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Reise zu den Zwergschulen im Amazonasgebiet

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Es ist ein finster dreinblickender Kerl, der am Spätnachmittag den Bootssteg betritt. Er weiß natürlich, dass das komfortablere Passagierschiffchen bereits ausgelaufen ist, und so lässt er die Wartenden deutlich spüren, dass sein kleiner Frachtkahn für heute die einzige Möglichkeit bietet, um noch von hier wegzukommen. Mit geübter Hand trifft er die notwendigen Vorkehrungen zum Auslaufen des Schiffes. Kaum fertig, winkt er die Reisenden ungeduldig an Bord. Es ist gar nicht so einfach, sich auf dem kleinen Frachtkahn einen Platz zu sichern. Da rollen einem doch bei Schritt und Tritt Paranüsse entgegen. Warum auch immer, es ist nur ein Teil der Fracht in Säcken eingesackt. Mit einer großzügigen Geste gestattet der Schiffseigner den Fahrgästen, sich mal richtig an den köstlichen Nüssen satt zu essen. Die Frage, wie die Nüsse zu knacken sind, bleibt offen. Einige Burschen beißen sie mit den Zähnen auf. Ihr Gebiss ist entsprechend. Die Bootsfahrt durch die Inselwelt beginnt. Der kühle Fahrtwind ist herrlich erfrischend und appetitanregend zugleich, und so ist es nur natürlich, dass die kleine Reisegesellschaft feste zulangt, als die Schiffsglocke zum Nachtmahl ruft. Bohnen, Reis, ein Stück gesalzenes Fleisch und geröstetes Maniokmehl verbreiten einen köstlichen Duft. Alua grient über den Mann, der sich das Maniokmehl nur so in den Mund schaufelt, ansonsten rührt er nichts an. Celina weiß, es ist einer der Ärmsten der Armen, der nur das wenige isst, das er kennt. Die Lehrerin ist betrübt, dass Alua so schnell ihr eigenes bescheidenes Elternhaus vergessen hat und so wenig Verständnis für die Bedürfnisse der notleidenden Bevölkerungsschichten zeigt. Ein Blick auf Aluas Teller bringt die Lehrerin in Rage. Wie oft hat sie ihr schon klarzumachen versucht, dass man nicht mehr aufnimmt als man essen kann und nicht alles mögliche an den Tellerrand schiebt. Celina erhebt sich mit einem leisen Seufzer und begibt sich zum Bug des Schiffes. Es ist schon toll, wie der Bootseigner geschickt die wandernden Sandbänke umschifft, die kaum auszumachen sind, da das Wasser gerade im Steigen begriffen ist, weil die Flut kommt. Die Sandbänke sind in keiner Schiffskarte exakt eingezeichnet, weil sie heute da und vielleicht schon auf der Rückreise wieder verschwunden sind, um dann an einem noch nie dagewesenen Ort wieder aufzutauchen. Als die sinkende Sonne noch kurze Zeit als roter Feuerball über dem Wasser schwebt, wird es Zeit, um sich auf den Paranusssäcken ein Plätzchen zu sichern. Jetzt ist auch die Stunde gekommen, um so manches hübsche Indianermärchen zu erzählen, und was bietet sich bei diesem prachtvollen Sonnenuntergang mehr an, als die Legende von der Sonne, der Wärme und Japuaçu Bevor die Indianer das Feuer kennen, leiden sie heftig unter der nächtlichen Kälte. Oft schauen sie neidisch zur Sonne, wenn diese in der Abenddämmerung als roter Feuerball über das Wasser tanzt und die letzten wärmenden Strahlen zur Erde schickt. Eines Tages beschließen sie, einen Krieger zum Himmel zu senden, um ein Stück der roten Glut zu rauben. Der eilig herbeigeeilte Zauberer verwandelt Japuaçu in einen großen, starken Vogel. Mit festen Flügelschlägen tritt Japuaçu die Reise an. Der Indianerstamm muss lange warten, denn es vergeht viel Zeit, bis Japuaçu zur Erde zurückkehrt. Im Schnabel trägt er ein Stück des so heiß begehrten Feuers. Die Indianer tanzen ausgelassen um die wärmende Glut und sind ängstlich darauf bedacht, dass sie nicht mehr erlischt. Währenddessen bittet der Krieger den Zauberer, ihm seine menschliche Gestalt zurückzugeben. Befreit von dem Federkleid eilt der tapfere Bursche zu dem nahen Flüsschen, um sich in dem kühlenden Wasser von der anstrengenden Reise zu erholen. Japuaçu liegt entspannt in dem klaren Wasser. Seine Tat und ihr Erfolg machen ihn stolz und glücklich. Jetzt kann er um die Hand des schönsten Indianermädchens anhalten und sie zur Frau nehmen. Japuaçu streicht sich seine langen schwarzen Haare zurück. Voller Stolz will er sein Gesicht in der klaren Wasseroberfläche betrachten. Erschreckt fährt er hoch, welch hässliche Fratze lacht ihm da aus dem seichten Fluss entgegen. Japuaçu kann niemanden entdecken. Angst steigt in ihm hoch. Sie drückt ihm die Kehle zu. Als sich das Wasser wieder beruhigt, muss er feststellen, dass sein Gesicht durch das Feuer total entstellt ist. Über seinen Mund zieht sich ein roter Streifen, gleich einem glühenden Holzscheit. Lange blickt der tapfere Krieger traurig in das Bächlein. Das Murmeln des Flusses klingt für ihn plötzlich wie hämisches Gelächter und je länger er sein Gesicht im Wasser betrachtet, um so mehr schämt er sich wegen seines Aussehens. So will er nicht länger unter seinem Stamme leben. Wieder sucht Japuaçu den alten Zauberer auf und fleht, ihn nochmals in einen Vogel zu verwandeln. Der Alte sträubt sich gegen das Begehren. Doch als er sieht, dass er den Unglücklichen nicht bekehren kann, erfüllt er schweren Herzens dessen Wunsch. Der Zauberer weiß, dass es nochmals kein Zurück für Japuaçu geben wird. Nachdem er seine Zauberformeln gemurmelt hat, tritt unter Donnergetöse ein riesiger Vogel aus der aufsteigenden Wolke. Der Vogel schlägt wild mit den Flügeln. Das Federkleid rauscht im Abendwind. Die Indianer weichen erschreckt zurück, als sie seinen roten Schnabel erblicken. Der Vogel stößt einen fast menschlichen Schrei aus, bevor er mit festen Flügelschlägen immer weiter in Richtung der untergehenden Sonne fliegt. Es ist dunkel geworden und der leichte Wind vom Nachmittag wächst sich zu einem handfesten Sturm aus. Die wütenden Wellen des Amazonas schlagen über die ächzenden Bootsplanken und werfen den kleinen Kahn wie eine Nussschale von Woge zu Woge. Celina ist froh, dass sie rechtzeitig ihr Gepäck hochgelagert hat. Das junge Mädchen an ihrer Seite klammert sich zitternd an seinen Freund, den Goldgräber, und jammert unaufhörlich, dass es nicht schwimmen könne. Es beruhigt sich erst, als Celina ihm energisch zuschreit, der Kahn könne nicht sinken. Der Sturm hat zwischenzeitlich eine Stärke erreicht, dass man sein eigenes Wort kaum noch verstehen kann. Als der Morgen graut, ist der nächtliche Spuk vorbei. Die Sonne lacht wieder vom wolkenlos blauen Himmel. Der Tag verspricht traumhaft zu werden. Auf einer Sandbank hat sich eine Luxusjacht festgefahren. Es ist dieselbe, die den Paranusskahn am Vorabend beim Überholen recht unfair geschnitten hat. Jetzt versuchen die jungen Leute durch Winken und Tücher schwenken auf sich aufmerksam