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Geschichte erleben

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Die Schüler jubeln und klatschen Beifall. Zum Beginn des neuen Schuljahrs präsentiert ihre Lehrerin soeben eine tolle Überraschung: Dona Celina, die junge Lehrerin, wird den Geschichtsunterricht in diesem Jahr in die Baia do Marajó verlegen. Einen vollen Monat dürfen die Schüler in Großvaters kleinem Bauernhof zu Gast sein, um dort die Geschichte Brasiliens nicht nur aufzuarbeiten, sondern auch hautnah nachzuerleben, „wir werden weit zurückgehen. Ihr wisst, die Kolonisierung Brasiliens beginnt lange vor der Entdeckung durch die Portugiesen im April 1500. Da gibt es Wissenschaftler, die Zeichen der ersten Besiedlung festgestellt haben wollen, die 30.000 Jahre zurückliegen. Andere sprechen von 12.000 Jahren. Tatsache ist, dass wir uns diese Zeiträume kaum vorstellen können. Die ersten uns bekannten Menschen, die in dem heutigen Brasilien ihr Zuhause finden, sind Indianer. Die überwiegende Zahl der Wissenschaftler vertritt die Meinung, dass diese Ureinwohner von Asien gekommen sind. Es muss zu jener Zeit gewesen sein, als es zwischen Sibirien und Alaska eine Landverbindung gibt. Der Meeresspiegel hatte sich aufgrund klimatischer Einflüsse vorübergehend gewaltig gesenkt. Die wieder verschwundene Landverbindung ist dort, wo sich die heutige Behringstraße befindet,“ erklärt die Lehrerin einer gespannt zuhörenden Schülerschar. Die Reisevorbereitungen nehmen Lehrer und Schüler voll in Anspruch. Die Zeit verrinnt wie im Fluge und plötzlich ist der Tag der Abreise angebrochen. Die Schüler können es kaum fassen, dass sie in ihrem eigenen Omnibus reisen werden, und dass derselbe ihnen auch in Marajó für kleine Exkursionen zur Verfügung stehen wird. Die Abfahrt zur Schiffsanlegestelle ist für pünktlich fünf Uhr früh angesetzt, denn die Autofähre läuft nur einmal täglich aus. Eine halbe Stunde später stehen die Schüler aufgeregt an der Reling des Schiffes. Für die meisten ist es die erste Reise. Den Eltern fehlt einfach das Geld, um eine Schiffspassage kaufen zu können. Pünktlich lassen die starken Schiffsmotore die zweistöckige Autofähre erzittern. Rasch nimmt sie Fahrt auf. Die erste Amazonasinsel ist schon passiert, gerade taucht ihre Insel auf. Die Schüler suchen aufgeregt nach Erkennungsmerkmalen. Der markanteste Punkt ist natürlich der hohe Sendeturm für die Telefonanlagen des gesamten Staates. Die Fischerjungen, welche die Insel von der Flussseite kennen, schneiden natürlich ganz schön auf und haben, wie kann es anders sein, sofort eine Schauergeschichte parat: Da soll doch tatsächlich der Großraum Belém auf dem Rücken einer mächtigen Schlange erbaut sein. Wenn sich die Schlange eines Tages auf Futtersuche begibt, dann wird die Stadt, mit all ihren Bewohnern, in die Tiefe der Guajará-Bucht gerissen. Die Kleinen sind sichtlich beunruhigt und atmen hörbar auf, als sie den Einzugsbereich der Schlange verlassen und die nächste Insel in Sicht kommt. Hier dreht die Fähre ab und fährt weit in die Bucht hinaus. Es dauert nicht allzu lange, bis der schmale Küstenstreifen von Marajó die Kinder in Aufregung versetzt. Celina mahnt sie, ihre Siebensachen zusammenzusuchen. In knapp einer halben Stunde wird man im Hafen von Camará an Land gehen. Welche Abenteuer wird die kleine Gruppe auf der Insel erwarten? Gespannt fiebern die Schüler der nun schnell näher kommenden Küste entgegen.

