Читать книгу Alua - Gesine Kunst - Страница 14
Celina geht erneut auf Reisen
ОглавлениеDie Koffer sind gepackt. Es gibt quasi nichts mehr zu tun. Celinas Referendarzeit ist vorüber. Morgen wird sie für drei Monate nach Recife reisen, um ihr zweites Staatsexamen abzulegen. Celina, die begeisterte Lehrerin, fragt sich, ob sie dieses zweite Staatsexamen überhaupt noch ablegen will? Mit diesem Diplom in der Hand wird sie die Berechtigung erhalten, die Schüler bis zum segundo grão zu führen. Hierzu fehlt ihrer Schule aber die staatliche Genehmigung. Mit anderen Worten, Celina wird sich um eine Stelle an einer weiterführenden Schule bewerben müssen, wenn sie eine ihrer Ausbildung gerecht werdende Tätigkeit ausüben will. Da sind aber ihre Schüler und deren Familien, die ihr ans Herz gewachsen sind. Nicht zu vergessen João, dessen Nähe sie ebenfalls nicht mehr missen möchte. Aber auch seine Zukunft ist ungewiss. Bekommt er seine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis nicht verlängert, wird er bei ihrer Rückkehr Brasilien schon in Richtung Europa verlassen haben. Celina fröstelt bei dem Gedanken, dass João nicht mehr Seite an Seite mit ihr arbeiten wird. Zu ihrem Verlobten hat Celina quasi keine Beziehung mehr. Als bei seinem kürzlichen Besuch die Gläser über die Steinfliesen klirren, zerbrechen in ihr die letzten Gefühle für den Mann, der ihr schon seit geraumer Zeit fremd geworden ist. Trotzdem fühlt sich Celina sittlich und moralisch verpflichtet, die Verlobung aufrechtzuerhalten, weil sie keine Gründe vorbringen kann, die für eine Lösung des Verlöbnisses sprechen. Im Kloster hätte man gerne gesehen, dass die begabte Schülerin eine Ordensfrau geworden wäre. Celina, die von dem Wirken der Klosterfrauen überzeugt ist, hat diese in ihrem Eifer so manches mal übertroffen. Letztendlich hat sie aber den Schritt, allem weltlichen zu entsagen, nicht gewagt. Doch heute, wo sie wiederum auf ihren gepackten Koffern sitzt, fragt sie sich ernsthaft, ob sich ihr nun nicht die letzte Möglichkeit bietet, hinter Klostermauern in Frieden zu leben. Sie weiß, mit Júlio wird sie nicht glücklich werden, und mit João kann sie keine Verbindung eingehen, weil sie nicht auf das Niveau ihres Vaters sinken will, der ständig Beziehungen zu mehreren Frauen hatte. Celina befürchtet, dass João sie gestern Abend nicht verstanden hat. Verzweifelt über die bevorstehende Trennung gesteht er ihr seine Liebe. Celina versucht dem Freund zu erklären, dass sie Júlio versprochen sei. Es ist ein kläglicher Versuch. Heute Morgen ist João zum Besuch einer weiteren Zwergschule abgereist. Es ist ein schrecklicher Moment, als sie sich zum Abschied die Hand reichen. Sie stehen sich schweigend gegenüber. Die unausgesprochene Frage: „Werden wir uns wiedersehen?“, steht zwischen ihnen. Zu allem Unglück kommt dann am Nachmittag noch Júlio. Celina zittert noch immer, wenn sie an die neuerliche Szene denkt, die ihr der Verlobte zum Abschied macht. Mit Nachdruck verlangt er die Einlösung ihres Heiratsversprechens. Er bringt ihren Vater ins Spiel und auch den kleinen unehelichen Bruder. Ja, er geht sogar so weit, dass er Dom Augusto außereheliche Liebschaften unterstellt. Celina ist empört. Trotzdem verabschiedet sie ihren Verlobten mit dem Versprechen, nach ihrer Rückkehr den Hochzeitstermin zu bestimmen. Zurückblickend auf den Nachmittag schluchzt Celina verzweifelt auf. Einen Verlobten, an den sie sich nur noch moralisch gebunden fühlt, einen Freund, der sich nicht mehr melden wird, weil er ihre Gefühle nicht noch mehr verwirren will. Jetzt kann ihr nur noch eine helfen, und das ist Chica, die schwarze Köchin. Celina schleicht durch die Hintertür in die Küche. Chica sitzt in ihrer gestärkten, weißen Schürze am Küchentisch. Mit den Worten: „Kind, ich habe dich erwartet“, empfängt sie Celina. „Gehen wir zur Gartenlaube.