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1.3 Sozialraumorientierung im Diskurs der Sozialen Arbeit
ОглавлениеIn der Formulierung aus dem Handbuch Gemeinwesenarbeit (GWA) (Stövesand u. a. 2013: 21) »GWA integriert die Bearbeitung individueller und struktureller Aspekte in sozialräumlicher Perspektive« wird auf eine grundlegende Orientierung (sozialräumliche Perspektive) hingewiesen, die als programmatischer Aspekt eines Konzeptes (hier Sozialraumorientierung) verstanden werden kann. Auch Oelschlägels (2005: 259) Definition von GWA als »sozialräumliche Strategie, die sich ganzheitlich auf den Stadtteil« richtet, lässt sich als Hinweis auf SRO als Konzept lesen. Folgerichtig konstatieren Stövesand u. a. (2013: 28) »bleibt es richtig, dass die Konzepte von GWA als sozialräumliche Soziale Arbeit bezeichnet werden können«, vermeiden aber die Verwendung des Begriffs »Sozialraumorientierung« als Konzepttitel und vermuten, »dass die Ablösung eines GWA-Konzeptes durch ein Fachkonzept Sozialraumorientierung (Hinte/Treeß 2007) vor dem Hintergrund der oben dargestellten Situation kein Gewinn zu sein scheint« (Stövesand u. a. 2013: 28). Mit dem Begriff »Sozialraumorientierung« tun sich die Herausgeber*innen des Handbuch GWA offensichtlich schwer.
»Nicht zuletzt aufgrund der vorherrschenden Verkürzung des Sozialraumbegriffs auf einen von der Verwaltung bestimmten geografischen Raum und die sich immer deutlicher abzeichnende Funktionalisierung der Sozialraumorientierung zur Einsparung öffentlicher Ausgaben, vor allem der Kinder- und Jugendhilfe« (Stövesand u. a. 2013: 28).
Ein Handlungskonzept, das die o. g. Kritikpunkte aufnimmt und konstruktiv erweitert, kann insoweit zur begrifflichen Klarheit in der Sozialen Arbeit beitragen, als zwischen SRO als Handlungskonzept und GWA als Handlungsfeld Sozialer Arbeit begrifflich differenziert werden kann, was in diesem Band praktiziert wird. Auf diesem Weg bietet das Handbuch GWA, mit seiner umfänglichen Aufarbeitung der Geschichte und Entwicklung sowie ihren Meilensteinen und Positionierungen zur GWA eine wichtige und wertvolle Grundlage.
In der einschlägigen Fachliteratur Sozialer Arbeit war in den letzten Jahrzehnten (von Brülle/Marschall 1981 über Kessel u. a. 2005 bis Noack 2015) verstärkt von »Sozialraum« oder »Sozialräumen« die Rede. In der 5. Auflage des »Wörterbuch Soziale Arbeit« von Kreft/Mielenz (2005) fand sich »Sozialraumorientierung« erstmals als Stichwort im Sachregister, ebenso in Galuskes Methodenbuch ab der 7. Auflage 2007. Kessel u. a. (2005) hatten sich mit ihrem »Handbuch Sozialraum« vorgenommen, die sozialpolitischen, stadtplanerischen, stadtsoziologischen, sozialgeografischen und sozialpädagogischen Debatten zu durchqueren und erstellten daraus eine umfangreiche Sammlung von Beiträgen unterschiedlicher Autor*innen zu Ihrer Ausgangsthese, »Sozialräume stellen immer komplexe Zusammenhänge kultureller, historischer und territorialer Dimensionen dar« (Kessl u. a. 2005: 5).
Andere Autor*innen haben Methoden für den Sozialraum (Deinet 2009) zusammengestellt, »Wege zu einer veränderten Praxis« (Budde u. a. 2006) aufgezeigt oder »Schlüsselwerke der Sozialraumforschung« (Kessl/Reutlinger 2008) gesammelt und publiziert. Zwar gab es bislang noch kein einheitliches »Handlungskonzept Sozialraumorientierung« in der Fachwelt, jedoch eine gemeinsame Grundlage und unterschiedliche Akzentsetzungen. Neben dem von Hinte und Treeß entwickelten »Fachkonzept Sozialraumorientierung« (2007), das erklärtermaßen auf Offenheit für weitere Entwicklungen und lokale Situationen angelegt ist, haben Früchtel, Cyprian und Budde (2007a/b) mit ihrem »SONI-Schema« einen integrierenden Ansatz vorgelegt, der verschiedene Ebenen (Management, politische Steuerung etc.) Arbeitsfelder, Maximen (z. B. Effizienz, soziale Gerechtigkeit, lernende Organisation) und Konzepte Sozialer Arbeit (wie Lebenswelt-, Ressourcen-, Managementorientierung) verknüpft und durch eine schematische Darstellung veranschaulicht. Seit der Vorlage des »Fachkonzept Sozialraumorientierung« (Hinte/Trees 2007) gibt es immer wieder Ansätze zur Weiterentwicklung dieses, ursprünglich schwerpunktmäßig auf die Kinder- und Jugendhilfe bezogenen Konzepts wie bspw. von Noack (2015), der sich auch intensiv mit der Kritik am »Fachkonzept Sozialraumorientierung« auseinandersetzt. Noack schlägt einen »Mittelweg« zwischen subjektorientiertem Verständnis sozialer Lebenswelten einerseits und der eher territorialen Planungsperspektive von »Systemakteuren« aus Politik und Verwaltung vor. Den Vorteil dieses Mittelwegs sieht er, aus handlungsorientierter Perspektive, in der Differenzierung nach »Planungsräumen« (territorial-)raumbezogener Steuerung sowie individuellen »Lebensräumen«, zu verstehen als Gesamtheit der räumlichen Dimensionen einer individuellen Lebenswelt.
