkaufstüte aus. Im nahen Kilorestaurant hat er ein Stückchen Fleisch, Reis und Bohnen erstanden. Er freut sich, Alua eine warme Mahlzeit bieten zu können. Dies ist für ihn lange nicht selbstverständlich. Aber heute ist ein Glückstag. Er weiß, das geliebte Mädchen wird nun für immer in seiner Nähe bleiben. Deshalb hat er sich auch sofort um die ausgeschriebene Putzstelle im Restaurant an der Ecke beworben. Dass er sie bekommen hat, sieht er als eine Fügung des Schicksals an. Mit seinen beiden schmalen Gehältern wird er Alua und sich ernähren können. Beim Mittagessen wird er sie gleich bitten, diesen widerlichen Job als Stripperin aufzugeben. Ach, wie wird sie sich freuen. Alua, ganz caboclo, stochert wenig später lustlos in ihrem Essen herum. Das Fleisch ist ihr zu zäh, die Bohnen sind zu hart und der Reis ist zu klebrig. Der Pianist fühlt, dies ist kein günstiger Augenblick, um sein Anliegen vorzutragen. Am Nachmittag blättert Alua in den Studienunterlagen des Pianisten. Die Agrarreform, das ist ein Thema, das sie ansatzweise aus der Praxis ihres früheren Lebens kennt. Wie oft hat ihr Vater gejammert, wie glücklich er wäre, wenn er ein Stückchen Land sein eigen nennen könne. Und dann, als er das Angebot bekommt, für die Stelle als caseiro anstatt Geld ein Stück Land und Saatgut zu erhalten, verlässt er mit seiner Familie fluchtartig die fazenda, und sie kehren in ihre faulende Fischerhütte zurück. Wieder zu Hause, spricht Vater nur noch von Ausbeutung und wie er gegen die Maschinen des fazendeiros gegenhalten könne? Abschließend fragt er seine Familie stets triumphierend, wie er denn den Salat und das Gemüse zum Markt bringen solle? Bevor er aussät und erntet, stirbt sein Wunsch nach eigenem Land. Doch darüber spricht Alua mit dem Pianisten nicht. Die nächsten Wochen verbringt das ungleiche Paar mehr schlecht als recht in der engen Wohnung. Der Pianist hat nur einmal den Mut aufgebracht, Alua zu bitten, ihren Job aufzugeben. Der Zornausbruch des Mädchens war so fürchterlich, dass er dieses Thema nicht mehr anzuschneiden wagt, und so leidet er allabendlich, wenn die geliebte Frau die Hüllen fallen lässt. Die Tänzerin späht jede Nacht erwartungsvoll in den Zuschauerraum, bevor ihr Auftritt beginnt. Doch der Zuckerrohrbaron bleibt verschwunden. Immer öfter steigt Panik in Alua auf. Lange wird sie es in diesem engen Zimmerchen und unter der Fürsorge des Pianisten nicht mehr aushalten. Zudem gibt ihr Júlio mit Nachdruck zu verstehen, dass sie mit weiteren Gehaltskürzungen rechnen muss, wenn sie nicht endlich ihren Job als Animierdame ausübe. Das Mädchen wird von Tag zu Tag nervöser, und auch der Pianist beginnt, Nerven zu zeigen. Der arme Kerl arbeitet nachts in der Bar und anschließend reinigt er das Kilorestaurant, bevor er nach kurzem Schlaf zur Uni rennt. Kommt er nach Hause, so trifft er auf eine nörgelnde Alua, die seine Aufopferung als Selbstverständlichkeit annimmt, und sein Werben um ihre Gunst geflissentlich übersieht. Der Pianist ist zudem bitter enttäuscht, dass das Mädchen keine Anstalten macht, ihre Tage sinnvoll zu gestalten. Kurz bevor es zur Explosion der Gefühle kommt, entdeckt die Tänzerin im Zuschauerraum den Zuckerrohrbaron. Sie könnte laut Jubeln. Heute möchte sie vor Glück zerspringen. An diesem Abend tanzt sie nur für einen Mann. Es überrascht den Pianisten, wie gelöst die Tänzerin plötzlich ist. Vielleicht war es richtig, dass er sie heute Nachmittag wegen ihres albernen Benehmens liebevoll zurechtgewiesen hat. Freudig schlägt er in die Tasten. Sein Blick gleitet gelöst durch den Zuschauerraum. Da entdeckt er den Zuckerrohrbaron, und er sieht die hingebungsvoll tanzende Alua. Zwei Tränen fallen auf die Tastatur des Pianos. Der Pianist weiß, sein Traum ist zu Ende, bevor er begonnen hat. Alua verlässt im