“ Chica schlurft in ihren ausgetretenen Hausschuhen voran. In der Hand trägt sie das schwarze Kästchen. In der Gartenlaube angekommen, zündet die Alte umständlich eine Kerze an. In dem flackernden Kerzenschein stellt Celina erschreckt fest, dass die Hände der geliebten Köchin zittern. Doch schon kullern die Muscheln über die Tischplatte aus Stein. Es herrscht atemloses Schweigen. Die Stille zerrt an Celinas Nerven. Sie wagt aber nicht, Chica zu befragen, was ihr die Muscheln verraten. Später erinnert sie sich nicht, wie viel Zeit verstrichen ist, bis Chica mit dünner, brüchiger Stimme zu sprechen beginnt: „Mein Kind, du wirst zurückkommen. Du wirst keine Klosterfrau.“ „Wie kann Chica meine Gefühle erraten?“, denkt Celina verblüfft? Da fährt die Alte auch schon fort: „Große Veränderungen stehen bevor. Letztlich werden es positive Geschehnisse sein. Da sehe ich aber auch einen Schleier, den nur du zerreißen kannst.“ Celina möchte nachfragen, doch Chica hat die Muscheln schon zusammengerafft und sorgfältig in ihrem Kästchen verstaut. Schweigend kehren die beiden Frauen zum Haus zurück. Celina ist merklich ruhiger. Die Panik, die sie zu überfallen drohte, ist von ihr gewichen. Sie hat aber auch zum ersten mal festgestellt, dass ihre heißgeliebte Chica alt geworden ist, und das stimmt sie traurig. Heute lässt es sich Großvater nicht nehmen, seine Enkelin zum Busbahnhof zu bringen. Trotzdem ist Celina etwas enttäuscht. Großvater ist mit seinen Gedanken weit fort. Schon zweimal hat sie ihn angesprochen und keine Antwort erhalten. Ständig ist er mit seinem Handy beschäftigt. Sie bereut es schon fast, dass sie ihm dieses Geschenk machte. Als sich der schwere Reisebus in Bewegung setzt, ist Großvater schon wieder am telefonieren. Celina möchte zu gerne wissen, was Großvater da ausbrütet. Zu spät! „Vielleicht wird er mir die Neuigkeiten ja schriftlich mitteilen“, und damit wendet sich die junge Lehrerin ihrer Busnachbarin zu, die zum wiederholten mal versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Die junge Frau mit den knallroten Haaren und der zu dick aufgetragenen Schminke ist so gar nicht Celinas Typ.Überrascht stellt die junge Lehrerin fest, dass ihre Platznachbarin sie mit Namen anspricht. Sie betrachtet das Mädchen nun aufmerksamer. „Rita, bist du Rita?“, fragt Celina stirnrunzelnd. Verlebt sieht das junge Ding aus. Ein ungutes Gefühl beschleicht Celina. Sie spürt es stets im voraus, wenn etwas unangenehmes auf sie zukommt. Innerlich atmet die junge Lehrerin auf, als sie erfährt, dass Rita nur bis São Luis mitfahren wird. Mehr aus Höflichkeit, als aus Interesse, erkundigt sie sich, was Rita nach São Luis führe. Freimütig berichtet Rita, ihr Patron, Dom Júlio, tausche die Mädels aus seinen Nachtclubs aus und außerdem sei augenblicklich Alua seine Favoritin. Celina erstarrt das Blut in den Adern. „Dom Júlio, mein Verlobter?“, stottert sie verwirrt. Rita verstummt schreckensbleich. Die junge Lehrerin hat ihre Gefühle schnell wieder unter Kontrolle. Streng fragt sie nach, ob von ihrem Verlobten die Rede sei. Rita windet sich, sucht Ausflüchte, doch als sie merkt, dass ihr von der ahnungslosen Lehrerin keine Gefahr drohe, packt sie voll aus. Celina erfährt auf der Fahrt nach São Luis vom Doppelleben Dom Júlios und dass er alle Mädels glauben lässt, seine Verlobung mit der Paukerin sei längst Schnee vom vergangenen Jahr. Nur eines lässt Rita aus, nämlich, dass sie seit Jahren Júlios Geliebte war und nun zutiefst verletzt ist, wo er sie fallen lässt. In den