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1.2 »Sozialraum-Orientierung« – raumtheoretische und gesellschaftspolitische Betrachtungen
Оглавление»Sozialraum« steht, nach obiger Definition von Handlungskonzepten, für den programmatischen Aspekt des Handlungskonzepts SRO und soll deshalb an dieser Stelle zunächst begrifflich definiert und inhaltlich expliziert werden. Mit der Aufgabe, Raum begrifflich zu fassen und dessen Bedeutung für Menschen zu erklären, beschäftigten sich Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen und unterschiedlichen Blickwinkeln. So wies bereits Durkheim (1903) auf den Zusammenhang zwischen sozialer Struktur menschlichen Zusammenlebens und deren räumlicher Konstitution hin. Er ging jedoch von direkten kausalen Zusammenhängen zwischen Sozialstruktur und Raumstruktur aus, wodurch wiederum die Sozialstruktur reproduziert würde (Konau 1977). Georg Simmels (1908) Nachdenken über die Zusammenhänge zwischen Raum, Zeit und Substanz führten ihn zu einem neueren Raumbegriff, als synthetische Leistung des Menschen bzw. von Gesellschaften und damit auf den sozialen Ursprung des Raumbegriffs. Zwar geprägt von den newtonschen Vorstellungen eines absoluten Raums, ging auch Simmel von der Existenz des geografisch bestimmten Raumes aus, setzte diesen jedoch in Relation zu den sozialen Prozessen, durch die der geografische oder materielle Raum erst seine Bedeutung erhalte. Die Chicagoer Schule der Soziologie (z. B. Park/Burgess/McKenzie 1925) interessierte sich speziell für die empirisch nachweisbaren Einflussfaktoren der räumlichen Organisation von Gesellschaft. Hierfür wurden Städte und Stadtteile als Territorien der Lokalisierung sozialer Ordnungen untersucht. Mit ihrem »sozialökologischen Ansatz« war eine Fokussierung auf quasi naturgesetzlich determinierte Anordnungen von Menschen in geografischen Räumen verbunden, die der von Simmel bereits aufgezeigten Komplexität von Wechselwirkungen zwischen sozialen Strukturen und Prozessen in raum-zeitlicher Perspektive nicht gerecht wurden.
Aus der mikrosoziologischen Perspektive der Phänomenologie (Schütz 1932) wird der subjektive Sinn sozialen Handelns in seiner Bezogenheit auf Situationen, Orte und Anlässe des Handelns als »lebensweltliche« Phänomene begrifflich festgehalten und ethnomethodologisch untersucht. Auch die von Goffman (1969) beschriebene und praktizierte Interaktionsforschung macht den räumlichen Charakter sozialer Phänomene und damit deren vielfältige Beziehungen deutlich. Henri Lefèbvre sorgte in den 1970er Jahren für eine Wiederbelebung der theoretischen Debatte um Raum. In seiner kapitalismuskritischen Schrift »Die Produktion des städtischen Raums« entwickelt Lefèbvre (1977) einen relationalen Raumbegriff, der zwischen sozialem und physischem Raum unterscheidet. Raum wird nach Lefèbvre von jeder Gesellschaft in spezifischer Weise produziert. Dies geschehe z. B. durch die »räumliche Praxis«, also der (Re-)Produktion von Raum durch die Aktivität der Wahrnehmung des Raums bzw. raumbezogene Verhaltensweisen. Mit der »Repräsentation von Raum« verbindet Lefèbvre die Konzeptualisierung von Raum durch Ideen, z. B. von Architekt*innen, Planer*innen oder Künstler*innen, die dem Raum eine kognitive Bedeutung und Lesart verleihen. Praxis und (Re-)Präsentation des Raumes durchdrängen einander und würden beeinflusst durch die gesellschaftliche Ordnung, die im Kapitalismus bspw. mit der Entfremdung des Handelns einhergehe. Den dritten Aspekt der Produktion von Raum sieht Lefèbvre im »Raum der Repräsentationen«, womit die Bedeutung von Symbolen für die Raumbestimmung gemeint ist. Damit verwirft Lefèbvre das Verständnis von Raum als Behälter oder absolutem Raum und will die Vielgestaltigkeit und Relationalität von Raum deutlich machen, ohne selbst einen klaren Raumbegriff anbieten zu können.
