Читать книгу Verschenktes Schicksal: Arztroman Sammelband 3 Romane - Glenn Stirling - Страница 15
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ОглавлениеNiemand konnte ahnen, welche Kraft Nina Norden dazu brauchte, um wirklich hierherzufahren. Sie hatte ganz bestimmte Vorstellungen und war nur auf Abwehr und Ablehnung eingestellt. In ein paar Tagen würde Sven wissen, wie zwecklos alles gewesen war. Sven! Nein, sie durfte jetzt nicht an ihn denken; sie wusste doch, wenn sie nicht gesund wurde, würde er sie verlassen. Hatte er es im Grunde genommen nicht schon getan? Drängte er sie deshalb so sehr, zu fahren? Aus den Augen - aus dem Sinn! So einfach war das für die Männer.
Doch jetzt war sie hier.
Als sie aus dem Bus stieg, staunte sie, dass dieser Ort so klein war. So winzig und ruhig kam ihr die Stadt vor. Als sie nach dem Arzt fragte, zeigte man ihr bereitwillig das Haus. Dort lag es, breit und behäbig und irgendwie gemütlich in einem großen Garten. Es flößte ihr gar keine Angst ein. Sie hatte in letzter Zeit so viele sterile Arztpraxen kennengelernt, dass sie die Farbe Weiß schon nicht mehr sehen konnte.
Kurz darauf stand sie vor einem jungen Mädchen.
»Ich bin Nina Norden«, sagte sie.
Britta lächelte sie an.
»Sie haben sich telefonisch angemeldet, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte sie leise.
»Bitte, kommen Sie!«
Alles wirkte gemütlich und freundlich, gar nicht angsteinflößend. Es gab einen Augenblick des Zögerns, bevor sie die Schwelle überschritt. Dann sah sie den Arzt und neben diesem eine junge Ärztin.
Auch hier war alles einladend und freundlich.
Dr. Bernstein ging ihr entgegen.
»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind«, sagte er und reichte ihr die Hand.
Sie begrüßen mich wie einen guten Freund, dachte sie verwundert. Und schon hatte sie keine Angst mehr. Ja, sie begann sogar Vertrauen zu fassen.
»Nehmen Sie doch Platz!«, bat der Arzt sie.
Sie trug ihre Handschuhe und versteckte die Hände auf dem Schoß.
Dr. Bernstein wollte zunächst einmal alles Persönliche über sie wissen. Das war neu; bisher hatte man sich sogleich über ihre Hände gestürzt, ein paar lateinische Worte gemurmelt und ihr dann ein Rezept in die Hände gedrückt. Aber hier schien man Zeit zu haben, schien sich tatsächlich mit ihrer Person zu beschäftigen.
Nina erzählte etliches von sich, aber längst nicht alles - eigentlich nur, was ihre Hände betraf, dass sie jetzt so wehtaten und sie nicht mehr zur Arbeit gehen konnte und dass es immer schlimmer wurde. Sie sprach nicht darüber, wie schrecklich es für sie war, dass sie die Hände nicht mehr waschen durfte. Das hatte sie ja oft bis zu zwanzig Mal am Tage getan. Sich reinwaschen, das war ihr ein tiefes Bedürfnis geworden. Jetzt konnte sie sich in dieser Weise nicht mehr abreagieren, deshalb wurden die Geschwüre und Ekzeme immer größer und hässlicher. Inzwischen nässten sie auch, und Nina musste aufpassen, dass die Handschuhe keine Flecke bekamen und die Leute etwas merkten.
Man ließ sie eine Zeitlang reden, ohne sie zu unterbrechen. Schließlich fragte der Arzt: »Warum wollen Sie hierbleiben?«
»Weil mir niemand hilft. Ich meine, man hat mir gesagt ...« Ihre Augen waren auf der Flucht.
»Darf ich jetzt mal Ihre Hände sehen?«
Zögernd streifte sie die Handschuhe ab. Ihre Hände sahen wirklich schlimm aus. Für das junge Mädchen war dies eine Qual, aber man war hier wirklich freundlich zu ihr.
