Читать книгу Verschenktes Schicksal: Arztroman Sammelband 3 Romane - Glenn Stirling - Страница 21
14
ОглавлениеFrau Dr. Losse hatte die Hausbesuche hinter sich gebracht und war jetzt auf dem Heimweg. Auf der Landstraße traf sie Nina Norden. Ganz allein wanderte sie daher. Sie dachte daran, dass sie dieses Rätsel lösen wollte. Sie hielt den Wagen an.
»Kann ich Sie mitnehmen?«, fragte sie das junge Mädchen.
Nina lächelte schüchtern.
»Ach, ich gehe gern spazieren.«
Bettina gab sich einen Ruck und sagte herzlich: »Wissen Sie, das Wetter ist so schön; Sie haben recht. Man soll wirklich ein wenig in der Natur wandern. Kommen Sie, nehmen wir den kleinen Waldweg dort drüben.«
Nina war zu schüchtern, um ihr begreiflich zu machen, dass sie gern allein gewesen wäre. Bettina hatte den Wagen abgeschlossen und ging nun an der Seite des Mädchens. Irgendwie schaffte sie es sogar, dass sie später auf einem Baumstumpf saßen und sich unterhielten. Bettina brachte sehr schnell das Gespräch auf Ninas Hände.
Plötzlich hörte sie das junge Mädchen verzweifelt sagen: »Ich kann das einfach nicht verstehen. Ich verstehe es wirklich nicht. Ich habe mich doch immerzu gewaschen und gewaschen, und trotzdem ...«
»Nun, das tun wir doch alle«, meinte Dr. Losse.
»Nein, nein, ich habe mich ständig gewaschen. Immerzu. Im Büro haben sie mich damit schon aufgezogen. Immer wenn ich Wasser sah, oder nur einen Wasserhahn, musste ich mich waschen.«
Dr. Losse stutzte sekundenlang.
»Sie mussten?«
»Ja, ich musste es einfach. Deshalb verstehe ich ja auch nicht, warum das ausgerechnet mir passiert ist. Ich bin doch so reinlich, ich meine ...«
Der Ärztin fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen.
Waschzwang! Das hieß also, sie hatte selbst dafür gesorgt, dass der natürliche Hautschutz zerstört wurde. Deswegen hatten sich die Hände entzünden können. Damit hatte sie die Ursache herausgefunden.
Dr. Losse wurde nervös. Sie sagte sich: Ich verstehe aber immer noch nicht, dass die Hände nicht heilen wollen. Sie darf sich doch jetzt kaum waschen; das haben wir ihr verboten. Und sie lässt es sicher auch sein, denn es würde bestimmt sehr wehtun, wenn Wasser an die offenen Stellen käme.
»Warum ist das Schicksal so ungerecht?«
»So dürfen Sie nicht reden, Nina. Sie sehen doch, wir sind jetzt hier, und wir bekommen das schon in den Griff.«
Tränen rollten über das Gesicht des jungen Mädchens.
»Ich glaube nicht.«
»Wovor haben Sie Angst, Nina?«
Sie zuckte zusammen.
»Wie sollten Sie mich denn verstehen können?«
»Nun, ich bin auch eine Frau. Sie machen sich bestimmt Sorgen um Ihren Freund, nicht wahr?«
Nina starrte sie erschrocken an.
»Wieso wissen Sie das denn?«
»Aber das ist doch natürlich. Ihr Freund hat Sie also verlassen?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Nina verstört. »Ich weiß es nicht, und ich bin so unglücklich, ich kann ohne Sven nicht leben.«
Bettina bekam nicht mehr viel aus dem jungen Mädchen heraus. Aber war das nicht schon ein Anfang? Sie wollte sie jetzt nicht weiter quälen.
»Kommen Sie, gehen wir zurück! Bestimmt wartet man schon auf uns.«
Allmählich fing Nina sich wieder. Bettina Losse wusste, sie brauchte noch ein wenig Zeit. Wenn das Mädchen sich öffnete, würde man auch heilen können. Davon war sie jetzt überzeugt.