Dieter Läpple (1991) griff die Diskussion um Raum in Deutschland wieder auf, indem er, im Gegensatz zu der bis dahin für die stadtsoziologische Forschung dominierenden sozialökologisch orientierten »Kölner Schule« um Jürgen Friedrichs (1977), die Verwendung von »Behälterkonzepten« kritisierte und stattdessen folgende vier Komponenten einer Raummatrix formulierte:
• gesellschaftliche Verhältnisse als materielle Erscheinungsform,
• gesellschaftliche Interaktions- und Handlungsstrukturen,
• institutionalisiertes und normatives Regulationssystem,
• räumliches Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem.
Mit dieser Differenzierung machte Läpple deutlich, dass Raum theoretisch rekonstruierbar und gesellschaftlich konstituiert wird, womit zwangsläufig eine Verständigungsnotwendigkeit über die jeweilige Bedeutung von Raum entstehe.
Martina Löw (2001) hat den raumsoziologischen Diskurs ein Jahrzehnt später weitergeführt und präzisiert, indem sie auf die Unterschiede der mit den Begriffen »Behälterraum« und »Beziehungsraum« verbundenen Konzepte hinwies. Demnach wird unter einem »Behälterraum« ein Gefäß (z. B. Saal oder Stadtteil) verstanden, das aus dem Blickwinkel von außen nach innen betrachtet mit Gegenständen, Menschen oder Eigenschaften (bspw. Möbel, Menschen, Gerüche etc. in einem Saal bzw. Gebäude, Straßen, Plätzen, Menschen und Lärm in einem Stadtteil) gefüllt sein kann. Beim »Beziehungsraum« wird, von innen nach außen betrachtet, ausgehend von den »Gegenständen« (z. B. Menschen, Aktionen, physische Körper, Organisationen, Regeln, Weltbilder) das Ergebnis der Beziehungen zwischen diesen »Gegenständen« beschrieben.
Zur Darstellung der Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit der Dynamik von Räumen verwendet Löw den Begriff der (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten. Diese Schreibweise in Klammern soll verdeutlichen, dass Räume gleichermaßen auf der Anordnungspraxis und auf gesellschaftlichen Ordnungen beruhen. Räumliche Strukturen würden demnach durch in Räume eingeschriebene Regeln konstituiert und durch Ressourcen gesichert. Löw schlägt vor, von einer durch die Relation zwischen Strukturen und Prozessen geprägten doppelten Konstituiertheit von Raum auszugehen. Zur Analyse von Raumkonstitutionen brauche es demzufolge Kenntnisse der »Bausteine« (soziale Güter und Menschen) und deren Beziehungen untereinander. Hilfreich hierzu sei nach Löw ein Rahmenkonzept unter Verwendung eines »Raum-Zeit-Relativs«, womit im Forschungsprozess der Ausgangspunkt wahlweise auf den »Bausteinen« oder den Beziehungen liegen könne, solange beide Perspektiven einbezogen würden. Im ersten Fall, der vorrangigen Betrachtung der Strukturen, seien für Operationalisierungen die materielle Gestalt, das soziale Handeln, die normative Regulation und die kulturellen Ausdrücke zu beachten.
Aus dem Blickwinkel des Herstellungsprozesses von Raum sind nach Löw die beiden Prozesse »Syntheseleistung« und »Spacing« zu unterscheiden. »Syntheseleistung« meint das Schaffen von Räumen durch die Verknüpfung der Raumelemente (soziale Güter und Lebewesen) durch Menschen über Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Imaginationsprozesse. Unter »Spacing« wird der zweite Vorgang der Konstitution von Raum, das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen und deren symbolischer Markierung, durch welche deren Zusammenspiel kenntlich gemacht würde, verstanden. »Syntheseleistung« und »Spacing« geschehen im Alltag der Konstitution von Raum gleichzeitig. Löw geht »(analytisch) von einem sozialen Raum aus, der gekennzeichnet ist durch materielle und symbolische Komponenten« (2001: 15).