zu machen. Doch der Schiffer sieht mit finsterer Miene geradeaus und biegt bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in eine andere Fahrrinne ein. Am Morgen nach dem Sturm plaudern die Passagiere beim Frühstück schon wie alte Bekannte miteinander. Der Goldgräber versucht Celina ein Glasröhrchen mit einem Gemisch aus Sand- und Goldstaub aufzuschwatzen, als er sie alleine am Bug des Schiffes erwischt. Celina winkt lachend ab. Auf solch ein riskantes Geschäft lässt sie sich nicht ein, denn wie will sie beurteilen, in welchem Verhältnis Sand- und Goldstaub zueinander stehen. Außerdem muss sie sich auf die Gespräche mit der Schulleitung vorbereiten. Sie weiß, dass sie ihre ganze Überzeugungskraft benötigen wird, wenn sie in den Schulen etwas bewegen will. Die Lehrerin kennt ihre Landsleute. Sie halten nicht viel von Neuerungen, ganz besonders, wenn diese zu Lasten der Bequemlichkeit gehen. Gegen Mittag landet der Paranusskahn an einem kleinen Marktflecken im Urwald an. Während neue Fracht zugeladen wird, gestattet der Bootsführer einen Landgang. Celina kann beruhigt von diesem Angebot gebrauch machen. Ihre Platznachbarin vom Frühstückstisch wird mit ihren fünf Kindern an Bord bleiben, weil sie mit ihrem gesamten Hausrat unterwegs zu einer Farm ist, wo man tüchtigen Arbeitskräften ein eigenes Stückchen Land verspricht. Die Frau bietet Celina an, ihr Gepäck mit zu bewachen. Alua freut sich auf die Abwechslung. Sie ist bereits beim Anlanden des Bootes von dem Marktgetriebe fasziniert. Es ist schon aufregend, was da an hübschen, selbstgefertigten Schmuckstücken feilgeboten wird. Für die Herstellung der Ketten und Armbänder aus getrockneten Beerenfrüchten gehört schon einige Geschicklichkeit, vor allem aber Geduld. Die Frauen und Kinder sammeln die orangefarbenen Beeren, trocknen sie in der Sonne und ziehen sie letztendlich auf starke Fäden auf. Alua möchte sofort drauflos kaufen. Celina gibt aber zu bedenken, dass das Taschengeld eine ganze Weile reichen müsse. Als sie bei dem Eisverkäufer anlangen, kann Celina ihren Schützling nicht davon abhalten, zuzuschlagen. Hingebungsvoll schleckt das Mädchen das größte Eis, das der Verkäufer anbietet. Wenn Alua ehrlich ist, es hätte ihr auch ein picolo genügt. Doch ihr alter Trotz ist wieder erwacht, und sie hat sich fest vorgenommen, sich nicht mehr von Celina bevormunden zu lassen. So hört sie einfach weg, als die Lehrerin liebevoll zu bedenken gibt, das Wasser könne nicht in Ordnung sein. Statt dessen versetzt sie sich gedanklich zurück in die letzten Vollmondnächte. Da ist sie nämlich zu ihrer Hütte zurückgekehrt und hat sich nach einem wilden Tanzvergnügen wieder mit der Schlange cobrazinha versöhnt. Das Mädchen und die Schlange tanzen in dieser Nacht wie die Besessenen um die Vormachtstellung. Alua ist irgendwann erschöpft zusammengebrochen und hat es fast versäumt, rechtzeitig vor Tagesanbruch ins Herrenhaus zurückzuschleichen. Von all den finsteren Mächten, die durch Aluas Gedankenwelt geistern, ahnt Celina selbstverständlich nichts. Natürlich spürt sie die Unruhe und Rastlosigkeit ihrer Reisegefährtin. Sie ist jedoch überzeugt, dass dies ein Zeichen der beginnenden Pubertät ist. Zurück auf dem Schiff erlebt die kleine Reisegesellschaft eine unvergessliche Weiterfahrt. Die Flussläufe werden enger, und der dichte Wald reicht bald bis zur Uferböschung. Ab und an ist eine kleine Lichtung in das dunkle Grün geschlagen. Ein Dörfchen taucht auf, und die Kinder kommen schreiend und winkend zum Fluss gelaufen. Die frische Brise auf dem Schiff täuscht darüber hinweg, dass die intensive Sonneneinstrahlung teuflische Folgen haben wird, wenn man sich ihr über einen längeren Zeitraum ungeschützt aussetzt. Trotz Celinas Warnung brät Alua Stunde um Stunde in der Sonne. Später wird sich die Lehrerin eingestehen müssen, dass sie nach ein paar erfolglosen Ermahnungen Aluas Gegenwart über ihren Studien vergessen hat. Schon neigt sich der zweite Reisetag dem Ende zu. Als die Glocke zum Abendbrot läutet, ist dies für die Lehrerin eine willkommene Abwechslung. Sie liebt nach der geistigen Arbeit die erfrischenden Unterhaltungen mit den caboclos. Das entspannt und regt sie gleichzeitig zu neuen Taten an. Alua hingegen sitzt wie ein Häufchen Elend am Abendbrottisch. Celina stellt dies mit einem Seitenblick schuldbewusst fest. Sie hätte doch energischer durchgreifen müssen. Aber nun ist es zu spät. „Warum hat Großvater sie mit solch einer schwierigen Reisegefährtin belastet“, denkt sie betrübt, als Alua vom Tisch weg und hin zur Toilette stürzt. Dort wird das Mädchen nun bis auf kurze Unterbrechungen die Nacht verbringen. Für Celina soll diese Nacht ebenfalls die Hölle werden. Da tobt nach Einbruch der Dunkelheit erneut ein Sturm, der den vom Vortag noch um einiges übertrifft. Zudem treibt sie die Sorge um ihre Reisegefährtin immer wieder auf die andere Seite des Schiffes und zur Toilette hin, wenn Alua mal für wenige Minuten das Klohäuschen verlässt und im schwachen Schein der flackernden Bootslaterne wie ein Gespenst umherwandelt. Gerade rutscht Celina zum wiederholten Male vorsichtig von ihrem Platz auf den Paranusssäcken und watet durch das Wasser, das ihr inzwischen bis zu den Knöchel reicht. Die Bootsplanken ächzen unter ihren Füßen. Der Sturm peitscht den aufgewühlten Fluss immer und immer wieder über das Schiff. Sie haben die verträumten Flussarme verlassen und überqueren die gefürchtete Bucht, die den Schiffern schon bei gutem Wetter wegen ihrer vielen wandernden Sandbänke zu schaffen macht. Jetzt knirscht es fürchterlich, und das Schiff macht einen Ruck nach vorn. Haltsuchend greift Celina zur Reling. Sie hat Mühe, nicht von Bord geweht zu werden. Es dauert lange, bis das Schiff wieder flott ist. Celina hat jegliches Zeitgefühl verloren. Doch auch diese Nacht geht zu Ende, und das Schiff erreicht bei strahlendem Sonnenschein die kleine Amazonasinsel, die Celinas erster Prüfstein in Sache Reformierung der Schulen werden wird. Alua sieht erbärmlich aus. An die Weiterfahrt per Bus ist augenblicklich nicht zu denken. Eine Nobelherberge ist es nun wirklich nicht, dieses „Hotel Imperador“. Missmutig schlurft die Wirtin durch den langen, schmalen und dunklen Gang. Am Ende desselben stößt sie eine quietschende Türe auf. Muffige Luft schlägt den beiden Frauen entgegen. Sähe Alua nicht so mitgenommen aus, würde Celina die Herberge auf der Stelle wieder verlassen. Doch so ..., weit und breit hat sie auf die Schnelle in dem Hafengebiet kein einladendes Haus entdecken können. „Wenigstens der Preis stimmt“, denkt Celina, als sie die geforderten Reais auf den Tisch blättert. