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Eine böse Überraschung
ОглавлениеCelina kommt mit erhitzten Wangen von ihrem Ausritt zurück. Als sie über den Hof eilt, läuft sie Dom Augusto direkt in die Arme. Der alte Herr ist glücklich, seine Enkelin wieder zu Hause zu haben. Sie ist sein ganzer Stolz und seine Vertraute. Deshalb schmerzt es ihn auch besonders, dass er ihr gleich weh tun muss. Doch Dom Augusto ist für klare Verhältnisse. Liebevoll hakt er sich bei Celina unter. Sein Rheumatismus plagt ihn heute. Leicht hinkend führt er seine Enkelin tief in den Garten hinein. Die Blütensträucher bilden hier einen lebenden Zaun. Nur ein enger Pfad schlängelt sich durch dieses blühende Labyrinth. Jetzt wird der Weg noch schmaler. Die dornigen Rosenhecken verhindern fast das Durchkommen. Bei jedem Schritt laufen sie Gefahr, sich in den Dornen zu verfangen oder im dichten Unterholz zu straucheln. Plötzlich krampft sich Celinas Herz zusammen: Alua, es kann sich nur um ihre Pflegetochter handeln, dass Großvater so schweigsam ist und mit solch einer verbissenen Miene die Dornen zur Seite schiebt. Unerwartet endet der Pfad auf einer kleinen Lichtung. Es trennen sie nur noch wenige Meter von dem alten Geräteschuppen. Nachdem die neuen Stallungen fertiggestellt sind, ist er in Vergessenheit geraten. Großvater stapft noch immer schweigend dahin. Jetzt sperrt er die Türe zum Schuppen auf, tritt ein und öffnet den Fensterladen. Celina folgt zögernd. Im Schuppen ist es dämmrig. Trotzdem fühlt sie, irgendetwas stimmt hier drinnen nicht. Sie ist irritiert. Es gibt in dem kleinen Raum keine Spinnengewebe, kein Gerümpel. Im Gegenteil, der Raum scheint bewohnt zu sein. Neugierig blickt sie sich um. Das gibt es doch nicht. Überall stehen und liegen Gegenstände, die ihr in den letzten Monaten abhanden gekommen sind. „Großvater“, stößt Celina mit brüchiger Stimme hervor. „Ich kann nachfühlen, wie dir zumute ist“, brummt Dom Augusto. „Aber je eher du es weißt, je besser ist es für dich. Dein Schützling ist eine Diebin und eine macumbeira.“ Lange betrachtet die junge Lehrerin all die Utensilien, die Alua hier zusammen geschleppt oder richtigerweise, geraubt hat. Großvater öffnet eine kleine Dose. Celina findet darin ihre Geldbörse und einhundert Reais. Es ist die Geldbörse, die sie nach Aluas Abreise so verzweifelt gesucht hat. Auf dem Kaminsims liegt ihre silberne Kette und auf dem Boden ihre seidene Bluse. Achtlos weggeworfen, wie einen alten Scheuerlappen. Mit zitternden Händen öffnet Celina Aluas schmale Zeichenmappe. Bilder flattern zu Boden. Als Celina diese wieder einsammelt, starrt sie entsetzt auf eine Kohlezeichnung. Eine riesige Schlange, in deren weit aufgerissenem Maul ein Kind verschwindet! Die Zeichnung trägt das Todesdatum des Kleinen. Dom Augusto schiebt seine verstört dreinblickende Enkelin sachte aus dem Schuppen. Sorgfältig verschließt er Fenster und Türe. Den Schlüssel steckt er ein. Schweigend zwängen sich Großvater und Enkelin durch die Dornenwand zurück. Wie in Trance schreitet Celina dem Haupthaus zu. Besorgt sieht João, wie eine bleiche, zitternde Celina im Büro von Dom Augusto verschwindet. Die junge Lehrerin berichtet ihrem Großvater nun in allen Einzelheiten die Vorkommnisse im ersten Schuldorf. Als sie mit ihrem Bericht zu Ende ist, sieht sie Dom Augusto fragend an. Nun ist es an Großvater, zu erzählen, was er in den letzten Monaten auf