nächsten Stunden erfährt Celina auch, wie es Alua zwischenzeitlich ergangen ist. Rita berichtet von deren gesellschaftlichem Aufstieg und dem tiefen Fall. Die junge Lehrerin atmet auf, als in São Luis der Platz neben ihr frei bleibt. Der letzte Beweis für Júlios Untreue sind die verfänglichen Fotos mit diversen Bardamen, die Rita ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit für 50,-- Reais verkauft. „Das sind also Júlios Dienstleistungsbetriebe“, grübelt die ernüchterte Celina. Trotz ihrer Erschöpfung fühlt sie sich wie von einer schweren Krankheit genesen. Für sie ist das Kapitel Júlio für immer abgeschlossen. Celina rollt sich auf den beiden Sitzen zusammen und fällt in einen tiefen, heilsamen Schlaf. Als sie erwacht, erreicht der Bus gerade den Bundesstaat Ceará. Sie laufen einen Parkplatz an. Stirnrunzelnd betrachtet Celina die Passagiere aus zwei weiteren Bussen. Sie stehen vor einem provisorisch aufgebauten „Posto de Saude“ an und lassen sich impfen. Gegen Malaria, Dengue oder Gelbfieber? Niemand weiß genaues. Es gibt etwas umsonst. Solch eine Gelegenheit darf man nicht ungenutzt verstreichen lassen. Die junge Lehrerin ist, wie schon so oft, über die Unbekümmertheit ihrer Landsleute entsetzt. Hier fehlt es wirklich noch an Aufklärung und Erziehung. Die gebirgige Landschaft in dem Staat der köstlichen Cajú lässt Celina schnell das eben Erlebte vergessen. Auf jeden Fall für den Moment. Celina liebt die Berge. Vergnügt denkt sie an ihren ersten Aufenthalt in Fortaleza zurück. Sie hat damals auf dem mercado central die leckeren Cajúkerne gleich kiloweise erworben. Dann ist sie stundenlang durch die Markthallen gelaufen und hat die kunstvollen Klöppelarbeiten bewundert. Celina ist jetzt hellwach. Sie genießt die Fahrt in dem durch das Land rumpelnden und schaukelnden Bus in vollen Zügen. Es beginnt ihr auch wieder Freude zu bereiten, sich an den munteren Unterhaltungen ihrer Reisegefährten zu beteiligen. Obwohl die meisten Brasilianer an chronischem Geldmangel leiden, scheint doch die ganze Nation ständig unterwegs zu sein. Die Menschen suchen eben mal hier Arbeit und mal dort. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, es treibt die Bevölkerung von Ort zu Ort. Der Bus macht in den nächsten Stunden viele Pausen. Es heißt dann, sich schnell die Füße vertreten, ein Stückchen Käse mit der köstlichen Marmelade Goiabada vertilgen und noch einen cafézinho zur Aufmunterung schlürfen. So vergehen die Stunden wie im Fluge und viel zu früh bricht die Nacht herein. Schade, Celina hätte noch gerne die gebirgige Landschaft bestaunt. Beim nächtlichen Busstop entschädigt ein prächtiger Sternenhimmel die Reisenden für die im Dunkeln liegende Landschaft. Am nächsten Morgen, vor Natal, verzaubern Celina die gewaltigen Sanddünen. Die Sonne und der weiße Sand blenden die Augen der noch schlaftrunkenen Passagiere, die mittlerweile zu einer kleinen Familie zusammengewachsen sind. Zwei Autostunden vor Recife beginnt sich der Bus zu leeren. Nun steigen keine Reisenden mehr zu. Die junge Lehrerin steht etwas verloren im Busbahnhof. Heimlich hat sie gehofft, dass der Fahrer des Klosters sie abholen käme. Da ihr die Taxen zu teuer sind, schleppt sie mit einem Gepäckträger ihre Koffer zum Stadtbus. Sie weiß, es gibt direkt vor dem Kloster eine Bushaltestelle. Durch die lang anhaltenden Regenfälle ist die Straße total aufgeweicht. Kein Wunder, dass der Bus von einem Schlagloch ins andere fällt. Der Stadtbus ist wie immer überfüllt. In Schweiß gebadet und mit einem verrenkten Arm erreicht Celina die Haltestelle vor den Klostermauern. Die Oberin ist unterwegs. Die übrigen Schwestern wurden zum Teil ausgetauscht. So ist es