Der Bus holpert schon geraume Zeit über die endlosen Viehweiden. Fünf große Jungs sind dafür abgestellt, die Gatter, welche die Weiden voneinander trennen, zu öffnen und, nachdem der Bus passiert ist, wieder zu schließen. Die bulligen Büffel, die in kleinen Trupps den Wasserstellen zustreben, flößen schon Respekt ein. Die Jungen möchten ihnen keinesfalls zu Nahe kommen. Gerade entdeckt eines der Kinder hinter einer Baumgruppe den kleinen Bauernhof. Im Bus wird es unruhig, als sie in die palmengesäumte Allee einbiegen. Kaum hält der Bus, da stürzen die älteren Kinder auch schon los, um im Schlafsaal einen ihnen genehmen Platz für die Hängematte zu ergattern. Doch diese Eile war umsonst. João kennt seine Rasselbande. Er weiß genau, wen er vor wem fernhalten muss, damit die Kleinen die nötige Nachtruhe bekommen. Er zückt seinen Plan, liest mit erhobener Stimme die Hausordnung vor und weist die Schlafplätze zu. Die Hängemattenhaken am Ausgang sind selbstverständlich dem Betreuer vorbehalten. Mit dieser Maßnahme will er sicherstellen, dass des Nachts niemand zu verbotenen Streifzügen aufbricht. Der Schlafsaal der Mädchen liegt auf der anderen Seite des Gebäudes. Die sechs Waschanlagen im Freien und die Stehklosetts erwecken allgemeine Heiterkeit. Nachdem das Reisegepäck verstaut ist, begeben sich die Schüler mit ihren Lehrern auf einen gemeinsamen Rundgang durch das Gehöft. João stellt nochmals klar, was erlaubt und was verboten ist. Er lässt keinen Zweifel daran, dass diejenigen, die gegen die Hausordnung verstoßen, mit der nächsten Fähre zurückgeschickt werden. Nach der gemeinsamen Begehung des Hofes bleibt den Schülern bis zum Abendessen Zeit, auf eigene Faust ihr neues Domizil zu erkunden. „Der Schulunterricht beginnt morgen zur gewohnten Zeit“, fügt Celina den Ausführungen des Lehrers hinzu. Die junge Lehrerin versteht es meisterhaft, die Geschichte Brasiliens mit einfachen Worten so fesselnd darzustellen, dass alle Augen gespannt an ihren Lippen hängen. Die Schüler erfahren, dass die Ureinwohner Brasiliens, nämlich die Indios, in vier große Sprachräume eingeteilt waren: Es sind die tupi, beheimatet im Gebiet zwischen den heutigen Bundesstaaten Amazonas und Rio Grande do Sul; die gê, ansässig im weiter östlich liegenden Araguaia – Tocantins – Becken; die carib, anzutreffen im Mato Grosso und Nordamazonas und die arauaque, zu finden im Pantanal und Westamazonas. Die Ankunft der Portugiesen am 22.04.1500 unter Pedro Álvares Cabral ist natürlich eine bekannte Tatsache. Das Aufeinanderprallen dieser so unterschiedlichen Kulturen und ihre Auswirkung auf das Leben der Indios wird vielen Schülern aber erst jetzt so richtig bewusst. „Die Menschen, in der Abgeschiedenheit des tropischen Regenwaldes, können sich nicht vorstellen, dass man im fernen Europa für den Winter Vorsorge treffen muss, weil da eben sogar nichts mehr wächst, und dass man zudem warme Kleidung und eine geheizte Wohnung benötigt. Wer es während der Besiedlungszeit Südamerikas im von Hungersnöten geplagten Europa nicht versteht, rechtzeitig für die kalte Jahreszeit vorzusorgen, spielt mit seinem Leben. Diese Notwendigkeit liegt außerhalb des Vorstellungsvermögens der Indios. Für sie gibt es nur ihren eigenen begrenzten Lebensraum. Da auch lange Zeit keine sprachliche Verständigung mit anderen Indios möglich ist, leben die verschiedenen Volksgruppen recht isoliert nebeneinander her. Man bedenke, es konnten weder die einzelnen Indiostämme untereinander kommunizieren, geschweige denn, die Indios mit den Europäern. Auffällig ist, dass alle Indios unbefangen und freundlich auf die Fremden zugehen. Ganz anders die Europäer: bedingt durch den ständigen Überlebenskampf in ihrer fernen Heimat ist ihr Handeln von Anfang an auf Profit und Unterjochung ihrer Umwelt ausgerichtet.