Räume sind für Löw aufgrund der in hierarchisch organisierten Gesellschaften meist ungleichen und unterschiedlichen Bevölkerungsteile begünstigenden bzw. benachteiligenden Verteilung oft Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen.
»Verfügungsmöglichkeiten über Geld [Ökonomisches Kapital, wie Einkommen], Zeugnis [Kulturelles Kapital, wie Bildung], Rang [Status] und Assoziationen [Inklusion/Exklusion; Soziales Kapital] sind ausschlaggebend, um (An)Ordnungen durchsetzen zu können, so wie umgekehrt die Verfügungsmöglichkeit über Räume zur Ressource werden kann« (Löw 2001: 272).2
Schroer (2006) verweist auf die etymologische Herkunft des Raumbegriffs von »räumen/abräumen/Platz schaffen« und erklärt damit die Bedeutung des »Raum [S]chaffens« als sozialen Prozess. Mit Blick auf die historische Entwicklung der Rezeption des Begriffes konstatiert Schroer eine Veränderung von absoluten (Aristoteles, Newton, Kant) über relativistische (Leibniz, Einstein) zu relationalen Raum-Verständnissen (Elias, Lefèbvre, Löw). Schroer sieht » die besondere Bedeutung Simmels für eine Soziologie des Raums darin, dass er sowohl die strukturelle Seite des Raums betont als auch die Hervorbringung des Raums durch menschliche Aktivitäten« (2006: 78). Das Verdienst der Literaturwissenschaftler um Dünne und Günzel (2006) ist es, eine interdisziplinäre Übersicht der Theorien zu Raum erstellt und dabei eine wertvolle Sammlung von Originaltexten vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts zusammengestellt, aufbereitet und kommentiert zu haben.
Die oben aufgeführten raumtheoretischen Überlegungen sind für Soziale Arbeit deshalb besonders relevant, weil daraus klar ersichtlich wird, dass Räume von unterschiedlichen Bevölkerungsteilen unterschiedlich erlebt, erfahren und bestimmt werden. Wenn mit den Raumkonstitutionen auch Chancen auf Zugang und Ausschluss von Raum einhergehen, wie von Martina Löw (2001) beschrieben, kann die Konstitution von Raum als Gegenstand sozialer Aushandlungsprozesse und sozialer Konflikte im Allgemeinen sowie sozialer Benachteiligung im Besonderen betrachtet werden. So lassen sich bspw. Nutzungskonflikte, die aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen und gesellschaftlicher Machtverhältnisse entstehen, als ver-/aushandelbare gesellschaftliche Prozesse zur Bearbeitung sozialer Probleme verstehen. Als Beispiel zur weiteren Veranschaulichung der empirischen Bedeutung der Raumtheorie eignet sich die Publikation von Emmenegger und Litscher (2011). Darin werden, in Auseinandersetzung mit öffentlichen Räumen, unterschiedliche Kontexte aus multidisziplinären Perspektiven beleuchtet und mit Beispielen von Forschungsprojekten aus der Schweiz belegt. Empirisch evident für die Lebenswirklichkeit und Lebensweise von Menschen dürften die Wohn- und Arbeitsorte sowie Orte der Freizeitbeschäftigung und Orte der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sein. Die Verbindungen solcher Orte lassen sich analytisch als Aktionsräume be- und nachzeichnen (Kaschuba u. a. 2016), während sich die Fragen der individuellen und gruppenbezogenen Bedeutungszuschreibungen im Lebensweltansatz (Thiersch 1929) wiederfinden. Präsenz und Nutzungsverhalten von Menschen an Orten divergieren je nach Lebenslagen, Lebensstilen und Milieuzuschreibungen und sind daher als relevante Aspekte sozialräumlicher Konstellationen zu berücksichtigen. Ebenso prägen empirisch relevante (Ein-)Teilungsprozesse administrativer Art (wie amtlich festgelegte statische Stadtbezirke, Wahlbezirke, Schulbezirke etc.) oder Einteilungen je nach persönlichen Merkmalen und Organisierungsgrad (Kirchenbezirke) das soziale (Er-)Leben.