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Frauen noch nicht, dass das Wasser im Bad nicht funktioniert. Die Wirtin wendet sich ohne ein Wort des Dankes ab und ist auch schon in dem dunklen Flur verschwunden. Celina will das Fenster öffnen. Doch so sehr sie an dem Fenstergriff zerrt, sie hat keine Chance. Nach eingehender Untersuchung stellt sie fest, dass das Fenster im oberen Fensterrahmenbereich zugenagelt ist. „Dann eben nicht“, murmelt sie resigniert, bevor sie das Bad aufsucht, um eine erfrischende Dusche zu nehmen. Celina will es nicht wahrhaben, dass trotz ihres verzweifelten Drehens und Schraubens sich die Wasserhähne nicht bewegen und sie der rostigen Wasserleitung nicht einen Tropfen Wasser entlocken kann. Alua schläft tief und fest, als Celina ins Schlafzimmer zurückkehrt. Draußen beginnt es wieder zu stürmen und zu regnen. Erschöpft begibt sich auch die Lehrerin zu Bett. Nach den beiden Nächten auf den Paranusssäcken ist auch sie geschafft. Celina schreckt immer wieder aus wirren Träumen hoch, und als dann die Abenddämmerung einsetzt, beginnt Alua wieder vom Bett zum Bad zu tapsen, hin und her, die ganze Nacht. Celina springt aus dem Bett, sobald die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die blinden Fensterscheiben finden. Sie vermeidet es tunlichst, nochmals das Bad aufzusuchen. Rasch ordnet sie ihr Reisegepäck und zählt ihr Geld, bevor sie Alua wecken will. Sie lässt die Geldscheine nun schon zum wiederholten male durch ihre Finger gleiten. Von Celinas Nasenwurzel zur Stirn bildet sich die schmale Falte, die immer dann auftaucht, wenn sie über ein Problem nachgrübelt. So sehr sich die junge Lehrerin auch bemüht, die Rechnung geht nicht auf. Es fehlen ihr exakt zehn Reais. Ihre junge Begleiterin schläft noch immer. Nach den Strapazen der vergangenen Tage ist dies wohl auch nur verständlich. Trotzdem wird Celina das Mädchen jetzt wecken. In diesem stickigen Zimmer hält sie es nicht länger aus. Wenig später verlassen die beiden Frauen ihre Unterkunft. Auf dem Flur herrscht gähnende Leere. Weit und breit ist in dem Haus keine Menschenseele zu bemerken. Auf der Straße ist dies ganz anders. Die Fischer kehren gerade vom Fischfang zurück und schleppen die schweren Kisten mit den fangfrischen Fischen zum nahe gelegenen Markt, und eben dort, am Ende des Marktes, entdeckt Celina im Schatten hoher Palmen ein kleines, freundliches Familienhotel. Die beiden Frauen haben ihr neues Quartier bezogen. Nach einer langen, ausgiebigen Dusche greifen sie an dem reichhaltigen Frühstücksbuffet tüchtig zu. Alles was das Herz begehrt, ist hier schon zur frühen Morgenstunde aufgetischt. Da stehen neben der duftenden Hühnersuppe und den gemischten Käse- und Schinkenplatten große Körbe mit krossen Brötchen. Hübsch anzusehen ist der kunstvoll aufgebaute Früchteberg, den saftige Ananasscheiben und zu Schiffchen geschnittene mamão umrahmen. Die goldgelben mangas liegen unter einer künstlichen Miniaturmangueira. Alua isst heute mit Appetit. Sie scheint ihr Unwohlsein überwunden zu haben. Plötzlich biegt sich Alua vor ... – erschreckt stellt Celina ihre Kaffeetasse auf den Tisch zurück - ... nein, Alua windet sich nicht vor Schmerzen, sie lacht aus vollem Hals. Jetzt fällt auch Celinas Blick auf den Gast mit dem schnittigen Tropenanzug. Sie unterdrückt ein Lächeln und sagt mit strafendem Blick leise zu dem Mädchen an ihrer Seite: „Er kann nur aus Übersee kommen, der Ärmste. So würde nie und nimmer ein Südamerikaner einer mamão zu Leibe rücken. Da pickt der Gast doch tatsächlich die Fruchtkörner aus der mamão und zerdrückt sie bedächtig im Gaumen. Celina hat Mitleid mit dem Fremden. Leichtfüßig eilt sie zur Obstplatte und angelt sich ein Stück der besagten mamão aus dem Früchtearrangement. Zurück am Tisch setzt sie sich so, dass der Fremde sehen muss, wie sie die Fruchtkerne aus der mamão hebt und zur Seite legt, bevor sie sich genüsslich das süße Fruchtfleisch in den Mund schiebt. Der Fremde nickt ihr leise lächelnd zu und seine Lippen formen sich zu einem Dankeschön. Als er wenig später den Frühstücksraum verlässt, hält er neben Celina kurz inne und flüstert in einem gebrochenen Portugiesisch mit französischem Akzent: „Gnädige Frau, ich dachte wirklich, man habe die mamão mit frischen Pfefferkörnern garniert.“ Die beiden jungen Frauen genießen die Stunden in dem prachtvollen Tropengarten mit den lauschigen Sitzplätzen. Für Celina vergeht die Zeit wie im Fluge. Immer wieder prüft sie ihre Reformpläne auf ihre Praktikabilität hin und fügt noch kleine Ergänzungen hinzu. Sie weiß, ihre Vorschläge müssen logisch, leicht durchführbar und quasi ohne finanzielle Mehrbelastungen für die Schulen sein. Nur wenn sie die Lehrkräfte für ihre Verbesserungsvorschläge begeistern kann, besteht die Aussicht, dass man sie auf Dauer annimmt und nicht nach ihrer Abreise wieder beiseite schiebt. Es macht Celina traurig, dass all ihre Versuche, Alua in ihre Arbeit einzubeziehen, auf Desinteresse stoßen. Oder sollte es gar Ablehnung sein? Wäre die junge Lehrerin nicht solch ein energiegeladenes Kraftbündel, so würde Aluas Verhalten sie sicherlich deprimieren. Der alte Überlandbus, der das ungleiche Paar zur ersten Zwergschule bringen wird, verlässt am frühen Morgen den Marktflecken. Erstaunt betrachtet Celina die hochhackigen Pumps, die ihr Schützling heute trägt. Irritiert ist die Lehrerin aus zweierlei Gründen: zum einen hat sie diese Schuhe beim Packen nicht in Aluas Reisegepäck gesehen und zum anderen sind sie für die Fahrt ins Landesinnere total ungeeignet. Mit einem Ton, der keinen Widerspruch duldet, fordert Celina das Mädchen auf, die Schuhe zu wechseln. Missmutig folgt Alua dem Begehren. „Es ist das Abschiedsgeschenk meines Vaters“, stößt es mit Tränen in den Augen hervor und stopft dabei die Pumps mit einer wilden Gebärde in den Rucksack zurück. Die Fahrt mit dem klapprigen Bus ins Landesinnere der Insel ist für die beiden Frauen ein besonderes Erlebnis. Noch nie haben sie die prächtigen roten Reiher in freier Natur gesehen, und hier stolzieren sie gleich dutzendweise hoheitsvoll im Uferschlamm der kleinen Flüsschen umher. Da Ebbe ist, sind die schmalen Flussläufe fast ausgetrocknet. Krebse huschen durch den Schlick. Doch sobald man sich ihnen nähert, verschwinden sie in den Löchern unter den Bäumen und Sträuchern, welche die Flussläufe säumen, und nur die glucksenden Luftblasen verraten, dass sich da eben ein Lebewesen versteckt hat. Der Busfahrer hat für die Mittagspause einen romantischen Rastplatz unter blühenden Tropenbäumen am Ufer eines Flüsschens angefahren, und selbst Alua verliert ihre Reserviertheit beim Anblick der Krustentiere, die da an der Uferböschung entlang huschen. „Ach, wenn Vater dies nur sehen könnte,“ murmelt sie mit einem wehmütigen Blick. „Warum malst du nicht ein Bild?