Morgengrauen am Arm des Zuckerrohrbarons den Nachtclub. Sie kehrt weder in den Club noch in die Wohnung des Pianisten zurück. Der Zuckerrohrbaron kauft sie frei. Júlio verlangt einen unverschämt hohen Preis. Selbst der Alte schluckt, als er den Ablösungsvertrag gegenzeichnet und die geforderte Summe auf den Tisch blättert. Das Anwesen des Zuckerrohrbarons ist ein Traum. Es ist noch schöner als die Landsitze in den novelas. Alua bewohnt eine hübsche Suite mit jeglichem Komfort. Von dem luxuriös ausgestatteten Badezimmer führt eine Verbindungstür in die prächtigen Gemächer des Zuckerrohrbarons. Gleich am ersten Tag macht der Zuckerrohrbaron der Tänzerin klar, dass er der alleinige Herr im Hause und sie seine willfährige Dienerin sei: Alua lächelt innerlich über den Alten. Sie befindet sich noch immer in dem Glauben, Macht über den Zuckerrohrbaron zu haben. Umso erschreckter ist sie, als sie wenig später den Jähzorn des Alten zu spüren bekommt. Was ist geschehen: Verspätet und schlecht gelaunt erscheint die Tänzerin am Frühstückstisch. Sie ist verstimmt, weil der Alte in der Nacht ihre Liebe gefordert hat, ohne gebührend um sie zu werben, und sie hat sich vorgenommen, ihm dies heimzuzahlen. Als das Mädchen auf Fragen des Alten nur widerwillig antwortet, prügelt dieser sie ohne Vorankündigung brutal zusammen. Die Dienerschaft verlässt angstvoll den Speisesaal. Sie kennt die Wutausbrüche des Zuckerrohrbarons nur zu gut. Zurück in ihrem Zimmer wird der Tänzerin schmerzhaft bewusst, dass sie erst jetzt zu einem Vogel im goldenen Käfig geworden ist. Natürlich hat sie sofort bemerkt, dass sie nicht das erste Mädchen ist, das hier im Hause lebt. Überall auf den weiträumigen Fluren hängen Bilder von hübschen jungen Dingern, die mit schmachtendem Blick zu ihrem Herrn aufblicken. Aus der geschwätzigen Dienerschaft hat die Tänzerin schnell herausgelockt, dass diese Liebschaften von ganz unterschiedlicher Dauer waren. „Ungehorsam wird nicht verziehen“, flüstert ihr die alte Köchin leise ins Ohr. Alua ist klug und gerissen. Sie erkennt ihre Chance und schlüpft ohne weitere Querelen in ihre neue Rolle als Hausdame, Begleiterin und Geliebte. So dauert es auch nicht lange, bis sie ihren Reisepass in Händen hält und Mühe hat, sich unter den vielen hübschen Kleidern, die ihren Schrank füllen, das Passende für den jeweiligen Anlass auszusuchen. In der hintersten Ecke des Schrankes verwahrt sie ihr Kleiderbündel. Der Pianist hat es ihr mit dem Briefchen, in dem er ihr seine Liebe gesteht, überbringen lassen. Alua wäre mit ihrem neuen Leben eigentlich recht zufrieden, träten da nicht immer wieder die unberechenbaren Wutausbrüche ihres Herrn zu Tage. Sie kommen meist so unerwartet wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Kein Wunder, dass Alua abmagert und sich immer öfter nervös die Finger reibt. Unter ihren Augen bilden sich tiefe Ringe. Ganz anders heute. Alua ist fröhlich aus dem Bett gesprungen. Sie geht mit ihrem Herrn auf Reisen. Diese Gunst wurde bis jetzt nur wenigen Geliebten zuteil. Alua weiß, diese bevorzugte Behandlung verdankt sie Celina. In Dom Augustos Haus wurde auf Tischsitten und gute Umgangsformen geachtet, und dieses Wissen kommt ihr jetzt zugute. Immer wieder prüft sie ihr Reisegepäck. Sie will für jede Gelegenheit die passende Garderobe bereithalten. Das Flugzeug gleitet in Rio de Janeiro langsam zum Flughafen hinab. Alua ist sprachlos. Der Zuckerhut, die blütenweißen Badestrände. So viel Schönheit auf einmal kann es doch nicht geben. Im todschicken Jachtclub von Botafoga speisen sie zu Mittag, bevor sie mit der Zahnradbahn zum Corcovado hinaufschweben. Alua fühlt sich klein und arm, als sie vor dem mächtigen Christo Redentor stehen. In ihren Augen blitzen Funken der Vorfreude auf das bevorstehende Pferderennen. Von hier oben sieht die Rennbahn niedlich aus. Ihr Blick bleibt an den favelas hängen, die sich den Berg hochziehen. „So viele arme Menschen“, murmelt sie leise, aber doch laut genug, dass es der Zuckerrohrbaron vernimmt. „Du bist eine von denen. Nimm dich in acht, dass ich dich nicht all zu schnell dorthin zurückjage.