Aus der Kombination der obigen (raum-)theoretischen Überlegungen mit empirischen Raumnutzungsprozessen lässt sich ein relationales (Raum-)Verständnis entwickeln, das soziale und räumliche Aspekte möglichst weitgehend einbezieht und sensibel für vorschnelle oder unpassende Verwendungen von Behälter- oder Gebietsbegriffen ist.
Dementsprechend ist der Begriff Sozialraum im oben dargelegten und diesem Handbuch zugrunde liegenden Verständnis nicht als Gebietsbegriff synonym für einen geografisch oder administrativ begrenzten Perimeter zu verwenden, wie immer wieder zu lesen ist (»das Leben im Sozialraum«, »Menschen in ihrem Sozialraum«), sondern seine Bedeutung erscheint sinnvollerweise ohne die Verwendung des Substantivs am passendsten.
Als Ergebnis der obigen begrifflichen und theoretischen Explikation wird im Rahmen des hier zu beschreibenden »Handlungskonzept Sozialraumorientierung«
»Sozialraum« als sozial und räumlich strukturierter Kontext verstanden, der von Menschen und ihren Vergesellschaftungen unterschiedlich konstruiert, produziert und interpretiert wird und zu dem Menschen in unterschiedlichen Relationen (Aufenthalt, Begegnung, Interaktion, Zugehörigkeit etc.) stehen.
Mit dem Begriffspaar Sozialraum-Orientierung wird deutlich gemacht, dass das hier zu beschreibende »Handlungskonzept Sozialraumorientierung« eine bestimmte Ausrichtung hat und die Perspektive auf den programmatischen Aspekt »Sozialraum«, in oben beschriebener Bedeutung, richtet. Diese spezifische Sichtweise bietet Orientierung im Sinne einer konzeptionellen Ausrichtung des Handelns (s. o. zu »Handlungskonzept«; Kap. 1.5) auf Zusammenhänge sozialer und räumlicher Kontexte. Grundlage dieser Orientierung ist die Beschäftigung mit der sozialen Konstitution und Konstruktion von Räumen sowie deren unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen und gesellschaftlichen Bedingtheiten. Dabei genügt es nicht, um die soziale Bedingtheit der Konstitution und Konstruktion von Raum, entsprechend der oben beschriebenen Raumtheorien, zu wissen, sondern zur Orientierung bedarf es ebenfalls der Kenntnis und des Verstehens unterschiedlicher Raumdefinitionen gesellschaftlicher Akteure (Institutionen und Bevölkerung) und deren zugrunde liegenden Interessen. Ganz gleich, ob es sich um ein territoriales Raumverständnis, wie z. B. für behördliche Planungsräume üblich, oder um Milieu bedingt unterschiedliche Aktionsräume von Bevölkerungsteilen handelt, lassen sich die jeweiligen Prozesse des »Raum [S]chaffens« (Schroer 2006) bzw. der »(An)Ordnung von sozialen Gütern und Lebewesen« (Löw 2001) sowie der sozialen »Syntheseleistungen« nach charakteristischen Merkmalen untersuchen.
Mit dem Raumverständnis und -begriff sind auch sozialpolitische Diskurse, bspw. über den »Umbau des Sozialstaats«, vom »Welfare-State« zum »Workfare-State« oder vom »versorgenden« zum »aktivierenden« Staat, verbunden (Dahme/Wohlfahrt 2003). In deren Rahmen würde die Verantwortung für soziale Probleme und deren Bewältigung tendenziell auf die lokale Ebene und schwerpunkmäßig auf das Individuum, die Bürger*innen verlagert, wobei sich der Staat aus der Verantwortung zurückziehen und die Entwicklung den Marktmechanismen überlassen solle (Giddens 1998). In diesem Zusammenhang ist die dezentrale räumlich-territoriale Orientierung an lokalen Steuerungseinheiten (Stadt, Gemeinde, Quartier) und die sozialpolitische Orientierung an selbstverantwortlichen Individuen und leistungsfähigen Gemeinschaften (Nachbarschaft, Bürgerengagement, Kommunitarismus, vgl. Etzioni 1998) zu hinterfragen und mit den Verursachungsgründen und Bewältigungsbedingungen sozialer Probleme zu konfrontieren.