“, fragt die Lehrerin zurück. Sie weiß, dass das Mädchen eine talentierte Zeichnerin ist und hat vorsorglich einen Zeichenblock im Reisegepäck. Zurück im Bus überfällt Celina nun doch leichte Nervosität. In wenigen Stunden werden sie ihr erstes Reiseziel erreichen, und dann wird es darauf ankommen, wie überzeugend sie ihre Reformpläne vorstellen kann. Die letzte Etappe ist nun wirklich abenteuerlich. Sie haben die asphaltierte Straße schon vor geraumer Zeit verlassen und rumpeln über eine mit Schlaglöchern gespickte Erdstraße. Sandwolken stieben auf, und der rote Staub umhüllt die Reisenden wie ein dichter Schleier. Kein Wunder, dass die Fahrgäste am späten Nachmittag hustend und nach Atem ringend aus dem Bus klettern. Der Fahrer hat gerade „Endstation“ verkündet und händigt gegen Vorlage der Gepäckscheine die Reisetaschen und Rucksäcke aus. Bevor sich Celina nach Möglichkeiten für die Weiterfahrt erkundigen kann, ist er auch schon verschwunden. Die Endhaltestelle liegt nun wirklich an keinem gastlichen Ort. Von der seitlich gelegenen Abdeckerei steigt ein ekelerregender Gestank auf, und zu allem Übel zerren die Urubus die Abfälle über den kleinen Marktplatz, sodass man darauf achten muss, wohin man seinen Fuß setzt. Die beiden Frauen sehen sich noch ratlos an, als eine helle Stimme an ihr Ohr dringt: „Alô, Sie sind doch sicherlich die Abgesandte vom Kultusministerium?“ Die junge Frau, zu der die sympathische Stimme gehört, ist braun gebrannt. Ihre lebhaften blauen Augen funkeln vergnügt in dem mit Sommersprossen übersäten Gesicht. Sie warte seit zwei Tagen, plaudert sie munter weiter. Celina will eine Erklärung für ihre Verspätung abgeben. Doch ihre Gegenüber winkt lachend ab, bevor sie fortfährt, das mache doch gar nichts. Durch diese Zwangspause habe sie mehr Zeit für ihren jungen Freund gehabt. Die beiden letzten Nächte im Monat Juni haben sie durchgetanzt. São João ist doch nur einmal im Jahr. Augenzwinkernd fügt sie hinzu, es sei schon schön, die räumliche Trennung während der Woche. Da sei das Wiedersehen am Wochenende jedes Mal ein kleines Fest. In Celinas Gesicht steigt eine leichte Röte, als die Wartende hinzufügt: „Das hält die Liebe jung – du liebe Zeit, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, ich bin Joãna, die Lehrerin von Santa Barbara und Sie sind Senhora Celina, nicht wahr?“ „Nicht Senhora, Celina genügt“, antwortet die junge Lehrerin, der die muntere Art der Kollegin gefällt. Sie fühlt, mit solch aufgeschlossenen Menschen wird die Arbeit Spaß machen. Noch bevor Celina ihre Reisegefährtin vorstellen kann, hat sich Joãna dieser zugewandt: „Und du, was führt dich zu uns caboclos?“ Eine tiefe Röte überzieht Aluas Gesicht. Sie findet Joãna fürchterlich. Vor allem fühlt sie sich durchschaut. Hat ihre gelangweilte Miene die Fremde doch nicht darüber hinwegtäuschen können, dass sie das Kind eines armen Fischers ist? Weswegen sonst die Anspielung auf caboclos? Alua ist sicher, dass die Fremde sie provozieren will. Joãna pfeift gerade lautstark durch die Finger. Ein muskulöser Bursche löst sich aus einer Gruppe diskutierender Händler. In dem tiefbraunen Gesicht bilden die zu groß geratenen Zähne, die wahrhaftig einem mächtigen Pferdegebiss gleichen, einen nicht zu übersehenden Kontrast. Celinas schwere Reisetasche verwandelt sich in seiner mächtigen Pranke zu einer leichten Feder. Mit den Worten: „Nicht doch, Mädchen“, schiebt Joãna Aluas Rucksack zu dieser zurück. Zornesröte steigt in Aluas Gesicht. Als auch Celina keine Anstalten macht ihr beizuspringen, schultert sie wütend ihren kleinen Rucksack und trottet missmutig hinter den lachenden und plaudernden Lehrerinnen zu der kleinen Bootsanlagestelle. Alua ist empört. Sie fühlt sich an den Rand gedrückt und stellt voller Neid fest, dass die beiden Lehrerinnen wie alte Bekannte, die sich lange nicht gesehen haben, plauschen. Es ist ein geräumiges Boot mit einer kleinen Kajüte, das der Fischer wenig später geschickt durch ein schier undurchdringbares Labyrinth aus Wasserarmen und tief hängenden Ästen alter Urwaldriesen manövriert. Der Dieselmotor liegt im Wettstreit mit den Unterhaltungen, die nun merklich lauter geführt werden müssen und sich aus verständlichen Gründen bald auf das Notwendigste beschränken. Eile ist angesagt. Die Ebbe wird bald ihren Tiefststand erreichen und die kleinen Nebenflüsschen des Amazonas unschiffbar machen. Immer wieder fordert der Fischer zum „Köpfe einziehen“ auf, und wer dem nicht rasch nachkommt läuft Gefahr, von den über den Fluss ragenden Ästen ins Wasser gerissen zu werden. Als sich die Wasserstraße nach einer neuerlicher Flussbiegung endlich wieder verbreitert, lässt der Fischer das Bootshorn ertönen indem er geschickt auf eine Hütte zusteuert, die auf einem Floß errichtet ist. Gewandt landet er an. Im gleichen Augenblick erscheint in der Tür eine Frau mit einem gewaltigen Busen. Zwei Mädchen mit Schultaschen drängeln an ihr vorbei. Die Mutter streicht liebevoll über ihr krauses Haar, bevor die Kinder mit einem kühnen Sprung auf das Boot hechten. Der Vater fängt sie geschickt auf. Celina hat erschreckt aufgeschrien. Die beiden Mädchen tätscheln der Fremden beruhigend die Hand. Sie haben das Pferdegebiss des Vaters. Da sie gerade die Milchzähne verlieren, klaffen riesige Löcher in ihrem Mund. Schnell setzt der Fischer seine Fahrt durch das Gewirr von Wasserstraßen fort. Die Reise wird nun noch beschwerlicher. Einige Male hat der Fischer Mühe, das Boot aus dem Schlamm frei zu staken. „Ach, wie ist es schön unter diesem dichten Laubdach dahinzugleiten und dem Summen und Wispern der Insekten zu lauschen“, denkt Celina entzückt, als der Fischer zum wiederholten mal den Dieselmotor abstellt, um den Kahn wieder flott zu bekommen. Joãna ist von der Besucherin begeistert, die so gar nicht ihrer Vorstellung von einer Vertreterin aus der Schulbehörde entspricht. Steif und unnahbar hat sie sich diese vorgestellt. Celina amüsiert die Natürlichkeit Joãnas, und sie freut sich auf die gemeinsame Arbeit, die sie gleich morgen in Angriff nehmen wollen. Jetzt mündet der Fluss in eine kleine Bucht. Wieder ertönt die Schiffssirene laut und durchdringend. Das Schuldorf ist erreicht. Schreiend kommt eine Kinderschar zum Fluss gelaufen. Es sind diejenigen Schüler, die nicht täglich nach Hause zurückkehren können, weil ihr Schulweg unverhältnismäßig weit oder beschwerlich ist. Joãna erklärt, „wer einen Fußmarsch von mehr als zwei Stunden täglich zur Schule und zurück hat, darf die Woche über im Schulheim bleiben.