dem Landgut beobachtet hat: die wachsende Unruhe und Unstetigkeit des Mädchens haben Dom Augusto bewogen, ein wachsames Auge auf es zu richten. Da der alte Herr in den Vollmondnächten noch weniger Schlaf als gewöhnlich findet, verbringt er viel Zeit auf der kleinen Veranda vor seinem Schlafzimmer. Es fällt ihm auf, dass Alua, wenn es still im Hause geworden ist, über den nächtlichen Hof huscht. Er beauftragt den Nachtwächter, ihr nachzugehen. Doch Alua kann stets entwichen. Das naheliegendste ist, dass sich das junge Mädchen mit einem der Stallknechte in einer dunklen Ecke vergnügt. Dem will Dom Augusto einen Riegel vorschieben, und so bietet es sich an, Alua mit Celina auf die Reise zu schicken. Großvater ist bewusst, dass das Mädchen keine angenehme Reisegefährtin sein wird. Aber Celina wollte es unbedingt aufnehmen, so liegt es auch in ihrer Verantwortung, es zu schützen. Großvater will Alua aus dem Bereich der lüsternen Männerblicke entfernen. Er hat es so oft erlebt. Immer das gleiche Spiel. Die Burschen verführen die jungen Dinger, zeichnet sich dann aber eine Schwangerschaft ab, verschwinden sie meist auf Nimmerwiedersehen. Die Mädels sind natürlich auch nicht unschuldig. Das weiß der alte Mann aus eigener Erfahrung. Celinas Mutter ist die Frucht solch heißer Liebesnächte. Seine Gattin, Gott hab sie selig, hat das Körbchen mit dem schreienden Baby wortlos in das gemeinsame Schlafzimmer gebracht. Es war im Morgengrauen vor dem Eingang des Herrenhauses abgestellt worden. Eigene Kinder blieben seiner Gattin versagt, und so schenkte sie all ihre Liebe diesem kleinen Findelkind.
Dom Augustos Blick scheint aus weiter Ferne zurückzukehren, als er seinen Bericht fortsetzt: nach eurer Abreise verfängt sich der Drachen eines der Kinder des Nachtwächters in den Blütenhecken. Tja, und bei der Suche nach dem Drachen finden die Kinder den verborgenen Pfad, der zu dem Schlupfwinkel führt. Dom Augusto öffnet den Schuppen und so wird Aluas Treiben Stück für Stück, wie ein Puzzle zusammengefügt. In diesen Tagen trifft auch Celinas erster Reisebericht ein. Der Brief wirkt zum Ende hin so verkrampft, dass Dom Augusto weiß, dass etwas schreckliches vorgefallen sein muss. Sofort tippt er auf Alua und beordert sie zurück. Dem Nachtwächter schärft er ein, Stillschweigen über die Entdeckung zu wahren. Er will das Mädchen auf frischer Tat ertappen. Es dauert nicht lange, bis Alua zu dem Schuppen schleicht. Letzter schlüssiger Beweis sind die kleine Geldbörse, das Abschiedsgeschenk von Dom Augusto an seine Enkelin. Müde erhebt sich Celina. Sie wird noch ein letztes mal zur Hütte der Krabbenfischer gehen. Die junge Lehrerin fühlt sich wie in einem bösen Traum, aus dem sie unversehrt zu erwachen hofft. „Nimm João mit“, brummt Großvater. Er versteht nur zu gut die Enttäuschung seiner Enkelin. Aluas Eltern begrüßen den Besuch freudig. Trotzdem klingt ein leiser Vorwurf in der Stimme der Mutter, als sie fragt, weshalb Celina ihr Töchterchen alleine zurückgeschickt habe. Solch ein junges und unerfahrenes Kind sei doch gegen die Bosheiten der Welt noch nicht gewappnet. Erst jetzt fällt den Fischerleuten auf, dass Celina merkwürdig ernst dreinschaut. Gönnerhaft beendet die Fischerfrau ihre Beschwerde mit den Worten, dass ihre Tochter selbstverständlich am nächsten Morgen ins Herrenhaus zurückkehre. Offensichtlich hat das Mädchen ihren Eltern nichts von dem berichtet, was sich