Читать книгу Verschenktes Schicksal: Arztroman Sammelband 3 Romane - Glenn Stirling - Страница 17
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ОглавлениеDr. Losse und Dr. Bernstein saßen bei einer Tasse Kaffee beisammen. Sie hatten wieder vier neue Patienten in der Villa. Und auch die ambulante Praxis war jetzt jeden Tag recht voll. Die Kreise, die der Ruf dieses Arztes zog, wurden immer größer. Und dann waren da auch die Hausbesuche. Anfangs glaubten ja viele, der junge Doktor würde jetzt hochnäsig werden, da er eine eigene Klinik besaß. Doch zu ihrer Verwunderung stellten sie bald fest, dass er sich überhaupt nicht verändert hatte. Im Gegenteil, jetzt, da Frau Dr. Losse hier war, konnte man sich die Arbeit teilen, und jeder hatte nicht so viel zu tun. Deshalb kam auch die Freizeit nicht zu kurz. Auch den Nachtdienst teilte man sich ein.
Alle zwei Tage saßen sie zusammen und besprachen die Fälle und überlegten gemeinsam, was noch zu tun sei, um den Patienten schneller und besser helfen zu können.
»Ich habe mir Nina heute noch einmal angesehen«, sagte Dr. Losse.
»Das hatte ich auch vor. Und? Hält sie sich brav an alle Anordnungen?«
»Ja, sie trinkt den Tee und macht auch die kalten Güsse, die wir ihr empfohlen haben.«
»Wunderbar. Soll die Brennnessel also wieder mal zeigen, was sie kann.«
Doch Bettina sagte leise: »Es zeigt sich gar nichts.«
Dr. Bernstein sah sie verwundert an.
»Aber es ist jetzt bald eine Woche her! Nach meinen Erfahrungen müsste sich bereits etwas tun. Sie bekommt doch jetzt auch eine Diät - oder sündigt sie? Wir müssen das Blut reinigen, das ist äußerst wichtig.«
»Es tut sich aber wirklich nichts, Dr. Bernstein. Ich habe es auch nicht glauben können und sie noch einmal gründlich untersucht. Aber alles ist noch so wie vor einer Woche.«
Achim Bernstein stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte.
»Das gibt es nicht. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen, Frau Losse! Wieso denn nicht?«
»Ich habe noch eine andere Feststellung machen können.«
Er blieb stehen.
»Nun?«
»Ich fürchte, seit sie hier ist, ist sie seelisch noch zerrissener geworden.«
»Was?«
Die junge Ärztin meinte: »Sie haben mich gelehrt, nur immer den ganzen Menschen zu sehen. Die meisten Krankheiten liegen in der Seele begründet, so sagten Sie doch.«
»Ja, sicher. Aus diesem Grunde nehmen wir ja einige Patienten hier auf. Wir wissen, dass sie nur in einer anderen Umgebung das Umdenken lernen können. Deshalb habe ich auch Nina Norden hier aufgenommen. Tee und Diät - das allein hätte sie auch zu Hause machen können.«
»Sie geben den Patienten viel Zuversicht, schon deswegen werden viele gesund. Sie spüren, dass auch Sie an ihre Heilung denken. Ich weiß. Aber bei Nina blockiert irgendetwas den Heilungsvorgang.«
Wieder ging der junge Arzt auf und ab.
»Sie meinen, sie will gar nicht gesund werden?«
Bettina runzelte die Stirn.
»Nicht gesund werden wollen? Meinen Sie - wie unser guter Paul?«
»Ja, über den müssen wir auch noch reden. Aber jetzt ist Nina vorrangig.«
»Ach, Sie meinen, sie wollte sich hier verkriechen?«
»Vielleicht.«
Dr. Losse dachte nach.