»Sozialräume« will Noack als Schnittfläche sich überlappender individueller »Lebensräume« verstanden wissen. Die Verbindung beider Perspektiven herzustellen, erklärt er zur vermittelnden oder intermediären Aufgabe Sozialer Arbeit.
Die von Wolfgang Hinte selbst, zusammen mit Oliver Fehren, vorgenommene Beschreibung, Sozialraumorientierung (SRO) sei »keine neue ›Theorie‹, kein mit anderen ›Schulen‹ konkurrierender Ansatz, sondern eine unter Nutzung und Weiterentwicklung verschiedener theoretischer und methodischer Blickrichtungen entwickelte Perspektive, die als konzeptioneller Hintergrund (Fachkonzept) für das Handeln in allen Feldern Sozialer Arbeit dient« (Hinte/Fehren 2013: 19), geht bereits in die Richtung der Konzeptualisierung von SRO in diesem Handbuch. Dort wird zwar ebenfalls auf die unterschiedlichen Raumbedeutungen hingewiesen und Raum als Konstrukt problematisiert, allein es fehlt die letzte Konsequenz des Verzichts auf die Verwendung von Sozialraum als Perimeter oder Behälter, denn Sozialraum wird u. a. als Kunstwerk, »verinselte Lebenswelt« (ebd.: 22) und »Steuerungszone« (ebd.: 23) bezeichnet. Das »Fachkonzept Sozialraumorientierung« wird zwar von Hinte/Fehren gegenüber GWA abgegrenzt, die als Arbeitsfeld bezeichnet wird, dabei bleibt der Konzeptbegriff, als »übergreifendes Betriebssystem« bezeichnet (ebd.: 27), allerdings vergleichsweise schwammig.
Auf dem Weg zu einem handlungsfeldübergreifenden Konzept Sozialer Arbeit verfolgt Schönig (2008: 10) »das Ziel, durch eine einheitliche Terminologie und Auffassung von ›Sozialraumorientierung‹ einen Überblick zu den zentralen Fragen, Theorien und Methoden zu geben« und bezieht sich dabei auf das Verständnis von »Sozialraumorientierung als Handlungskonzept Sozialer Arbeit« von Becker (2006).
Von Kessl und Reutlinger (2013) wurde mit »Sozialraumarbeit« der bereits vorhandenen Begriffsvielfalt eine weitere Variante hinzugefügt. Sie möchten darunter eine professionelle Perspektive verstanden wissen, die auf der Basis einer reflexiven Haltung »kontinuierlich mit der Bearbeitung der Aufgabe konfrontiert ist, sich einer entsprechenden herrschaftskritischen Reflexion stellen und sich auf dieser Basis fachlich positionieren zu müssen« (ebd.: 137).
Von Wohlfahrt u. a. (2003; 2005) wurde eine allgemeine Euphorie bzgl. der SRO konstatiert und als »Verschleierungsrhetorik« des Sozialstaatsabbaus kritisiert. Gegen den Vorwurf der Missachtung und Abschaffung individueller Rechtsansprüche durch Sozialraumbudgets argumentieren wiederum Budde/Früchtel/Hinte (2006) und belegen dies durch bundesweite Praxisbeispiele als Wege zu einer veränderten Praxis.
Einer grundsätzlichen Revision sozialraumbezogener Sozialer Arbeit unterzog Gabriele Bingel (2011) die Entwicklung sozialraumorientierter Sozialer Arbeit, von der Settlementbewegung über sämtliche Varianten der GWA bis zum Quartiermanagement, in historischer Perspektive bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, der Sozialraumdiskurs sei der Versuch, die Diskrepanz zwischen hehren sozialen Visionen Sozialer Arbeit und ihrem begrenzten Handlungsrepertoire zu deren Verwirklichung zu verringern. Die Attraktivität des »Sozialraums« gründe auf der scheinbar idealen Möglichkeit der Verbindung von »Lebensweltlichem« und »Gesellschaftlichem«. Das Dilemma, sozial benachteiligte Menschen grundsätzlich als bewältigungsfähige und zu autonomer Lebensbewältigung fähige Menschen und Adressat*innen Sozialer Arbeit zu betrachten und damit aber gleichzeitig den Einfluss sozialstruktureller (Lebens-)Bedingungen zu relativieren, würde im sozialräumlichen Diskurs versucht dadurch aufzulösen, dass Gesellschaft grundsätzlich als gestaltbar und veränderbar betrachtet und dargestellt würde, während gleichzeitig subjektbezogene Strategien wie Bildung, Begleitung oder auch Disziplinierung zur Anwendung kämen.