auf der Reise und im Herrenhaus zugetragen hat. Nun liegt es an den Besuchern, die Krabbenfischer aufzuklären. Die Eltern schweigen. Sie sind sichtlich erschüttert. Betroffen geht man auseinander. Beim Abendessen im Hause von Dom Augusto herrscht eine gedrückte Stimmung. Großvater, Celina und auch João stochern lustlos auf ihren Tellern herum. Allen ist klar, für Alua gibt es kein zurück. Sie hat ihre Chance gehabt und vertan. Da tritt Chica in den Speisesaal und verkündet, für Celina sei Besuch angekommen. Júlios massige Gestalt füllt bedrohlich den Türrahmen aus. Celinas erster Gedanke beim Anblick ihres Verlobten: „Fett ist er geworden und dieser schmierige Zwirbelschnurrbart, einfach widerlich.“ Als Júlio ihr einen Willkommenskuss auf die Wange haucht, möchte Celina angeekelt zurückweichen. Ein Alkoholdunst umgibt ihren Verlobten, und sein glasiger Blick lehrt sie fürchten. „Warum verlassen Großvater und João den Speisesaal?“, denkt sie verzweifelt. Sie geleitet ihren Verlobten in den kleinen Salon. Auf seine Vorwürfe, von wegen nicht geschrieben, antwortet sie nicht. Sie fühlt sich zu müde und ausgelaugt, um zu den unberechtigten Vorwürfen Stellung zu nehmen. Als Júlios Stimme an Schärfe zunimmt, wird Celina bewusst, dass sie ihm überhaupt nicht mehr zuhört. Wie aus weiter Ferne dringen seine nächsten Worte in ihr Bewusstsein: „Wir müssen über unsere Vermählung reden. Ich gehe in die Politik, und da brauche ich eine Frau, mit der ich repräsentieren kann,“ „und ihr Geld“, tönt es trocken von der Türe her. Es ist die Köchin Chica, die soeben ein Tablett mit Saft hereinträgt. Kein anderer Dienstbote würde es sich anmaßen, in die Unterhaltung der Herrschaften einzugreifen. Gläser klirren über die Kacheln. Júlio verlässt fluchend das Haus. Celina sitzt am nächsten Morgen schon früh mit einem Espresso auf der Terrasse. Vergangene Nacht hat sie kaum Schlaf gefunden. Das „in die Hände klatschen“ verrät ihr, dass jemand um Einlass bittet. Wer mag das zu so früher Stunde sein? Fragend schaut sie zum Tor? Da stehen Alua und ihre Eltern. Verlegen treten sie ein. Aus Dona Elisas Mund sprudeln die Worte wie ein Wasserfall: ihre Tochter habe gestanden, den kleinen Geldbeutel entwendet zu haben. Celina sieht Alua forschend an und fragt, ob sie nicht ein umfassendes Geständnis ablegen will. Trotzig schüttelt das Mädchen den Kopf und bestreitet heulend all die anderen Diebereien. Mit traurigem Blick erhebt sich Celina. Auf Lügen kann sie keinen neuen Anfang aufbauen. Es ehrt zwar Dona Elisa und Dom Pedro, dass sie den Mut aufbringen und sich für ihre Tochter entschuldigen, aber Tatsache bleibt, das Mädchen zeigt keine Reue. Als Celina die drei nach kurzem Gespräch verabschiedet, ist eine Freundschaft unwiderruflich zerbrochen. Natürlich hat Dona Elisa, vielleicht sogar ungewollt, dazu beigetragen, dass ihre Tochter zur Diebin wurde. Die vielen versteckten Forderungen seitens der Mutter an das Herrenhaus konnte die Lehrerin nicht erfüllen, und Alua wusste das. Es gibt leider viele solche Konflikte in diesem so unterschiedlich strukturierten Land, und nicht wenige Menschen versuchen, auf diesem schmalen Grad zwischen Recht und Unrecht zu balancieren. Mit festen Schritten eilt die junge Lehrerin zur Schule. Das neue Schuljahr beginnt, und Celina ist trotz der großen Enttäuschung, die sie gerade erfahren hat, bereit, ihren Schülern aufs Neue ihre Hilfe anzubieten.