Sie fuhren zurück.
Dr. Bernstein wartete schon auf seine junge Kollegin.
»Alles geschafft?«, fragte er und meinte die Hausbesuche.
»Ja, ich fürchte, Bärwald wird es jetzt nicht mehr lange machen.«
»Gut, ich werde ihn dann übernehmen. Das habe ich seiner Frau versprochen. Wenn es dem Ende zugeht, werde ich dabei sein.«
Dr. Losse wusste, es konnte Stunden dauern, und doch übernahm er diesen Dienst gern. Arzt und Mensch, dachte sie bewegt. Und wenn man dann in den Kliniken den Ausspruch hört, man muss abgestumpft werden, sonst hält man das Ganze nicht aus ... Sie dachte: Wie falsch das doch ist. Wirklich große Heiler wurden so großartig, weil sie nie vergaßen, mit den Menschen mitzuleiden. Daraus entsteht nur Gutes, so wie bei Dr. Bernstein.
»Ach, bevor ich es vergesse: Unsere Patientin ist eingetroffen«, berichtete der Arzt.
»Sie sagen das so merkwürdig.«
»Ich mache Sie gleich darauf aufmerksam, dass sie ein Donnerdrachen ist.«
»Oje, warum haben Sie sie dann aufgenommen?«
»Weil sie kerngesund ist und es mir jetzt schon Spass macht, sie zu heilen.«
Bettina lachte.
»So kenne ich Sie ja gar nicht!«
Er zwinkerte ihr zu.
»Lassen Sie sich von der Gnädigen nur nicht einschüchtern! Und wenn Sie meinen, Sie schaffen es nicht, dann übernehme ich sie ganz.«
»Was haben Sie denn mit ihr vor?«
»Oh, eine ganze Menge, was ihr gar nicht schmecken wird - in der Hoffnung, dass ich sie für alle Zeiten kurieren werde.«
Bettina sah auf die Uhr.
»Wir haben noch ein wenig Zeit bis zum Essen«, sagte der Arzt. »Ich habe gesehen, dass Nina bei Ihnen war.«
»Ja. Ich habe auch schon einiges herausgefunden. Jetzt weiß ich, dass sie unter Waschzwang litt.«
»Donnerwetter, das ist ja schon eine ganze Menge.«
»Wirklich?«
»Ja, so kennen wir schon mal die Ursache ihres Leidens - ich meine die äußere. Sie hat den natürlichen Schutzfilm der Haut zerstört.«
»Das weiß ich. Aber jetzt gibt es noch die Seele, die behandelt werden muss. Denn sie will doch damit etwas fort waschen, das sie stört, das sie tief bedrückt. Sie will einen Makel von sich abwaschen.«
»Liebe Kollegin, Sie lernen recht schnell. Es freut mich, dass Sie von allein darauf gekommen sind.«
Sie errötete leicht bei diesem Lob.
»Bei Ihnen hab’ ich eben anders zu diagnostizieren gelernt.«
»Wenn man das immer täte, hätte man ihr nicht so viele scharfe Mittel verschrieben. Aber auch das werden wir wieder in den Griff bekommen. Das werden der Tee und die Wasserbehandlung besorgen.«
»Ich glaube, ich gehe jetzt mal kurz zur Villa hinüber und schau mir die neue Patientin an.«
»Ich habe dort alle bereits gewarnt.«
»Dann ist ja alles in Ordnung.«
Wie wenig was in Ordnung war, sollte sie jedoch sehr schnell erfahren. Die Villa selbst lag wie ausgestorben da. Auf der Terrasse saßen die Patienten und nahmen in fröhlicher Runde ihre Mahlzeit ein. Wie sie sofort bemerkte, war die Neue nicht dabei. Paul grinste sie an und meinte: »Sie hält sich für zu fein, um mit uns zu speisen. Sie suchte den Speisesaal für private Patienten. Als sie ihn nicht fand, ging sie beleidigt in ihr Zimmer zurück.«
»Nun, dann wird sie eben hungern müssen«, meinte Dr. Losse ruhig.