“ Dem Mädchen fröstelt, trotz der sengenden Hitze. Sie weiß, er hat recht. Sie hat schicke Kleider, aber kein Schmuckstück, das ihr Eigentum ist. Besuchen Sie einen Ball, so leiht er ihr ab und zu eine Brosche aus. Zuhause zurück, muss sie das Schmuckstück sofort wieder abliefern. Das Absurde ist, die früheren Geliebten tragen auf den Bildern denselben Schmuck. In ihrem Geldbeutel befinden sich zehn Reias für den Fall, dass sie sich mal verläuft. Einmal wagte sie sich einen Lippenstift von dem Geld zu kaufen. Sie wird den Fußtritt nicht vergessen, den ihr der Zuckerrohrbaron am Abend versetzt. Sie wird ein Vogel im goldenen Käfig bleiben. Je eher sie diese Tatsache akzeptiert, um so leichter wird ihr Leben sein. Tapfer drängt sie die aufsteigenden Tränen zurück. Sie lässt sich diese Reise und den Traum von einer Stadt nicht vermiesen. Anders in São Paulo: der Himmel ist bewölkt. Jeden Moment wird wieder der gefürchtete Nieselregen, garoa genannt, einsetzen. Heute steigen sie in einem kleinen, billigen Hotel ab. Der Zuckerrohrbaron wirkt zerstreut. In seiner schlichten Hose und dem abgetragenen Hemd könnte er ein Landstreicher sein. Alua streift sich ebenfalls ein schlichtes Kleid über. Als sie ausgehen, schmiegt sich das Mädchen ängstlich an ihren Begleiter. Sie findet die Gegend widerlich. Alte, teils verfallene und unbewohnte Häuser zu beiden Seiten der engen Straßen. Zudem hängen überall finster aussehende Gestalten herum und zum wiederholten mal hat das Mädchen das Gefühl, dass sich eine dubiose Person an ihre Fersen heftet. Sie sind gerade im Begriff, eine Fußgängerbrücke zu überqueren, die eine achtspurige Fahrbahn überspannt, als das Entsetzliche geschieht: Unten auf der Fahrbahn ist ein Passant beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst worden. Der Fahrer hat das Haltesignal nicht beachtet. Mit quietschenden Bremsen kommt das Kraftfahrzeug zum Stehen. Fahrer und Beifahrer springen aus dem Fahrzeug, öffnen die Ladeklappe des Kombis, legen den Verletzten hinein und rasen weiter. Ein fürchterlicher Donnerschlag setzt der Szenerie ein abruptes Ende. Im Laufschritt flüchten Alua und ihr Begleiter vor dem heftig einsetzenden Regen ins Hotel zurück. Der Zuckerrohrbaron bestellt eine Taxe. Er wird nochmals ausgehen. Alleine! Zurück bleibt eine verstört dreinblickende Alua. Sie versteht nicht, warum sie in Rio ihre Flugtickets verfallen lassen und mit dem alten Überlandbus weiterreisen. Noch jetzt zittert sie am ganzen Körper, wenn sie an die Fahrt vom Busbahnhof in die Stadt denkt. Der überfüllte Vorstadtbus, der sich durch die Müllhalden quält, auf denen Menschen wie Ameisen herumkriechen, um etwas Verwertbares zu finden. Alte Menschen sitzen stumpfsinnig in Betonringen, eine vorzeitig verwelkte Frau lugt aus einem alten Sack hervor, den sie ängstlich festhält. Unter einer Brücke entdeckt sie einen Gasherd. Bettler haben sich hier aus Pappe einen Unterstand gebaut. So viel Armut ist kaum zu ertragen.

Der Zuckerrohrbaron kommt rasch zurück. Er wirkt gelöst. Die Anspannung des Tages ist von ihm gewichen. Alua bemerkt, dass er seine schwarze Aktentasche nicht mit zurückgebracht habe. Böse blickt sie der Alte an und erwidert mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldet, sie würde sich wohl irren. Er habe niemals solch eine Aktentasche besessen. Er zieht das Mädchen auf seine Knie. Dies ist das Zeichen zum beginnenden Liebesspiel.

Alua

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