verständlich, dass sich Celina die nächsten Stunden recht einsam fühlt. Doch das ändert sich mit der Rückkehr der Oberin. Das Wiedersehen ist so herzlich, dass Celina die alte Geborgenheit spürt. Celina wird erst in zwei Tagen ins Schülerwohnheim übersiedeln. Sie nutzt die Freizeit, um durch Recife zu bummeln. Ihr erster Weg ist, wie auch schon früher, zur Capela Dourada. Die „Goldene Kapelle“ aus dem Jahre 1606 ist eine der eindrucksvollsten Barockkirchen Brasiliens. Um aber ins Innere des Gotteshauses zu gelangen, muss sich Celina mühevoll einen Weg durch die am Boden kauernden Bettlerinnen bahnen. Jetzt ist sie dankbar, dass sie das ersparte Taxengeld in die flehend ausgestreckten Hände der Armen legen kann. Celina ist mit Almosengeben vorsichtig. Sie weiß, dies ist keine echte Hilfe, sondern, wenn überhaupt, ein Tropfen auf einen heißen Stein. Doch hier bei diesen alten, behinderten Menschen kann Hilfe durch Selbsthilfe nicht mehr greifen. Nach dem Abendbrot sitzen die Oberin und ihre ehemalige Schülerin noch lange zusammen. Sie tauschen Erinnerungen aus und erzählen sich, was sich seit Celinas Lehrabschluss ereignet hat. Dabei erfährt Celina auch, dass der ehemalige Taxifahrer des Klosters nicht mehr gerufen würde. Man wirft ihm Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung mit ausländischen Besuchern vor. Celina stimmt dies traurig. Als sie dann noch hören muss, dass die Frau des Taxifahrers das Weite suchte und seine minderjährige Tochter schwanger ist, rührt die junge Lehrerin gedankenverloren in ihrem Tee. „Der einst so lebenslustige Kerl lebt nun in bitterer Armut“, schließt die Oberin. Ein brasilianisches Schicksal. Entsetzt ist Celina auch, als sie hören muss, dass eine ihrer ehemaligen Lehrerinnen in ihrem armseligen Häuschen ausgeraubt und erschossen wurde. Sie war ein so verständnisvoller Mensch und immer hilfsbereit. Celina weiß es seit langem, die Flucht der Landbevölkerung in die Großstädte, die Hoffnung, an dem wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu können und die Enttäuschung, wenn dieses Illusion zerplatzt, bringt Probleme mit sich, die den Staat vor schier unlösbare Aufgaben stellen. Celina ist sich der sozialen Probleme bewusst, und dies erklärt auch, dass sie ihren Beruf als Berufung ansieht. Die junge Lehrerin ist überzeugt, bei den Kindern muss man ansetzen, wenn man etwas bewegen will. Es hilft niemanden, wenn die Mitglieder der Landlosenbewegung fazendas besetzen, verwüsten, die Obstbäume abbrennen und weiterziehen! Sie hat es gerade erneut mit Entsetzen wahrgenommen, als sie mit dem Bus anreist. Hunderte Landlose marschieren die Straße entlang. Manche Burschen schwingen drohend Macheten. Zerlumpte Kinder mit verfilzten Haaren hüpfen lustig zwischen dem Trupp wilder Gesellen hin und her. Ihr Ziel ist, wie jetzt immer häufiger, eine Kleinfarm. Es ist schon lange nicht mehr so, dass nur Großgrundbesitz angegriffen wird. Die Bewegung der sem terras sät Hass und Gewalt auf beiden Seiten. Dies sind keine Grundlagen für eine ertragreiche Ernte. Heute besucht Celina eine alte Lehrerin im zwei Busstunden entfernt liegenden Kinderdorf. Es schmerzt, die verehrte Lehrerin im Rollstuhl anzutreffen, und trotzdem ist sie bewegt von der Güte und Ruhe, die ihre Ausbilderin noch immer ausstrahlt. „Eigentlich wie in ihren gesunden Tagen“, stellt Celina staunend fest. So ist es auch kein Wunder, dass die Kinder sich um sie scharen und mit großen Augen ihren Erzählungen lauschen. Die Kleinen werden erst viel später verstehen, dass die Berichte auf wahren Begebenheiten beruhen, denn Schwester Roberta war beim Aufbau der Missionsstation und dem Kampf um Anerkennung in der Bevölkerung maßgeblich