“ Das bringt natürlich Probleme mit sich. Die Kinder müssen versorgt werden, und einen Platz zum Aufknüpfen ihrer Hängematte benötigen sie auch. Doch dafür hat Celina konstruktive Pläne in der Tasche. Zuerst werden sie gemeinsam einen Gemüsegarten anlegen, dann wird zu prüfen sein, ob die großen Jungen unter der Anleitung ihrer Väter einfache Möbel fertigen können, um dann ihr Wissen an die nachwachsenden Schüler weiterzugeben. Mit den notwendigen finanziellen Mittel für die Anschaffung von Werkzeugen ist Celina ausgestattet, wenn auch in sehr bescheidenem Rahmen. Es war ein hartes Ringen, bis Celina und João dem Kultusminister die Mittel entlocken konnten. Dass überhaupt Geld zur Auszahlung kam, verdanken sie den Gouverneurswahlen, die wieder einmal bevorstehen. Einige Kilo Gemüsesamen schleppen sie auch mit sich. Er soll aber wirklich nur dort eingesetzt werden, wo weit und breit keine Einkaufsmöglichkeit besteht. All diese Gedanken schießen Celina durch den Kopf, als sie die schwankende Leiter zu dem Bootssteg erklimmt. Angst kennt sie nicht. Von Kindheit an lebt sie in und mit der Natur. Ein älterer Herr mit einem riesigen Strohhut kommt lächelnd auf die Ankömmlinge zu. Es ist der Schulleiter, der die Verantwortung für die Zwergschule und die Menschen, die in ihr ausgebildet werden, trägt. Er ist sich seiner beruflichen Stellung als „Schulleiter“ bewusst und nicht bereit, Befehle von der übergeordneten Behörde entgegenzunehmen. Celina fühlt sofort, sie wird vorsichtig taktieren müssen. Mit ihrem ausgeprägten Feingefühl für Menschen weiß sie, sie muss dem alten Herrn die Reformpläne als Empfehlung vorstellen und hoffen, dass er sie alsbald als eigene Erkenntnisse empfindet. Eins ist Celina klar, als sie in die stahlharten Augen schaut, Anordnungen wird der General a.D. nur schwerlich befolgen. Celina stellt ihr Reisegepäck in dem kleinen Zimmerchen, das man eigens für sie hergerichtet hat, ab. Sie hat sogar ihre eigene Dusche. Sie weiß dieses Privileg sehr wohl zu schätzen. Alua wohnt im Schlafsaal der Mädchen. Beim gemeinsamen Abendessen bekommen die Gäste eine gekühlte Kokosnuss gereicht. Nach dem obligatorischen Reis- und Bohnengericht öffnet ein Junge geschickt eine große Paranuss. Etwa zwanzig Nüsse kullern über den Tisch. Die Kinder teilen die Nüsse unter sich auf. Celina stellt fest, dass nicht alle Kinder vor dem Zubettgehen die Waschräume aufsuchen. Auch das Reinigen der Zähne lässt zu wünschen übrig. Die junge Lehrerin registriert dies, als sie im Badehaus die Zahnbürsten in schmuddeligen Gläsern entdeckt. Noch spät am Abend sitzt Celina auf der kleinen Terrasse vor ihrem Zimmer. Versonnen betrachtet sie den zunehmenden Mond. Die Tage seit ihrer Abreise waren so ereignisreich, dass ihr Zuhause in den Hintergrund getreten ist. Sie greift zu einem Stift und Papier, um für ihren Großvater den versprochenen Reisebericht zu beginnen. Absenden kann sie ihn erst an der nächsten Poststation. Es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren. Ihre Gedanken wandern immer wieder zu João. Wo mag er jetzt sein und wie mag es ihm ergehen? Júlio fällt ihr erst viel später ein. Celina stellt dies beschämt fest. Sie findet ihr Verhalten nicht richtig. Júlio ist doch ihr Verlobter. Der Mann, mit dem sie ihr Leben teilen will. „Will sie dies überhaupt noch?“ Der Gedanke ist so ungeheuerlich, dass Celina das Blut heiß in den Kopf schießt. Energisch ergreift sie Stift und Papier und vertieft sich nun ganz in den Bericht an ihren Großvater. Am nächsten Morgen beobachtet Celina aufmerksam den Tages- und Schulablauf. Sorgfältig macht sie sich Notizen. Sie ist freundlich, aber zurückhaltend, insbesondere gegenüber dem Schulleiter, der sie belauert wie eine Katze die Maus. Sie weiß, wenn sie ihr Konzept verrät, bevor es ausgereift ist, könnte sich dies auf die notwendigen Reformen nachteilig auswirken. Sie wird sich erst umfassend informieren, um dann notfalls auch überzeugend argumentieren zu können, falls es ihr nicht gelingt, dem Schulleiter ihre Pläne als seine eigenen zu suggerieren. Celina legt Wert auf konstruktive Gespräche. Aggressivität würde ihre Mission zum Scheitern verurteilen. Celina hat Alua seit Tagen kaum zu Gesicht bekommen. Seit auch ihr letzter Versuch, das Mädchen in ihre Arbeit einzubinden, fehlschlug, hat sie ihre Reisegefährtin quasi vergessen. „Soll sie sich doch mit den Schülerinnen vergnügen und am Fluss herumstrolchen, wenn die Schule zu Ende ist,“ denkt Celina resigniert. Heute ist Vollmond. Alua kommt spät zum Frühstück. Sie sieht übernächtigt aus. Joãna sagt mit ungewohnter Schärfe in der Stimme und Blick zu Alua: „Wer nochmals des Nachts den Schlafsaal verlässt, wird unverzüglich nach Hause geschickt, auch wenn er zu Gast ist.“ In diesem Augenblick lässt der Schulleiter die Lehrerinnen zu sich bitten, und so bleibt Celina keine Gelegenheit, weitere Einzelheiten zu erfahren. Während Celina mit viel Geduld und noch mehr Geschick die notwendigen Reformen anschneidet und darauf wartet, dass der alte Herr Zustimmung signalisiert, geht Alua mit drei Jungs zum Fischen. Die Kinder dringen tiefer als erlaubt in den Urwald ein. Alua schreitet fest voran. Die Proteste ihrer Kameraden wischt sie mit einer lässigen Handbewegung weg. Alua zwängt sich durch das dornige Gestrüpp bis zu dem verbotenen Flussarm vor. Die Jungen trotten mit hängenden Köpfen hinterher. An dem verbotenen Fluss ist das Wasser unheimlich dunkel, und der Wald riecht nach vermodernden Blättern. Es wispert und knackt in den Baumwipfeln, und nur selten findet ein Sonnenstrahl seinen Weg durch das dichte Blätterdach. Die Jungs zucken immer wieder ängstlich zusammen, wenn es im dichten Unterholz raschelt oder ein dürrer Ast zu Boden kracht. Der Kleinste möchte umkehren. Er hat panische Angst vor Schlangen. Alua wehrt die Einwendungen ihrer Begleiter mit einer schnippischen Bemerkung weg. „Sich vor Schlagen fürchten, das ist doch zum Lachen.“ Da wo sie herkommt, da wimmele es nur so von Schlangen. Man könne sie mit der Hand packen, wenn man nur mutig genug ist. Die Jungs blicken das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen an. Als Feiglinge lassen sie sich von dieser Fremden mit der großen Klappe nun wirklich nicht abstempeln und Joãna ist mit der Vertreterin der Schulbehörde beim Direktor. Wer soll da schon merken, dass sie sich auf verbotenen Pfaden bewegen. Sich selbst beruhigend, klettern sie Alua nach, die sich flink wie ein Wiesel bewegt und gerade auf einen Ast hechtet, der weit über das Wasser ragt. Mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet, befiehlt Alua ihren Kameraden: „Hockt euch auf den Felsvorsprung. Dies ist der ideale Platz, um die Angelleinen auszuwerfen.