»Das haben wir ihr auch gesagt«, entgegnete Nina, die sich inzwischen völlig gefangen hatte.
Die gutmütige Maria Ansbach wollte wohl das Essen hinauftragen, aber Frau Dr. Losse ließ es nicht zu.
»Damit fangen wir erst gar nicht an. Das wird nur gemacht, wenn der betreffende Patient nicht laufen kann.«
Stufe für Stufe stieg die Ärztin bedächtig nach oben.
Wenn sie ganz ehrlich sein wollte, musste sie gestehen, dass sie doch starkes Herzklopfen hatte. Sie war noch nicht so gefestigt wie Dr. Bernstein. Außerdem war sie noch jung und schutzlos. Vor der Tür blieb sie stehen und atmete tief durch. Sie musste da hindurch; je eher, umso besser. Sie musste lernen, nicht vor Schwierigkeiten davonzulaufen oder sich zu verkriechen. Sie musste sich dem stellen, nur dann würde sie auch in Zukunft ihr Leben meistern.
Sie klopfte kurz und trat sofort ein. Der Gruß erstarrte ihr auf den Lippen. Sie starrte in die Augen ihrer Mutter!
»Was tust du denn hier?«, fragte sie fassungslos.
Frau Losse blickte sie hart an.
»Nun, ich will wissen, wo du geblieben bist, mein Kind. Und wie ich es mir gedacht habe, ist es mal wieder nichts Gescheites, was du vollbracht hast. Ja, sag mal, hast du denn nicht einen Augenblick an unseren guten Namen gedacht, Bettina?«
Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie keinen Schritt vorwärts tun konnte. Befriedigt sah die Mutter, dass ihre Tochter geschockt war. So würde sie auch in Zukunft wieder Macht über das Mädchen haben.
»Du wirst sofort deine Sachen packen und mitkommen!«, befahl sie.
In Bettinas Kopf schienen Millionen Bienen versammelt zu sein. Nur mühsam schaffte sie es, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie sollte mit ihr gehen? Sollte sie zurück in die Villa gehen und wieder Sklavin spielen?
»Nein«, stieß sie wild hervor. »Nein, ich werde nicht mitkommen!«
Die Mutter lachte hart auf.
»Hast du noch immer nicht begriffen, dass du tun musst, was ich will?«
»Ich werde nicht mitkommen! Ich bin hier glücklich!«
»Wenn du dich nicht freiwillig fügst, meine Liebe, dann habe ich auch andere Mittel, mit denen ich dich zwingen kann. Soll es wirklich soweit kommen?«
»Du kannst mich nicht mehr kaufen, Mutter. Ich bin frei, ich kann für mich allein sorgen. Verstehst du!«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja! Ich habe hier Freunde, die zu mir stehen. Ja, Freunde. So etwas hast du ja nie gehabt. Also begreifst du auch nicht, wie wichtig es ist, Freunde zu haben.«
»Meinst du vielleicht diese komischen Leute da unten?«
»Ja, ich meine diese komischen Leute da unten. Sie sind nicht so reich wie du, aber dafür haben sie etwas, das du nie besitzen wirst: Herz!«
Die alte Frau ließ sich nicht beirren.
»Du willst also nicht mitkommen?«
»Nein. Und ich möchte dir raten: Geh sofort! Sonst wäre es vielleicht peinlich für dich.«
»Ach, du drohst mir?«
»Nein, aber wenn du bleibst, bist du Patientin, und dann musst du dich fügen. Hier tanzt man nämlich nicht nach deiner Pfeife.«
»Ach, meine Liebe, darauf spielst du an? Nun, das ist nur eine Frage von Stunden. Morgen wird sich das Blatt schon gewendet haben.«
Bettina begriff instinktiv, dass sie so nicht weiterkam, und sie begriff auch, dass es besser war, die Mutter jetzt zu verlassen. Mit Worten konnte man sie nicht schlagen.