beteiligt. Nur im Punkt der Familienplanung vertreten Lehrerin und Schülerin verschiedene Standpunkte. Schwester Roberta, als strenggläubige Katholikin, befolgt die Anordnungen des Papstes kritiklos. Im Seminar hat Celina keine Schwierigkeiten. Sie ist wie in ihrer Studienzeit eine der eifrigsten Schülerinnen und wird das zweite Staatsexamen mit Auszeichnung ablegen. Ihre Streifzüge durch Recife sehen die Lehrkräfte mit einer gewissen Besorgnis, denn tatsächlich wagt sich Celina oftmals zu weit in die gefährlichen Stadtgebiete. Sie streift durch Gegenden, wo Gewalt an der Tagesordnung ist. Offensichtlich hat die junge Lehrerin einen großen Schutzengel, denn sie kehrt stets wohlbehalten zurück. An einem Tag ist Celina sehr betrübt, als sie aus der Stadt zurückkommt. Sie hat ihren kleinen Freund, den Schuhputzjungen aus ihrer Ausbildungszeit, wiedergetroffen. Der einst so fröhliche Knabe sieht krank und elend aus. Er nimmt Celina offensichtlich überhaupt nicht wahr. Sein stumpfer Blick geht durch sie hindurch. Bevor die erschreckte Lehrerin sich fassen und ihn ansprechen kann, ist er schon in der Menschenmenge untergetaucht. Den früheren Chauffeur des Klosters trifft Celina an diesem Tage auch wieder. Als er sie erspäht, lässt er seine Taxe auf der belebten Kreuzung stehen und stürzt auf die Lehrerin zu. Die Begrüßung ist rührend. Dem Taxifahrer rinnen die Tränen über die Wangen, als er seine alte Gönnerin umarmt. Celina nimmt die Einladung zu einem cafézinho in seinem Hause an. Als sie das einst so schmucke Häuschen betreten, kann Celina nur mit Mühe ihr Entsetzen über die bittere Armut, die ihr da entgegenschlägt, verbergen. Das Asbestdach ist brüchig. In dem Wohnraum riecht es feucht und muffig, und die Möbel sind mit einer dünnen Schimmelschicht überzogen. Celina verfügt zwar nicht über die finanziellen Mittel, um dem Freund aus ihrer Studienzeit die Dachreparatur bezahlen zu können, aber sie überzeugt die Oberin, dass seine schwangere fünfzehnjährige Tochter, die fiebernd und hustend in einem klammen Bett liegt, ins Stadtkrankenhaus eingeliefert wird. Ihre ganze Überzeugungskraft braucht Celina dann aber, um der Oberin die Zusage abzuringen, dass nach der Geburt des Kindes die Mutter eine Beschäftigung in der Klosterküche findet und das Kind in der Kinderkrippe aufgenommen wird. Man sieht, schon laufen wieder die Fäden durch Celinas Finger. Die junge Lehrerin ist eben ein Naturtalent im Organisieren. Immer, wenn es sich irgendwie einrichten lässt, läuft Celina des morgens am Strand entlang. Mit weit ausholenden Schritten kann man sie dann viele Kilometer zurücklegen sehen. Die salzhaltige Seeluft und der weite Blick über den Atlantik geben ihr die nötige Kraft, um neben ihrem Studium all die kleinen sozialen Pflichten, die sie sich im Kloster selbst auferlegt, zu erfüllen. Gerne leitet sie wieder an einem Nachmittag pro Woche die Sprechstunde für die Bedürftigen, und schnell spricht es sich im Stadtviertel herum, dass die Schwester mit dem goldenen Herzen zurückgekehrt sei. Celina scheut sich nicht, die Ärmsten der Armen in ihren Hütten aufzusuchen, denn nur an Ort und Stelle kann sie entscheiden, wie die vorgetragenen Mängel behoben werden können. Oftmals benötigt sie dazu nur geringe finanzielle Mittel. Celina steht dann im Wohnraum, gibt sachkundige Anweisungen und fordert mit strenger Stimme, dass der Familienvater diese sofort ausführt. Sie hat es allzu oft erlebt, dass alles beim alten bleibt, wenn die Arbeiten nicht in ihrer Gegenwart erledigt werden. Celina muss lächeln, wenn sie daran denkt, wie erst letzte Woche ein Familienvater um eine neue Wasserpumpe bat. Celina sieht mit kundigem Blick, dass nur