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Die Landbesetzer, sem terras genannt

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Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht, „die sem terras sind zurückgekehrt“. Auch unter dem neuen Präsidenten greift diese Bewegung weiter um sich, und noch immer ist kein parlamentarischer Plan erkennbar, der dieses Jahrhundertproblem der Landverteilung lösen könnte.

Seit die Landlosen bei ihrer letzten Attacke auf die Insel auch eine nur 70 ha kleine Farm besetzen und verwüsten, ist Großvater auf der Hut. Er verstärkt sofort die Wachen und lässt die Grenzen seines kleinen Landgutes Tag und Nacht durch bewaffnete Patrouillen bewachen. Großvater ist kein Großgrundbesitzer. Er pflegt und bewirtschaftet sein kleines Gut intensiv. Umso empörter ist er darüber, dass die Landlosen entgegen ihrer Devise „Kampf dem Brachland der Großgrundbesitzer“ nun auch Übergriffe auf bewirtschaftete Ländereien kleiner fazendeiros starten. Ihre Schilder „Willkommen ist hier Jedermann“, die sie an die Zufahrten der besetzten fazendas nageln, sind nicht nur in Großvaters Augen ein Schlag gegen Recht und Ordnung. Ganz abgesehen davon, dass sich die Übergriffe gegen den neuen Präsidenten, der doch aus den Reihen des Arbeitervolkes kommt, richten, und dem sie mit ihrem gesetzeswidrigen Verhalten schaden. Celina klettert mit João in den klapprigen VW, um zur Sonnenbucht zu fahren. Sie wollen sich von den neuerlichen Attacken der sem terras selbst einen Eindruck verschaffen. Mit Schaudern denkt Celina an die Ankunft der Landbesetzer vor drei Jahren zurück. Eines Morgens sind sie plötzlich da. Die herbeigerufene Polizei wagt schon lange nicht mehr einzugreifen. Mit Schrecken denkt man an die Bilder, die um die Welt laufen, als es bei früheren Zusammenstößen zu Todesfällen kommt. Celina erzählt João, wie sie bei der damaligen Besetzung mit einer europäischen Journalistin zu der angegriffenen fazenda pilgert, die zudem noch Freunden von ihnen gehört. Die sem terras stehen wie eine Mauer im Zugang zu der fazenda. Schweigend und mit bösen Blicken mustern sie die beiden Frauen, die sich nicht einschüchtern lassen, sondern forsch auf sie zugehen. Aus der Gruppe der Landlosen tritt schließlich ein Mann hervor. Er nennt höflich seinen Namen, bevor er nach dem Begehren der Besucher fragt. „Fotografieren?“, fragt er erstaunt, ja das werde er genehmigen. Bei dem anschließenden Rundgang über das Gelände achtet er jedoch darauf, dass die Journalistin nur unverfängliche Aufnahmen ablichten kann. So zum Beispiel Frauen und Kinder, die Hängematten an Holzpfosten befestigen. In den nächsten Tagen werden diese Pfosten zu Stützpfeilern für die Holzhütten, die sie neu errichten, doch darüber wird es keine Fotos geben. Als die Journalistin das rauchende Arbeiterhaus, das nur noch ein trauriger Schutthaufen ist, fotografieren will, drängt der Landlose sie zur Seite. Verwüstungen durch die sem terras dürfen nicht im Bild festgehalten werden. Die kleine Gruppe marschiert weiter entlang des Zaunes. Begleitet wird sie von zwei Leibwächtern, die furchterregende Macheten schwingen. Noch heute überläuft Celina ein Schauer, wenn sie an diesen Vormittag zurückdenkt. Bei der Verabschiedung lädt der Landlose die Besucher zum Wiederkommen ein. Sie seien jederzeit willkommene Gäste und könnten auch gerne zu einem Mittagessen vorbeischauen. Später wird Celina erfahren, dass die Landbesetzer an eben diesem Vormittag das dritte von vier Rindern der Freunde geschlachtet haben. „Ja, was bleibt von den Parolen der sem terras, die ein Stück Land für jeden Genossen versprechen? Verwüstung, abgebrannte Palmen, zerstörte und ausgeplünderte Häuser. Du wirst es bald selbst sehen, João!