“ Die drei gehorchen wie hypnotisiert. In dem undurchsichtigen Fluss sind offensichtlich viele Fische. Immer wieder werden die Köder von den Angelhaken gefressen, ohne dass sich ein Fisch festbeißt. Der Kleine rutscht vom Felsen und dann die Uferböschung hinab. Vielleicht gelingt es ihm am Rande des Wassers leichter, einen Fisch zu angeln. Jetzt hat wieder einer angebissen. Dieses mal sitzt er fest am Angelhaken. Es muss ein großer Fisch sein. Obwohl der Kleine seine ganze Kraft einsetzt, wird er immer tiefer ins Wasser gezogen. Er hört nicht den Aufschrei der beiden großen Jungs! Er hat nur noch den einen Gedanken: „dieser Fisch gehört mir ganz alleine“, und so lässt er die Leine nicht los, auch nicht, als sie ihm die Handflächen aufzuritzen beginnt. Seine Kameraden sind verstummt, sie scheinen zu Salzsäulen erstarrt zu sein. Eine enorme Schlange richtet sich immer weiter aus dem Wasser auf und tänzelt direkt auf Alua zu. Das Mädchen sitzt regungslos auf dem Ast. Langsam, ohne Hast, richtet sie ihre Arme in Richtung der Schlange. Diese reckt sich noch höher aus dem Wasser und schaukelt mit tänzelnden Bewegungen vor des Mädchens Gesicht hin und her. Da stößt Alua einen zischenden Laut aus. Den beiden Knaben läuft in der Tropenhitze ein kalter Schauer über den Rücken. Die Schlange bäumt sich mit einer wilden Gebärde ein letztes mal auf, bevor sie sich abwendet und wie ein Pfeil dem Ufer zuschießt. Was jetzt passiert, erscheint den Kindern später wie ein böser Traum. Das Reptil hat den Kleinen erspäht, der noch immer verzweifelt an seiner Angelschnur zerrt. Die Schlange schnellt vor, und der Kleine gleitet wie eine Puppe in ihren weit aufgerissenen Schlund. Das Wasser schäumt hoch auf, als die immense Schlange in den dunklen Fluss zurückgleitet. Die Kinder sind noch immer wie versteinert. Sind Sekunden vergangen, oder vielleicht Minuten? Niemand wird sich später daran erinnern. Plötzlich stürzt sich Alua mit einem tierischen Schrei in die trüben Fluten. Sie taucht unter, wieder und wieder. Wenn sie auftaucht, paddelt sie wie von Sinnen umher. Sie will nicht wahrhaben, was da gerade passiert ist. Nur sie weiß, das war gerade ihre cobrazinha, die den Kleinen verschlungen hat. Wie konnte sie ihr dies antun? Es vergeht viel Zeit, bis die drei mit hängenden Köpfen in die Schule zurücktrotten. Niemand will das schreckliche Geschehen wahrhaben, das sich an dem gefürchteten Fluss zugetragen hat. Die Fischer eilen zusammen und werfen ihre Netze in dem dunklen Fluss aus. Keine Schlange. Kein Junge. Erst Tage später findet man den toten Knaben. Er liegt auf dem Blatt einer duftenden Wasserpflanze mit karminroten Rändern, der Vitória Régia. Der tote Knabe ist unversehrt und sieht so friedlich aus, als ob er schliefe. Die caboclos flüstern, die Schlange habe Reue verspürt und das Kind im ganzen wieder ausgespieen. Nun ist er in der kleinen Kapelle aufgebahrt. Blumenbekränzt und mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen. Die Kinder starren mit ungläubigem Blick auf den toten Freund. Die Kleinsten lassen ehrfurchtsvoll die Blütenblätter durch ihre Finger gleiten. Die Eltern der Schüler sind von nah und fern herbeigeeilt, um die Totenwache zu halten. Joãna spricht mit Tränen in den Augen ein Gebet. Sie war für den Kleinen so etwas wie eine Ersatzmutter. Der Junge hatte keine Eltern. Er war ein Findelkind. Der Kleine, der so sehr die Dunkelheit und Schlangen fürchtete, ist in seinen letzten Stunden auf Erden nicht alleine. Ein Fischer hat noch in der Nacht den Pfarrer gerufen. Am frühen Morgen tragen die Schüler weinend ihren toten Kameraden zu Grabe. Wenige Tage später finden die Kinder in ihren Schulalltag zurück. Es ist das Recht der Jugend, zu trauern und schnell zu vergessen. Es tragen aber wohl auch die Neuerungen in der Schule dazu bei, dass die Schüler voller Begeisterung an der Verwirklichung von Celinas Reformen mitarbeiten. Der Schulleiter propagiert sie selbstverständlich als seine Ideen. Celina hat nach dem Unfall eine harte Auseinandersetzung mit Alua. Wie konnte sie, die Ältere, es zulassen, dass sich die Jungs so weit in den Wald begaben. Alua beteuert ihre Unschuld. Doch Celina hat Zweifel an ihrer Berichterstattung. Da gibt es zu viele Widersprüche. Die beiden überlebenden Jungs meiden Alua. Die Fremde ist ihnen unheimlich. Sie sehen das Mädchen noch immer vor sich, hoch oben schaukelnd auf dem Ast über dem dunklen Fluss. Sie können den zischenden Laut nicht vergessen, der aus Aluas Brust drang, und wie sich die Schlange daraufhin wutentbrannt abwandte. Einen Augenblick denkt Celina daran, Alua zu Großvater zurückzuschicken. Wegen mangelnder Verkehrsverbindungen lässt sie den Gedanken bald wieder fallen. Celina kann ihre Arbeit ohne weitere Zwischenfälle beenden. Als sie sich auf die Weiterreise begeben, könnte sie über ihre Erfolge zufrieden sein, wären sie nicht von dem tragischen Unfall überschattet. Joãna begleitet die Besucherinnen zum Busbahnhof zurück. Celina bleibt gerade genügend Zeit, um noch zur Post zu eilen. Dort erwarten sie zwei Briefe. Der dicke Umschlag ist von João, der andere trägt Dom Augustos akkurate Schriftzüge. Celina gibt ihre Briefe mit gemischten Gefühlen auf. Der Reisebericht für Großvater ist zu förmlich. Großvater wird sofort erraten, dass etwas nicht in Ordnung ist. Celina hat es einfach nicht fertiggebracht, Dom Augusto von dem Unfall und Aluas ungeklärter Rolle zu berichten. Sie beruhigt ihr Gewissen damit, dass sie ihren Großvater nicht aufregen will. Außerdem befürchtet sie, dass Großvater ihre sofortige Rückkehr anordnen würde. Anders der Brief an João. Hier hat sie sich ihre ganzen Zweifel von der Seele geschrieben. Als sich der schwere Überlandbus in Bewegung setzt, laufen Joãna dicke Tränen über die Wangen. Celina, die selten die Beherrschung verliert, schluchzt ebenfalls leise vor sich hin. Alua starrt mit ausdruckslosem Blick aus dem Fenster. Sie will nur noch weg. Seit dem Vorfall hat sie keine Freunde mehr im Schuldorf. Die Kinder meiden sie ängstlich. Sie fürchten sich vor dem Mädchen, das mit Schlangen verbündet ist. Die Schüler sind fest davon überzeugt, dass das Schlangenmädchen das Reptil herbeigerufen, und als es die Kontrolle über die enorme cobra verlor, den Kleinen geopfert hat. Am letzten Abend im Schuldorf hatten Joãna und Celina nochmals ein langes Gespräch mit den beiden Jungs, die Alua in den Regenwald begleiteten. Die Schilderungen der Kinder brachten aber auch jetzt kein Licht in die Geschehnisse. Nur in einem Punkt