die Dichtung ausgetauscht werden muss, um das Leck zu schließen. Geschickt schneidet sie einen alten Fahrradschlauch zurecht und schon bald ist der Schaden behoben. Celina könnte viele solcher Beispiele nennen. Sie weiß aber auch, dass sie es einzig und allein ihrem Großvater zu verdanken hat, dass sie mit beiden Beinen fest im Leben steht. Schon als sie noch ganz klein war, hat ihr geliebter Großvater darauf geachtet, dass seine Enkelin zur Selbständigkeit erzogen wurde. Wenn am Wochenende an jeder Ecke heiße Rhythmen zum Tanze rufen, teilt sich die Schülerschaft. Die Feste, die allerorts stattfinden, sind natürlich verlockend. Trotzdem zieht Celina es vor, am Samstagabend an den Strand zu pilgern und an einer der kleinen barracas den Gesprächen der Einheimischen zu lauschen. Es sind keine weltbewegenden Probleme, die hier bei einer Flasche Zuckerrohrschnaps und mit Salz bestreuten Cajúscheiben diskutiert werden. Trotzdem gestatten die leicht geführten Unterhaltungen der aufmerksamen Zuhörerin einen tiefen Einblick in die Seele ihres Volkes. Es freut sie immer wieder zu sehen, dass die Brasilianer, die in Arbeit und Brot stehen, stolz auf ihren Beruf sind, gleich ob sie als Maurer arbeiten, oder fünf Tage die Woche einen klapprigen Lastkraftwagen um die zahllosen Schlaglöcher der Stadt bugsieren. Für Celina ist es eine Bestätigung ihrer erzieherischen Tätigkeit, wenn sie sieht, dass Ausbildung Früchte trägt. Haben die Menschen erst einen Beruf und Arbeit, so erwacht auch bald das Bewusstsein, dass man diese Errungenschaft nicht aufs Spiel setzen darf, wenn man nicht wieder in Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit abgleiten will. Für Celina ist es die Bestätigung, dass Kindererziehung keine verlorenen Jahre sind. Die Zeit vergeht rasch, und schon bricht Celinas letzter Monat in Recife an. Mit der brasilianischen Ruhe ist es nun endgültig vorbei. Die Prüfungen beginnen. An allen staatlichen und privaten Universitäten stehen die Prüflinge Schlange. Celina muss lächeln, wenn sie an João denkt. Wie oft hat er sich schon darüber mokiert, dass er diesen brasilianischen hick hack um den Universitätszugang nie verstehen wird. „Entweder man besteht das Abitur oder man besteht es nicht. Hat der Prüfling bestanden, dann sind eben die Noten dafür entscheidend, welche Fachrichtung er einschlagen kann. So einfach ist das,“ mit diesen Worten endet stets Joãos Kommentar. Celina wehrt lachend mit den Worten ab: „Das ist so in deinem Heimatland. Meinen Landsleuten bietet sich der Zugang zur Universität eben jedes Jahr aufs Neue.“ Tatsache ist, dass sich aus letztgenanntem Grunde jedes Jahr unzählige Menschen an den verschiedensten Ausbildungsstätten zur Aufnahmeprüfung anmelden und hoffen, dass sie mit ihrem Wissen und dem erforderlichen Quäntchen Glück an einer Fakultät bestehen. Oft bleibt es mehr dem Zufall als der Neigung überlassen, ob der Prüfling Medizin, Betriebswirtschaft oder Informatik studiert oder schlimmstenfalls mit den Prüfungsvorbereitungen im nächsten Jahr von neuem beginnen muss.
Natürlich bereitet sich auch Celina auf ihre Prüfung zum zweiten Staatsexamen gründlich vor. Sie will einen guten Abschluss mit nach Hause bringen, und so steht auch sie unter Stress. Ihre Briefe an die Familie werden seltener. Beruhigend für Celina ist, dass Joãos Lehrauftrag verlängert ist. Bei ihrem Eintreffen in Recife hat es Celina nicht versäumt, ihrem Freund mitzuteilen, dass sie ihr Verlöbnis als gelöst ansehe. Gleichzeitig bittet sie um Verständnis dafür, dass sie über die Gründe erst nach ihrer Rückkehr sprechen möchte. Júlio ist für Celina so unwichtig geworden, dass sie vergisst, ihm ihren Entschluss mitzuteilen.