»Sollte Liebeskummer der Grund sein?«
»Könnte es das nicht sein? Vielleicht will sie nicht zurück, also blockiert ihre Seele den Heilungsprozess.«
»Das gibt es?«
»Liebe Kollegin, das gibt es öfter, als Sie ahnen.«
»Sie kann also nur gesund werden, wenn wir diese Blockade lösen?«
»Wir müssen sie erst einmal finden!«
»Wie bitte?«
»Ja, glauben Sie denn, dass die Patienten uns ihre innersten Probleme sagen? Ja, sie wissen in der Regel nicht einmal, dass es das ist, was die Heilung behindert. Wir müssen den Grund selbst herausfinden. Ich hatte einmal eine Patientin, die bei ihrer monatlichen Blutung jedes Mal fast verblutet ist. Sie war äußerst verstört, bis ich herausfand, dass man sie einmal vergewaltigt hatte. Und nicht nur das, der Täter hatte ihr auch noch gedroht, sie zu töten, wenn sie es jemandem erzählen würde. Und immer, wenn ihr ein Mann zu nahe kam, flippte sie fast aus. Alles, was damit zusammenhing, so auch die Blutung, verursachte bei ihr einen Schock. Ich habe die wunde Stelle in ihrer Seele gefunden, mit ihr darüber gesprochen und sie so heilen können. Jetzt studiert sie Medizin.«
»Gibt es wirklich so schreckliche Menschen?«
»O ja!«
Bettina war erschrocken.
»Und was ist aus dem Täter geworden?«
»Er sitzt.«
»Dann gibt es also doch noch Gerechtigkeit?«
»Manchmal dauert es eben nur ein wenig länger, bis sie ausgleichend wirken kann.«
»Und wenn Sie das nicht herausgefunden hätten, wäre diese Frau jetzt noch krank?«
»Ja«, bestätigte Achim Bernstein.
Frau Dr. Losse dachte wieder an Nina.
»Ich bin so unerfahren«, klagte sie. Doch der junge Arzt sagte ruhig: »Das war ich auch, liebe Kollegin. Gerade von Ihnen erwarte ich mir in diesem Fall Hilfe.«
»Wie? Ich soll ...?«
»Wenn wirklich ein Mann die Ursache ihrer inneren Sperre sein sollte, dann wird sie sich doch lieber Ihnen anvertrauen als mir.«
»Aber ich weiß nicht, wie ich das anfangen soll«, rief sie flehend. »Ich bin darauf geschult worden, Diagnosen zu stellen und zu heilen.«
»Daran krankt ja unser ganzes Heilungssystem, meine Liebe. Seit Jahrhunderten hat man die Seele außer Acht gelassen. In grauer Vorzeit gehörten Seele und Körper zusammen. Ist die Seele in Ordnung, ist es meistens auch der Körper. In einem kranken Körper kann keine freie Seele atmen.«
»Und ich soll wirklich ...?«
»Sie müssen das Gespräch mit Nina suchen. Es ist wichtig, sie reden zu lassen. Sie müssen auf die kleinen Nebensächlichkeiten achten, wenn sie sich mit Ihnen unterhält. Etwas Belangloses ist für uns oft sehr wichtig.«
»Ich werde mich bemühen, obwohl ich Angst habe. Denn das habe ich noch nicht gelernt.«
»Aber ich traue es Ihnen ohne weiteres zu, Frau Kollegin.«
Sie lächelte ihn an.
»Sie sind ein Schlimmer!«
»Ich?« Er tat scheinheilig.
»Ja, jetzt schmieren Sie mir auch noch Honig um den Bart.«
»Aber Kollegin, so etwas würde ich nie tun.«
»Nein?«
Er wurde wieder ernst.
»Eines müssen Sie sich immer merken: Ich behalte Sie hier nicht aus Barmherzigkeit. Wenn ich nicht wirklich davon überzeugt wäre, dass Sie es können, würde ich Sie nicht zu Nina schicken, denn dann könnten Sie mehr zerstören als heilen.«
Vor Freude war ihr das Blut in die Wangen gestiegen.
»Das war das schönste Kompliment meines Lebens«, sagte sie tief bewegt.
»Ich mag auch Komplimente«, rief er lachend.
»Sie werden nur größenwahnsinnig. Aber bevor wir uns jetzt gegenseitig buchstäblich mit Honig begießen, gehe ich lieber.«
»Sie werden an Nina denken?«
»Ich werde sehr bald das Gespräch mit ihr suchen, wenn Sie das meinen.«
Er brachte sie zur Tür.