“ Celina macht es Spaß, nach ihrem einleitenden Vortrag die Schüler in eine lebhafte Diskussionen zu verwickeln. Sie weiß, eine gesunde Portion Selbstbewusstsein gehört zum Rüstzeug eines tüchtigen Menschen. Die Lehrerin muss lächeln, wenn sie daran zurückdenkt, welch eine passive und desinteressierte Schülerschar ihr bei Übernahme ihres Lehrauftrags gegenüber saß. Heute morgen hat João eine Überraschung für die Kinder. Er schlägt vor, man könne doch nächste Woche, nämlich am 22. April, die Ankunft der Portugiesen schauspielerisch darstellen. Anstatt mit dreizehn Karavellen würden sie eben mit einem Floß anlanden, und die Ankunft müsse ja auch nicht unbedingt in Porto Seguro, das im heutigen Bundesstaat Bahia liegt, stattfinden. Der Strand von Joanes auf der Insel Marajó wäre der Baía Cabrália durchaus ebenbürtig. Gesagt, getan. Die kommenden Tage verbringen die Schüler mit dem Zuschneiden von Floßteilen, die dann am Wochenanfang mit dem Bus zum Strand transportiert und dort unter der fachkundigen Anleitung von João zu einem seetüchtigen Floß zusammengefügt werden. In die über vierzig Kilometer breite Bucht von Marajó dringt schon das Wasser des Atlantiks. Folglich kann es hier recht stürmisch werden. Meterhohe Wellen donnern an diesen Tagen zum Strand. Celina überprüft sorgfältig die Schwimmkenntnisse der Schüler. Nur sichere Schwimmer werden mit dem Floß anlanden. Währenddessen stellen die jüngeren Kinder unter Anleitung der Ehefrau des Verwalters Baströckchen her. Andere sammeln Beeren und Früchte, die dann an den langen Abenden im Schein der Petroleumlampen zu Halsketten und bunten Haarbändern verarbeitet werden sollen. Am Nationalfeiertag fehlen selbst die braunen Kutten nicht, welche die Jesuiten tragen. Die erfinderische Celina hat Kaffeesäcke braun einfärben lassen. Die Bewohner aus den umliegenden Dörfern kommen an dem Feiertag schon frühzeitig zum Strand. Es hat sich schnell bei den Inselbewohnern herumgesprochen, dass eine kostenlose Theateraufführung stattfindet, und zudem noch Freiwillige als Statisten gesucht werden. Die improvisierte Ankunft der Portugiesen wird ein voller Erfolg, und die Besucher halten nicht mit Beifallskundgebungen zurück. Dom Augusto und Celinas Mutter sind bereits am Vorabend angereist. Sie wollen sich dieses Spektakel ebenfalls nicht entgehen lassen, das, wie Dom Augusto in seiner anschließenden Rede gerührt zum Ausdruck bringt, all seine Erwartungen übertrifft. Als Dank lädt er die Schüler für den nächsten Vormittag zu einem Ausflug in das Museum in Cachoeira do Ararí ein. Das Museum ist in einer schlichten Halle untergebracht. Umso reicher sind jedoch die Funde, die von den Archäologen hier zusammengetragen werden. Die Sammlungen spiegeln fünf Zeitalter der indianischen Geschichte wieder: Es sind: ANANATUBA 980 v.Chr. +/- 200 Jahre, MANGUEIRAS zeitgleich mit dem letzten Drittel von