Diese Kritik greift deshalb zu kurz, weil genau aufgrund der Reziprozität beider von Bingel genannter Auftragsaspekte Sozialer Arbeit (Verminderung sozialer Benachteiligung vs. Selbsthilfe und -organisation) die Unterstützung für sozial benachteiligte Menschen einzufordern und im gesellschaftlichen Auftrag zu praktizieren sind. Denn benachteiligte Bevölkerung wird gerade durch sozialstrukturelle Bedingungen daran gehindert, ihre vorhandenen Ressourcen und Potenziale zu nutzen und zu erweitern (Hradil 1999). Soziale Arbeit geht dem soziale Ungleichheit nivellierenden Programm eines aktivierenden Bürgerstaats dann nicht auf den Leim, wenn Aktivierung als Aktivitätsermöglichung und -unterstützung (Noack 2015) für sozial benachteiligte Bevölkerung als gesellschaftliche Aufgabe angesehen und praktiziert sowie die Verantwortung dafür nicht alleine den Betroffenen zugewiesen wird.
Die Thematisierung sozialer Benachteiligung muss nicht in »paternalistische Bedürfnisinterpretation« und »bevormundende Kontrolle ungünstiger Lebensstile in Sozialräumen« (Bingel 2011) abdriften, wenn sie auf der Basis vertrauensvoller, lebensweltorientierter Arbeit mit Betroffenen geschieht und deren Themen und Problemsicht aufnimmt. Dennoch dürften Stigmatisierungseffekte und Insuffizienzgefühle bei Betroffenen zwar unerwünschte aber nie ganz auszuschließende Effekte sein, deren Auftreten sicher auch mit der Machtbalance der Problemdefinitionen von Betroffenen und Fachkräften Sozialer Arbeit zu tun hat.
Bingel (2011) gründet ihre Argumentationsfigur auf der problematischen Fokussierung des Gegenstands Sozialer Arbeit, der »Lösung« sozialer Probleme. Dies stellt eine weder korrekte noch notwendige Engführung der einschlägigen disziplinären Gegenstandsbeschreibung Sozialer Arbeit dar, die von Engelke (2004) als »Bewältigung sozialer Probleme« identifiziert wird. Mit dem Anspruch der »Lösung sozialer Probleme« (Bingel 2011) wird eine utopische Grundlage professioneller Mandatierung angenommen, deren Verwirklichung von vornherein als uneinlösbar erscheinen muss. »Bewältigung sozialer Probleme« (Engelke 2004) beinhaltet dagegen Aufgaben, die sich auf der Basis interdisziplinären Erklärungs- und Handlungswissens, professionell wirkungsvoll bearbeiten lassen. Auch die Darstellung des gesellschaftlichen Auftrages Sozialer Arbeit als Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft geht von einem zwar in den Sozialwissenschaften gängigen, aber nicht zwingenden Verständnis sozialer Prozesse aus. So bezeichnet Elias (1970) mit dem Begriff der »Figuration« Verflechtungsbeziehungen wechselseitig aufeinander angewiesener, weil voneinander abhängiger Menschen, deren Interdependenzgeflecht insgesamt als Gesellschaft bezeichnet werden könne und müsse, d. h. vereinfacht ausgedrückt: Gesellschaft besteht aus miteinander interagierenden Individuen.
Zum dritten geht Bingel (2011) von einem absoluten Integrationsbegriff aus, der eine vollständige Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder an deren sozialen Gütern impliziert. Vollständige Integration ist in Gesellschaften unmöglich, die sich angesichts wechselnder Machtpotenziale menschlicher Beziehungen ständig wandeln. Wenn der Auftrag Sozialer Arbeit in der »Bewältigung sozialer Probleme« besteht und Gesellschaft als Interdependenzgeflecht gegenseitig voneinander abhängiger Menschen gesehen wird, kann Soziale Arbeit als vermittelnde oder intermediäre (Fehren 2008) Instanz insofern wirksam werden, als sie die Analyse der Verteilung von Machtpotenzialen und gesellschaftlichen Gütern und Chancen, deren Thematisierung und Skandalisierung, unter Verweis auf proklamierte, gesetzlich verankerte Ansprüche und Diskrepanzen zur empirischen Wirklichkeit sowie die Entwicklung von Angeboten professioneller, theoretisch und empirisch fundierter Interventionen und deren Einsatz als ihre Aufgabe annimmt.