Nach der Untersuchung sagte Dr. Bernstein zu ihr: »Das kommt vom Blut her. Sie werden nicht lange zu bleiben brauchen. Wenn wir sehen, dass unsere Behandlungsmethode anschlägt, dann können Sie zu Hause alles fortsetzen.«
»Wie lange, meinen Sie, werde ich bleiben müssen?«
»In einer knappen Woche müsste schon ein Erfolg zu verzeichnen sein. Wir werden Ihnen einen speziellen Tee zubereiten, dessen Kräuter Sie selbst suchen müssen. Zudem werden wir auch ein wenig auf Ihre Kost achten.«
»Keine Salben, keine Tinkturen?«, stammelte sie. »Aber wie kann es heilen, wenn ...«
»Vor allen Dingen dürfen Sie diese Handschuhe nicht mehr anziehen. Das ist Gift für Ihre Hände. Sonne muss an Ihre kranken Hände kommen, verstehen Sie?«
Sie brach fast in Tränen aus.
»Aber sie sehen so schrecklich aus! Man wird vor ihnen erschrecken, ich ...«
»Wir werden auch einige Kaltwasseranwendungen vornehmen. Das tut gut. Und wie gesagt, Sie werden schon selbst mithelfen müssen. Nicht dass Sie denken, nur wir tun alles für Sie! Wenn Sie gesund werden wollen, dann müssen Sie es auch wollen und mitmachen.«
Das war ihr vollkommen neu.
Etwas linkisch erhob sie sich.
Dr. Losse sagte: »Kommen Sie, ich bringe Sie jetzt in die Villa!«
Mechanisch griff sie nach ihren Handschuhen. Aber Dr. Bernstein war schneller.
»Nein!«, bestimmte er.
»Aber die Leute werden mich ablehnen, werden denken, dass ...«
»Es ist nicht ansteckend. Wir wissen es, Sie wissen es, und den anderen werde ich es sagen. Aber es wird sich erübrigen. Wenn man Sie ohne Handschuhe sieht, werden alle wissen, wie harmlos es ist.«
»Warum?«, fragte sie bestürzt. »Ich habe meine Erfahrungen. Sie wissen ja nicht, wie gemein und hässlich die Mitmenschen sein können. Warum sollten sie glauben, dass es harmlos ist?«
»Weil sie mir vertrauen.«
Bettina Losse nahm sie mit. Wenig später kümmerte sich Frau Toller um sie. Sie war in der Villa inzwischen Mädchen für alles und nicht nur Sekretärin. Auch hier wurde Nina freundlich aufgenommen. Wie erstaunt war sie, als sie diese Umgebung sah und die beiden alten Damen im Park.
Sie sollte hier eine ganz andere Einstellung über Krankheit bekommen. Aber noch war es nicht soweit. Noch war sie viel zu sehr in ihren bisherigen Vorstellungen gefangen.
Bettina ging ins Doktorhaus zurück.
»So, da hätten wir sie also. Und jetzt?«
Dr. Bernstein hatte bereits in Büchern nachgelesen.
»Es ist eine Angelegenheit des Blutes. Wie gesagt, ich will es mit Brennnessel und Ehrenpreis versuchen. Dazu reichlich Obst, Gemüse und viel frische Luft.«
»Ihre Augen gefielen mir nicht.«
»Mir auch nicht. In ihr scheint etwas zu stecken, das wir noch nicht ergründen konnten.«
»Sicher liegt es daran, dass sie sich abseits halten muss. Wenn man so jung ist ...«
»Irgendeine Störung muss da vorgelegen haben.«
»Sie meinen, es muss so etwas wie einen Auslöser gegeben haben, Herr Kollege?«
»Ja. Sie hat nicht gesagt, dass sie schon früher darunter gelitten hat. In ihrer ganzen Jugend nicht und erst recht nicht in ihrer Pubertät - was ja eigentlich auf der Hand liegen würde.«
»Ja, das ist mir auch aufgefallen.«
»Nun, wir werden ja sehen.«
»Sicher wird sie hier schnell aufblühen, und der Tee und alles andere wird kleine Wunder vollbringen. Wenn sie sieht, dass eine kleine Heilung eintritt, wird sie auch zuversichtlicher werden. Und das wiederum wird ihr Vertrauen stärken.«
»Ja, hoffen wir es inständig.«