stimmen die Aussagen der Knaben überein: Alua hat die Riesenschlange herbeigerufen. Celina läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Sie weiß, wie abergläubisch ihre Landsleute sind und will solch kuriosen Geschichten kein Gehör schenken. Andererseits, der Leichtsinn Aluas hat ein Menschenleben gekostet, und dafür gibt es keine Entschuldigung. Alua schreckt zusammen, als Celina sie auffordert, noch einmal den Unfallhergang in allen Einzelheiten zu schildern. Die Lehrerin hat eine Schärfe in der Stimme, die Alua nicht gewohnt ist und sie unsicher macht. Sie fühlt, es gibt kein Ausweichen. Der Bus ist nur schwach besetzt, und es liegt eine fünfstündige Fahrt vor ihnen. Das Mädchen ahnt, die Lehrerin wird nicht locker lassen, bis sie eine befriedigende Antwort gibt. Sie kennt doch die Paukerin. Oh, wie Alua ihre Gönnerin plötzlich hasst. Sie ballt die Hände zu Fäusten und starrt aus dem Busfenster, damit ihr hasserfüllter Blick sie nicht verrät. Etwas später gibt sich Alua einen Ruck und schaut Celina mit einem treuherzigen Augenaufschlag an als sie leise fragt, ob die Lehrerin denn wirklich glaube, sie stehe mit Geistern im Bunde? Alua gibt zu bedenken, dass doch die Knaben im Schuldorf ihr zu Hause hätten und sie aus dem dunklen Wald niemals mehr zurückfinden würde. Weswegen solle sie denn das Risiko eingehen, sich im Wald zu verlaufen um vielleicht elendiglich zu sterben, wo es ihr bei Dona Celina doch so gut ergehe? Obwohl Aluas Schilderung logisch klingt, bleiben in Celina Zweifel. Zerstreut öffnet sie Großvaters Brief. Alua hat sich in eine Zeitschrift vertieft, und so bemerkt sie nicht, wie Celinas Hände zu zittern beginnen und ihr fast der Briefbogen entgleitet. Celina liest immer wieder dieselben Zeilen: setze Alua in Santarém in den Bus zur Hauptstadt. Schicke sie unter irgendeinem Vorwand zu mir zurück und achte auf dich und dein Geld. Celina faltet sorgfältig den Brief zusammen und steckt ihn in die Innentasche ihrer Jacke, die sie nun nicht mehr ablegen wird. Kurz vor Santarém teilt Celina dem Mädchen mit, dass sich ihre Wege hier trennen werden. Alua ist erleichtert, denn sie spürt deutlich, dass sie Celinas Misstrauen nicht ausräumen konnte. Der Abschied ist kühl. Alua behandelt Celina mit einer Lässigkeit, welche die Lehrerin zutiefst kränkt. Als das Mädchen in den Bus zur Hauptstadt klettert, trägt es wieder die hochhackigen roten Pumps. Ihre Lippen sind knallrot geschminkt. Für Celina, die noch ein Stück Weges winkend neben dem Bus herläuft, hat sie nur ein herablassendes Lächeln. Resigniert wendet sich die junge Lehrerin ab. Ihr Bus ins Landesinnere fährt erst in einer knappen Stunde. Sie will die Zeit nutzen und Großvater informieren. Doch die Telefonleitungen sind wieder einmal unterbrochen. Schade, Celina hätte gerne gewusst, weshalb Dom Augusto Alua zurückruft. Trotz der Trauer wegen des tödlichen Unfalls fühlt sich Celina ohne Aluas Anwesenheit befreit und erleichtert. Sie will sich nun wiedder ganz auf ihren nächsten Schulbesuch konzentrieren. In der kleinen Kaffeebar trinkt die Lehrerin vor Abfahrt des Busses noch schnell einen Espresso. Als sie zahlen will, ist ihre kleine Geldbörse verschwunden. Dies ist ein herber Verlust, denn allmorgendlich zählt Celina gewissenhaft eine Tagesration ihres Reisegeldes ab und verwahrt sie in dem kleinen Geldbeutel. Sie weiß es genau, die Börse war in ihrer Reisetasche, als sie noch schnell zur Toilette eilte, bevor Alua abfuhr. Alua und immer wieder Alua! Gewaltsam schiebt Celina die bedrückenden Gedanken beiseite. Der Bus, der die junge Lehrerin weiter ins Landesinnere bringen wird, sieht nun alles andere als einladend aus. Krachend und knatternd rumpelt er pünktlich aus dem Busbahnhof. In kurzen Abständen stößt er übel riechende Rauchwolken aus. Celina nimmt ihre Umwelt nicht mehr wahr, seit sie Joãos Brief geöffnet hat. Ihrem Freund ist es nicht sehr gut ergangen. Im ersten Schuldorf war der Empfang eisig, und all seine Verbesserungsvorschläge stießen auf taube Ohren. Der Schulleiter ist Alkoholiker. Ohne einen gewissen Alkoholpegel kann er nicht mehr leben. Die älteren Schüler nutzen die Schwäche ihres Lehrers rücksichtslos aus. Sie legen einen Teil ihres Taschengelds zusammen um den Schuldirektor mit cachaça zu versorgen und was noch schamloser ist, sie führen ihm junge Burschen zu. Seine abartige Neigung tritt allzu offen zutage. „Na ja, Celina, und nun hat so eine kleine Mafia-Gang die Schule fest in der Hand“, liest die betrübte Freundin. „Armer João“, denkt Celina „und nun belaste ich dich noch mit meinen Sorgen.“ Gerade ist Celina am Ende des Briefes angelangt, da lässt ein dumpfer Knall sie hochschrecken. Der schwere Bus neigt sich bedenklich zur Seite. Achsenbruch! Und dies an einer Stelle, wo die nachkommenden Kraftfahrzeuge mühelos an ihnen vorbeifahren werden. Ein nachfolgender Bus der selben Busgesellschaft verspricht, das Ersatzteil am nächsten Tag mitzubringen, wenn er auf der Rückfahrt ist. Die Panne bedeutet einen Aufenthalt von mindestens zwölf Stunden. „Schöne Aussichten“, denkt Celina und kramt die mitgeführte Hängematte aus dem Reisegepäck hervor. Sie tut es einem Indianer gleich, der sich gerade am Rande des Uhrwaldes seine Hängematte festknüpft. Wenig später schaukelt auch Celina im Schatten alter Urwaldriesen. Die Lehrerin wickelt die Hängematte fest um ihren Körper. So ist sie einigermaßen vor den Stechmücken geschützt, die sie wie Bienen den Honig umkreisen. Celina muss eingeschlafen sein. Sie erwacht, als Mitreisende an ihrer Hängematten rütteln. Die Dunkelheit bricht schnell herein und so empfiehlt es sich nicht, länger im Walde zu bleiben. Die überwiegende Zahl der Passagiere hat sich schon ängstlich in den Bus zurückgezogen. Die Reisenden fürchten die Gespenster, die nachts durch die dunklen Wälder huschen. Celina hat Glück. Da reist doch tatsächlich ein Student mit seiner Matratze durch das Land. Er hat sie vor dem Bus auf dem noch warmen Asphalt ausgerollt. Jetzt, wo die Nacht hereingebrochen ist, überlässt er sie großzügig der Lehrerin. Celina legt sich lang ausgestreckt auf die Matratze. Unzählige Sterne funkeln über ihr am Firmament. Sie versucht Sternbilder auszumachen. Da ist das Kreuz des Südens und dort der große Wagen. Celina fällt ins Träumen. Seit sie von zu Hause aufbrach, fühlt sie sich zum ersten mal frei und ungebunden. Irgendwann schreckt sie hoch. Starke Scheinwerfer blenden sie. Ein vorbeifahrender Bus bietet an, Frauen und Kinder zum nächsten Stützpunkt mitzunehmen. Celina schlägt das Angebot aus. Der Bus mit den Ersatzteilen trifft tatsächlich nach zwölf Stunden ein. Die beiden Busfahrer