“, schreit die sonst so beherrschte Celina empört. Ihr Freund schweigt. Er muss auf die Straße achten, die sich in einem jämmerlichen Zustand befindet. Auf der buckeligen Fahrbahn mit ihrem unebenen Asphaltbelag werden die tiefen Löcher oft erst in letzter Sekunde sichtbar. Joãos Reaktionsvermögen unterliegt ständig neuen Prüfungen. Doch die unebene Piste ist nicht der einzige Grund für Joãos Schweigen. Der junge Lehrer ist ein Verfechter der Landreform. Er ist fest davon überzeugt, dass sie kommen muss, wenn Brasilien nicht auf der Stelle treten oder sogar rückwärts gehen will. Nur wie das in der Praxis aussehen soll, das vermag auch er nicht zu sagen. Immer wenn ihre heftigen Diskussionen an diesem Punkt ankommen, verschanzt er sich hinter den Agrarreformern, die eben eine Lösung erarbeiten müssen. Diese Aussage macht die praktisch denkende Celina noch wütender, weil im Rathaus dieselbe Partei regiert, deren Wähler das Land besetzen, parzellieren und anschließend verkaufen. Celina steht auch dem neuen Programm „Saatgut für die Besetzer“ kritisch gegenüber. Auf der kilometerlangen Fahrt zur Bucht machen sie ein einziges kleines Salatbeet aus. Die junge Lehrerin hat schon zu oft beobachtet, dass zwar eine Aussaat erfolgt, aber dann, noch bevor die erste Ernte heranreift, das Land verkauft ist. Die Besetzer verschwinden über Nacht, so wie sie gekommen sind. Celina ist überzeugt, dass viele Landlose zweimal kassieren: Einmal von der Regierung für das Sesshaftwerden und dann aus dem Landverkauf. „Gerade deshalb muss eine parlamentarisch autorisierte Landreform in Gang gesetzt werden. Brasilien braucht sie, wie ein Zuckerkranker das Insulin“, antwortet João schwach, bevor er das Lenkrad herumreißt. Dieses Loch hätte ins Auge gehen können. Sie sind noch weit von der Bucht entfernt. Wo vor wenigen Wochen die üppig grünen Palmenhaine Kühle spendeten, starrt den Besuchern jetzt nur noch verkohlte Erde entgegen. Die wenigen trostlosen Hütten der sem terras inmitten der verbrannten Erde stimmen die Lehrer unsäglich traurig. „Der einzige Unterschied zu früheren Besetzungen ist, dass die schwarzen Zeltplanen durch blaue ersetzt wurden“, bemerkt Celina mit einem sarkastischen Lächeln. Das triste Bild ändert sich etwa zwei Kilometer vor der Bucht. Hier entstehen neue Häuschen, einfach gemauert, unverputzt, aber weit und breit keine Gemüsebeete, geschweige denn ein Gärtchen. Die Anwohner, recht wild aussehende Gesellen, belagern den Straßenrand. Sie hocken oder liegen halb auf der Fahrbahn und scherzen mit den jungen Mädchen, die gelegentlich vorbeikommen. Die Kraftfahrzeuge, die sich auf der mit Schlaglöchern gespickten Straße ihren Weg suchen, beachten sie nicht. Ebenso unverfroren wie die auf dem Asphalt ausgestreckten Burschen nehmen die Radfahrer die Straße in Beschlag. Zu zweit oder auch zu dritt fahren sie nebeneinander. Da nicht auch nur ein Fahrrad eine Beleuchtung hat, werden sie bei der schnell einbrechenden Dunkelheit zum ernsthaften Problem. Endlich erreichen die jungen Lehrer die Bucht, doch der Appetit auf ein kühles Bier ist ihnen vergangen. Die wenigen Menschen, denen sie begegnen, wirken resigniert. Die Außenfassaden der Häuser sind durch die Tropenregen verwaschen, und niemand scheint Lust oder Geld zu haben, um seinem Häuschen wieder einen farbenfrohen Anstrich zu geben.

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