ANANATUBA/FORMIGA 100-400 n. Chr., MARAJOARA 480 n.Chr. +/- 200 Jahre, 580 n. Chr. +/- 200 Jahre und 690 n. Chr. +/- 200 Jahre und ARUA 12. – 18. Jahrhundert. Die ältesten Funde werden der Zeit 980 v.Chr. Zugeordnet. Bemerkenswert ist, dass es selbst innerhalb einer Epoche unterschiedliche Lebensstandards unter den Indianern gibt. Noch bewahren die Grabstätten auf der Insel Marajó und in ganz Amazonien viele Geheimnisse. Erstaunlich ist, dass die Chronik der Missionare keine Hinweise darauf geben, dass die Indianer bereits eine beachtenswerte Kulturstufe erreicht hatten. Es drängt sich die Frage auf, ob diese bei der Ankunft der Portugiesen schon wieder untergegangen war oder ob die europäischen Einwanderer in ihrer Überheblichkeit die fremden Kulturen überhaupt nicht erkannten? Celina kündigt rechtzeitig an, dass man über den Museumsbesuch einen Aufsatz schreiben werde. Damit will sie erreichen, dass die Schüler den Ausstellungsstücken die gebührende Beachtung schenken. Die Schüler erfahren ferner, dass durch die Kolonisierung Brasilien bald zum Tummelplatz der Europäer wird. Portugiesen, Spanier, Franzosen und Holländer werden sich im offenen Kampf um die Vorherrschaft in Südamerika gegenüberstehen. Sie werden die Indios versklaven und damit nicht genug, sie werden schwarze Sklaven aus Afrika heranschiffen und unter miserablen Bedingungen auf ihren Zuckerrohrplantagen schuften lassen. „Woher nehmen sich diese Fremden das Recht, andere Völker zu unterjochen und sich als weiße Herren aufzuspielen?“, fragt die Lehrerin empört. Ruhiger fährt sie fort: „Es ist schon eine große Arroganz, wenn man bedenkt, dass sie in ihren eigenen Ländern den Hungersnöten und Krankheiten hilflos gegenüberstehen. Bewohner ganzer Landstriche Europas werden in jener Zeit durch Epidemien, wie zum Beispiel die Pest, dahingerafft. Betrachten wir Lissabon: vor dem fürchterlichen Erdbeben am 1.11.1755 leben die Menschen in dieser Stadt in engen, dunklen Gassen, in denen der Schmutz ein ständiger Begleiter und Nährboden für Infektionen ist. Diebesbanden streichen zudem des Nachts durch die Gassen, und so zieht es die verängstigte Bevölkerung vor, bei Einbruch der Dunkelheit ihre Häuser nicht mehr zu verlassen. Ein anderes großes Problem Lissabons ist der Mangel an Trinkwasser. Es ist eines der kostbarsten Güter jener Zeit und durchaus nicht für alle Bevölkerungsschichten bezahlbar. Unglücklicherweise haben die Ureinwohner Brasiliens keine Vorstellung davon, welch widrige Umstände mit ein Grund dafür sind, dass die Weißen in ihrer Heimat aufbrechen, um neue Lebensräume zu erschließen. Hätten sie die Probleme und Absichten der Fremden auch nur ansatzweise gekannt, wären sie ihnen wohl nicht so unbefangen entgegengetreten.“ Das soeben Gehörte stimmt die Schüler nachdenklich. Die Geschichte ihres Landes wird künftig nicht mehr nur aus Jahreszahlen und Fakten bestehen, die man büffeln muss. Da gibt es Hintergründe zu beachten und es drängen sich Fragen auf, wie die Entwicklung ihres Landes verlaufen wäre, wenn das eine oder andere Ereignis nicht, oder zu einem anderen Zeitpunkt eingetreten wäre. Zum Ende des Geschichtskursus blicken nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrkräfte mit Freuden auf die gemeinsam verbrachte Zeit auf Marajó zurück.

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