»Sie brauchen nur an sich selbst zu denken, daran, wie verzweifelt Sie vor kurzem noch waren und wie Sie jetzt sind. Dann werden Sie es schaffen. Sie haben die Kraft. Jetzt wissen Sie es. Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie noch an sich gezweifelt. Und solange man an seiner eigenen Kraft zweifelt, kommt sie auch nicht. Man muss an sie glauben, muss von ihr überzeugt sein.«
»Das werde ich mir die ganze Zeit vorsagen. Und wenn ich Nina nicht von dieser inneren Sperre befreien kann, dann bin ich es nicht wert, hier Ärztin zu sein.«
Dr. Bernstein sah sie ernst an.
»Solche Worte soll man nicht gebrauchen.«
»Mir ist es ernst damit. Ich möchte nichts Halbes leisten. Sie ist mein Meilenstein, an dem ich mich messen will.«
Er gab ihr die Hand.
»Aber wenn Sie nicht mehr weiterwissen, kommen Sie doch zu mir?«
»Selbstverständlich, Herr Kollege. Oh, ich werde Sie noch nerven, keine Sorge!« Dann ging sie.
Dr. Bernstein blickte ihr lange nach.
Dann kam Britta ins Zimmer, um ihm zu sagen, dass wieder Patienten im Wartezimmer säßen.
Sie hörte ihn sagen: »Ein Prachtmädel! Beim Zeus, sie ist wirklich großartig.« Er drehte sich zu ihr herum. »Ich möchte mal gern wissen, wo die Männer eigentlich ihre Augen haben«, sagte er lachend. »Da läuft so ein tolles Mädchen durch die Gegend, und niemand sieht es.«
Brittas Herz klopfte bis zum Hals. Tapfer meinte sie: »Aber Herr Doktor, Sie sind doch auch ein Mann!«
Über diese Schlagfertigkeit musste er lachen.
»Erstens, liebe Britta, sehe ich es tatsächlich, selbst ich Blindschleiche sehe das. Meine Mutter hält mich nämlich in dieser Beziehung für eine ausgesprochene Blindschleiche. Aber zweitens bin ich außerdem klug genug, um zu wissen, dass sie mich nicht meint.«
»Und Sie?« Britta war selbst erschrocken, wie mutig sie plötzlich war.
Und prompt warf der Arzt ihr einen aufmerksamen Blick zu. Sie war so lieb und ihm so treu ergeben. Doch schon schob sich wieder ein anderes Bild davor. Nein, seine frühere Verlobte hatte keine Macht mehr über ihn. Diese Wunde war längst vernarbt.
Er war auch ein Mann! Er hatte auch Augen im Kopf - und heute sah er die kleinen Ringellöckchen in ihrem Nacken, die hellen Augen, die schmale Gestalt. Alles sah er jetzt als Mann, und er dachte mit warmem Herzen: Auch sie ist ein wundervolles Mädchen.
»Britta, ich habe heute frei«, sagte er, noch bevor er richtig überlegt hatte. Sie blickte ihn an. »Was halten Sie davon, wenn wir beide mal ausgingen?«
»Oh, das wäre ...«
»Sie können mir nach der Sprechstunde Bescheid geben, ob Sie mit mir altem Krüppel überhaupt ausgehen wollen.«
Britta verließ das Zimmer. Agnes Schöller hatte alles angehört. Kurze Zeit später kam sie ins Sprechzimmer und stellte sich herausfordernd vor Dr. Bernstein auf.
»Sie spielen doch nicht mit dem Mädchen, nicht wahr? Sonst bekämen Sie es mit mir zu tun!«
Achim Bernstein hatte Agnes noch nie so gesehen; er war sprachlos.
»Bin ich vielleicht ein böser Wolf?«, fragte er irritiert.
»Ihr Männer seid alle gleich«, meinte sie verächtlich. »Ich will einfach nicht, dass Britta unglücklich wird.«
»Aber ich habe ihr doch gesagt, wenn sie nicht will ...«
Agnes blickte ihn so strafend an, dass er unwillkürlich zurückfuhr.
»Sie sind wie ein Elefant im Porzellanladen, Dr. Bernstein!« Sprach’s und stapfte aus dem Zimmer. Zurück ließ sie einen völlig verwirrten Dr. Bernstein.
»Zum Teufel mit den Frauen«, murmelte er vor sich hin. »Da soll sich einer auskennen. Womöglich muss ich auch in Behandlung gehen. Nur - wer könnte mich kurieren?«
Er nahm sich vor, nachher die Mutter zu fragen. Sie musste doch Bescheid wissen, war sie denn nicht auch eine Frau?