sind verschwunden. Sie haben sich mit ihren Geliebten abgesetzt. Die Passanten beginnen mit der Reparatur. Als der Bus wieder fahrbereit ist, kommen auch die Fahrer zurück. Einer klemmt sich hinter das Steuerrad. An der kleinen Bar nehmen sie die Reisenden auf, die mit ihren Kindern vorausgefahren sind. Bald darauf passieren sie eine Tankstelle. Einige Laster und Busse halten dort um aufzutanken. Celinas Bus fährt weiter. Es kommt, was kommen muss: Der Bus rollt eine knappe halbe Stunde später aus. Der Treibstoff ist ausgegangen. Die Fahrer stört das nicht. Sie lassen sich nun von ihren Freundinnen die Fingernägel maniküren. Wieder ergreift ein Fahrgast die Initiative. Er schnappt sich einen Kanister und fährt mit einem vorbeikommenden Lastkraftwagen zur Tankstelle zurück. Irgendwann kommt er per Anhalter wieder zum Bus. Die Fahrt geht weiter. Mit eintägiger Verspätung erreicht Celina das Schuldorf. Ihre trübsten Erwartungen werden heute überboten. Sie wird drei Tage benötigen, um die Schulräume säubern zu lassen, und das wird auch nur gelingen, weil sie selbst fest mit Hand anlegt. Ihre Mission ist dieses mal sehr mühselig. Die humorvolle und aufgeschlossene Joãna fehlt ihr auf Schritt und Tritt. Trotzdem ist seit Aluas Abreise eine große Last von Celinas Schultern genommen. Aus Großvaters nächstem Brief ersieht sie, dass das Mädchen ohne Zwischenfälle zurück ist. Joãos Briefe erwarten Celina an jeder Poststation. Sie spiegeln seinen Tagesablauf so lebhaft wieder, dass sie seine Gegenwart fast körperlich spürt. Júlio antwortet auf die Grüße seiner Braut nicht. Mit der Folge, dass auch für Celina der Verlobte immer mehr in den Hintergrund rückt. Der jungen Lehrerin wird diese Tatsache aber erst bewusst, als sie sich auf der Heimreise befindet. Der Bus zuckelt langsam durch das wilde Land, und Celina findet Zeit und Ruhe, sich auf ihr Zuhause einzustimmen. Als Fazit ihrer Reise kann sie sagen, dass sie in den Zwergschulen überwiegend willkommen geheißen wurde und ihre Vorschläge auf fruchtbaren Boden fielen. Celina freut sich auf ihren Großvater, auf ihre Mutter, das vertraute Heim und auf João, obwohl sie bei diesem Gedanken leicht errötet. Den Gedanken an ihren Verlobten verdrängt sie. Er ist ihr fremd geworden. Welch ein Empfang! Zuerst erspäht Celina Großvaters geliebtes Gesicht, als der Bus dem Marktplatz zusteuert. Ihre Mutter kommt lachend auf sie zugelaufen. Sie wirkt viel jünger, seit sie die Kapriolen ihres Ex-Ehemanns nicht mehr ertragen muss. Soeben ertönt ein lustiges Wanderlied. Da haben sich doch tatsächlich die Kinder des Schulchors eingefunden, um ihrer geliebten Lehrerin ein Willkommensständchen zu bringen. João dirigiert mit wehenden Haaren. Als er auf Celina zueilt, schwenkt er einen bunten Blumenstrauß durch die Luft. Alle Anwesenden plappern und schreien durcheinander. Man kann sein eigenes Wort kaum noch verstehen. Großvater mahnt die Kinder, auf den Lastkraftwagen zu klettern. Das leckere churrasco warte schon. Dies lässt sich die Rasselbande nicht zweimal sagen. Der Dorfpolizist schaut weg, als sich das Fahrzeug mit seiner munteren Fracht in Bewegung setzt. Großvater, die Mutter und Celina fahren in der Pferdekutsche hinter den fröhlich winkenden Kindern her. Das Zuckerrohr steht schon hoch. Es wird in den nächsten Tagen geschnitten werden. Obwohl sich der Boden eigentlich gar nicht für Zuckerrohr eignet, pflanzt Großvater, seit Celina denken kann, ein kleines Feld für den Eigenbedarf an. Celina fühlt förmlich den süßen Zuckerrohrsaft über ihre Zunge rinnen. Nun trennen sie nur noch einige hundert Meter vom Haupthaus. Chica, die gute alte Köchin, steht in der offenen Haustüre. So war es immer, wenn Celina aus den Ferien oder später aus dem Lehrerseminar nach Hause kam. Celina springt aus der Kutsche und eilt im Laufschritt auf die treue Köchin zu. Sie ist ihr Freundin und Vertraute zugleich. Als Celina sie stürmisch umarmt, brummt Chica: „Zerknautsche meine gestärkte Schürze nicht.“ Mit diesen barschen Worten will sie ihre Rührung verbergen. Der kleine Bursche im Schaukelpferd jauchzt hell auf, als die junge Lehrerin die Köchin im Kreise schwenkt. „Er sieht eigentlich ganz niedlich aus, mein kleiner Bruder“, denkt Celina.

Beim churrasco schnattern die Kinder aufgeregt durcheinander. Den Jüngeren merkt man die Erleichterung an, dass ihre geliebte Lehrerin zurückgekehrt ist. Sie hatten doch tatsächlich Angst, diese ginge ihnen verloren, so wie auch immer mal wieder ein Vater auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Später, bevor die Familie zur Abendmesse aufbricht, packt Celina noch rasch ihre Reisetasche aus. Ihr Zimmer ist gelüftet und frisch hergerichtet. So, als ob sie überhaupt nicht weggewesen wäre. Solch geballte Armut wie in den letzten Wochen hat Celina noch nicht erlebt, und so wird sie wenig später bei der Abendmesse Gott aus ganzem Herzen für ihr behütetes Heim, ihre alles in allem erfolgreiche Mission und ihre glückliche Rückkehr danken. Nach dem Kirchgang findet sich die Familie auf der häuslichen Terrasse zu einem Plausch ein. Es ist Vollmond. Die Grillen zirpen und Frösche quaken in dem nahen Teich. Eine Nacht wie im Märchen. Mutter und Großvater ziehen sich alsbald zurück. Celina und João haben sich soviel zu erzählen, und Dom Augusto findet, das sollen die jungen Leute mal ungestört tun. Es wird spät werden, bis sich die jungen Lehrer trennen. Da gibt es unendlich viele Gedanken auszutauschen, und nicht zuletzt genießen Celina und João das traute Zusammensein, auf das sie so viele Wochen verzichten mussten. Später auf ihrem Zimmer fragt sich Celina, wo Alua heute abgeblieben ist. Großvater war recht einsilbig, als sie nach ihr fragte: „Dies hat Zeit bis Morgen.“ Zu mehr war der alte Herr nicht zu bewegen. Celina fällt in einen traumlosen, erquickenden Schlaf. Als sie erwacht, steht die Sonne schon hoch am Himmel. Verschlafen! Dies ist ihr schon lange nicht mehr passiert. Nach einer kühlen Dusche und einem erfrischenden Tropensaft eilt sie zu den Pferdeställen. Es ist Sonntag. Sie schwingt sich auf ihr Pferd. Natürlich erst, nachdem sie ihm das obligatorische Stück Zucker gereicht hat. Im warmen Sonnenschein reitet sie die Grenzen ihres Besitzes ab. Sie sieht das geliebte Land heute mit den Augen eines gereiften Menschen. Dieses Stück Land ist ein Juwel, den sie pflegen und wenn nötig auch verteidigen wird. Dies schwört sich die junge Lehrerin, als sie auf dem kleinen Hügel rastet. Von hier oben hat sie einen weiten Blick über die grünen Felder, den Fluss und den in der Sonne glitzernden See.

Alua

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