»Wo willst du hin?«, rief sie in scharfem Ton.
»Ich habe Dienst!«, sagte sie und ging hinaus.
Bettina wunderte sich selbst, dass sie so ruhig bleiben konnte. Doch innerlich zitterte sie stark. Sie wusste nicht, wie sie nach unten gekommen war. Man sah sie entgeistert an, wagte nicht einmal, sie anzusprechen, so seltsam wirkte sie.
Sie schleppte sich durch die Straße und war bald beim Arzthaus. Dort saß man zu Tisch. Dr. Bernstein erhob sich sofort, als die Kollegin eintrat. Wortlos legte seine Mutter ein Gedeck dazu. Frau Dr. Losse saß wie gelähmt auf dem Stuhl und sah die Menschen um sich gar nicht wirklich.
»Sollen wir uns zurückziehen?«, fragte Dr. Bernstein leise und berührte ihren Arm. Er warf Britta einen Blick zu. Auch diese bemühte sich in rührender Weise um die junge Ärztin. Sie war jetzt so voller Glück und konnte einfach nicht mit ansehen, wie andere Menschen in ihrer Umgebung unglücklich waren. Alle Liebe und Fürsorge, die die junge Ärztin jetzt verspürte, zerbrach den Ring um ihr Herz. Sie legte den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich.
Man ließ sie gewähren, denn man wusste, wie wichtig es war, sich zu öffnen. Nach einer Weile beruhigte sie sich allmählich. Schließlich wischte sie die Tränen fort und stöhnte auf.
»Ich führe mich wie ein Kind auf«, sagte sie leise, »aber ich konnte einfach nicht anders. Sie hat mich eingeholt, und ich spüre schon jetzt, dass ich wieder zerbrechen werde.«
»Wer hat Sie eingeholt?«
»Meine Mutter.«
»Ihre Mutter? Wo ist sie denn?«
»Sie ist in der Villa.«
Nun fiel es dem jungen Arzt wie Schuppen von den Augen. Die exzentrische neue Patientin!
»Oh, nein«, sagte Mutter Bernstein erschrocken.
Dr. Bernstein blieb jedoch ruhig: »Sie wollen doch bei uns bleiben, nicht wahr?«
»Ja!«, rief sie leidenschaftlich. »Helfen Sie mir! Ich flehe Sie an! Aber - sie ist furchtbar. Ich möchte Sie nicht mit hineinziehen. Sie wird alles versuchen, mich wieder in ihre Macht zu bekommen. Und ich fürchte, sie wird am Ende wieder siegen und Sie auch noch vernichten.«
»Ich habe ein breites Kreuz, mir kann so schnell nichts mehr passieren.« Und wieder blickte er Britta zärtlich an. Ja, mit ihrer Liebe im Hintergrund fühlte er sich ruhig und gelassen. Jetzt sollten die Lebensstürme ruhig kommen. Er würde ihnen standhalten.
»Ab sofort mache jetzt nur noch ich Dienst in der Villa - und Sie hier! Einverstanden?«
Dr. Losse nickte zögernd.
»Aber sie wird einen Weg finden ...«
»Wenn sie dazu noch Zeit hat. Ich werde sie jetzt unter Druck setzen. Keine Sorge.«
»Ich bin Ihnen allen ja so dankbar«, stammelte die junge Ärztin.
»Aber, liebe Frau Dr. Losse, das ist doch selbstverständlich«, meinte Agnes Schöller. »Ich werde auch hinübergehen und ein paar Wörtlein mit ihr reden. Ich kenne mich mit solchen Damen aus. Vierzig Jahre habe ich Dienst getan. O ja, ich weiß, wie man sie ärgern kann.«
Nun lachte Bettina herzlich auf.
»Ich bitte sogar darum!«, rief sie, und jetzt konnte sie auch schon wieder essen.