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3.7 Inzidenz und administrative Prävalenz
ОглавлениеMit Inzidenzstudien werden Neuerkrankungen in einem jeweils definierten Zeitraum in einer bestimmten Population erfasst. Sofern die Erhebungen wiederholt über mehrere Zeitpunkte vorgenommen und in der gebräuchlichen Rate pro 100 000 Personenjahre (PJ) einer Bevölkerung berichtet werden, lassen sie Aussagen über zeitliche Entwicklungstrends in einer jeweiligen Population zu.
Zusammengefasst haben internationale Studien zur Inzidenz von ADHS ergeben, dass die Inzidenzraten für Kinder und Jugendliche zwischen 320 und 900 von ADHS Betroffenen pro 100 000 PJ mit einer um das drei- bis vierfach höheren Belastung des männlichen Geschlechtes und einem Gipfel für die Erstdiagnose im Altersbereich von fünf bis zehn Jahren variieren. Einigen Studien können auch Angaben über zeitliche Entwicklungstrends der Inzidenzen entnommen werden. Speziell Länder mit nationalen Gesundheitssystemen verfügen über umfangreiche Register, deren Daten entsprechenden Analysen zugeführt werden können (Steinhausen et al. 2016).
In einer dänischen Register-Studie mit einer 16-jährigen Beobachtungsperiode von 1995 bis 2010 hatten insgesamt 20 281 Personen erstmalig die Diagnose einer ADHS erhalten. Die altersadjustierten Inzidenzraten für ADHS stiegen im Zeitraum 1995 bis 2010 um einen Faktor 12.5 von 6.8 auf 98.8 pro 100 000 PJ an. Nach Adjustierung der ADHS-Inzidenzraten für den allgemeinen Anstieg inzidenter psychiatrischer Fälle nahmen die Inzidenzraten in der Beobachtungsperiode immer noch um einen Faktor 7.4 von 7.3 auf 58.3 pro 100 000 PJ zu. Dieser Trend war in allen Altersgruppen vom Vorschulalter bis in das höhere Erwachsenalter zu beobachten. Die Geschlechterrate (m:w) ging in diesem Zeitraum bei allen Altersgruppen deutlich zurück und zeigte damit, dass zunehmend auch das weibliche Geschlecht mit ADHS diagnostiziert wurde (Mohr Jensen und Steinhausen 2015b).
In Deutschland sind die Daten verschiedener gesetzlicher Krankenkassen für Prävalenzschätzungen zu HKS herangezogen worden (Steinhausen et al. 2016, Akmatov et al. 2018). Eine bundesweite populationsbezogene und kassenartenübergreifende Studie steht noch aus. Beruhend auf Daten der BARMER GEK ermittelten Grobe et al. (2016) für Kinder und Jugendliche im Alter 0 bis 19 Jahre einen Prävalenzanstieg basierend auf der einmaligen Diagnosekodierung ICD-10, F-90 (gesichert) von 2,9 % (2006) auf 4,3 % (2014). In der Altersgruppe der 9- bis 11-Jährigen lagen die entsprechenden Prävalenzschätzungen bei 6 % (2006) und 7,8 % (2014). Wie in den Feldstudien liegen die Prävalenzen bei Jungen höher als bei Mädchen. Dies zeigen auch andere Routinedaten basierter Studien auf Basis von AOK Daten (Schubert et al. 2010; Roick und Waltersbacher 2015). Bislang liegen erst wenige Prävalenzangaben für höhere Altersgruppen vor. In der o. g. BARMER Studie war eine Hyperkinetische Störung bei 1,3 % der 20-bis 24-Jährigen dokumentiert, bei den 30-bis 39-Jährigen hingegen bei ca. 0,3 % (Grobe et al. 2016).
Im Unterschied zu Ergebnissen, die auf Feldstudien beruhen, weisen die auf Krankenkassendaten erhobenen administrativen Prävalenzen kontinuierliche Zunahmen auf. Inwieweit dies auf Rahmenbedingungen der Versorgung und der Abrechnung von Leistungen zurückzuführen ist, ist noch Gegenstand weiterer Untersuchungen, ebenso wie die vielfach beobachteten deutlichen regionalen Prävalenzunterschiede. Eine aktuelle Untersuchung des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung – ZI Berlin hat, beruhend auf den vertragsärztlichen Abrechnungsdaten für die Altersgruppe der 5 bis 14-Jährigen – d. h., die Grundgesamtheit wird von Kindern und Jugendlichen gebildet, die mindestens einen Arztkontakt hatten – , eine Diagnosehäufigkeit (F90.- in mindestens zwei Quartalen dokumentiert) von 4,3 % (2016) ermittelt, mit deutlicher Variation auf Kreisebene zwischen 1,6 % und 9,7 %. In dünner besiedelten ländlichen Kreisen lagen höhere Prävalenzen vor als in kreisfreien Großstädten, Die Autoren konnten zudem zeigen, dass Kinder und Jugendliche in Kreisen mit höherer Dichte an Kinder- und Jugendpsychiatern (> 1,2 pro 100.000 GKV-Versicherte), eine 1,22-mal höhere Chance für eine ADHS-Diagnose im Vergleich zu Kinder aus Kreisen mit der geringsten Dichte (≤ 0,6 pro 100.000 GKV-Versicherte) haben. In Kreisen mit niedrigem Migrationsanteil lag die Prävalenz höher. In dieser Studie konnte zwischen 2009 und 2016 für die untersuchte Altersgruppe kein Anstieg in der Diagnosehäufigkeit beobachtet werden, was jedoch nicht auf alle Altersgruppen übertragen werden kann,
Krankenkassendaten stellen eine gute Ergänzung zu Feldstudien und Surveys dar, da lange Untersuchungszeiträume zur Verfügung stehen und die Daten keinem Selektions-, Untersucher- und Erinnerungsbias unterliegen. Jedoch müssen auch hier beim Vergleich der Studien eine Reihe von Einflussfaktoren auf die generierten Ergebnisse berücksichtigt werden, Zu nennen sind die jeweils untersuchten Jahre, die Grundgesamtheit, über die Aussagen getroffen werden (Kassenart, Inanspruchnahmepopulation), die betrachtete Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur der untersuchten Population und insbesondere die für ADHS eingesetzte Falldefinition (Auswahl der ICD-Diagnosen, Einmalnennung vs. mehrere Diagnosequartale). Darüber hinaus erlauben die Krankenkassendaten die Untersuchung von Versorgungsverläufen und Behandlungsmustern.
Insbesondere die Kontrolle des Einflussfaktors der allgemeinen Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgungssysteme durch die Bevölkerung, die in der dänischen Studie vorgenommen wurde, macht deutlich, dass die Zunahme diagnostizierter Fälle mit ADHS zu einem beträchtlichen Teil, aber nicht ausschließlich durch ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein für psychische Störungen allgemein und ADHS im Speziellen erklärt werden kann. Diese Veränderung dürfte sehr wesentlich durch weitere gesellschaftliche Prozesse wie eine tendenzielle Destigmatisierung der Betroffenen, die mediale Präsenz und Bearbeitung des Themas, Initiativen von Selbsthilfegruppen und auch die Bewerbung durch die pharmazeutische Industrie beeinflusst sein. Gegen die Annahme einer genuinen Zunahme von ADHS in der Bevölkerung sprechen hingegen die oben dargestellten stabilen Prävalenzraten seit mehreren Jahrzehnten.