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Praxeologie – Praxistheorie

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In den 1980er Jahren hat Andrzej Wirth bei der Konzeptionierung des Gießener Studiengangs „Angewandte Theaterwissenschaft“ ‚Praxeologie‘ als grundlegenden Ansatz eingeführt. In Bezugnahme auf seinen Lehrer, den polnischen Philosophen Tadeusz Kotarbinski, formulierte er ‚Praxeologie‘ als eine Methode, vom Raum der Theorie in den Raum der Praxis einzudringen, um die Theorie zu verifizieren, zu widerlegen oder aufzuheben.1 Diese prominente Stellung der Praxis als kritische Instanz gegenüber der Theorie steht allerdings in der Gefahr, das Wechselverhältnis zwischen beiden zu verkürzen. Der angewandten Theaterwissenschaft gelingt es jedoch sehr erfolgreich, dies zu balancieren.

Es lohnt sich jedoch, nochmals auf die grundlegenden Parameter der ‚Praxeologie‘ zurückzugehen, die die Soziologie in Bezug auf Bourdieu und Giddens in jüngerer Zeit re-formuliert hat. In der Soziologie wird die praxeologische Perspektive immer auf die Genese von Gesellschaft bezogen. Dies kann für Theater nur in einem übertragenen Sinne gelten – ist aber insbesondere dann valide, wenn man für Theater eine kultursoziologische Grundannahme ansetzt. Hilmar Schäfer beschreibt den praxeologischen Praxisbegriff folgendermaßen:

Praktiken sind das Tun, Sprechen, Fühlen und Denken, das wir notwendig mit anderen teilen. Dass wir es mit anderen gemeinsam haben, ist Voraussetzung dafür, dass wir die Welt verstehen, uns sinnvoll darin bewegen und handeln können. Praktiken bestehen bereits, bevor der/die Einzelne handelt, und ermöglichen dieses Handeln ebenso wie sie es struktureiern und einschränken. Sie werden nicht nur von uns ausgeführt, sie existieren auch um uns herum und historisch vor uns. Sie zirkulieren unabhängig von einzelnen Subjekten und sind dennoch davon abhängig, von ihnen aus- und aufgeführt zu werden.2

Deutlich erkennt man die Anleihen an Konzepte wie ‚Performanz‘ oder ‚Performativität‘, wenn als Grundbedingungen sozialer Praxis Relationalität (Interaktion), Zeitlichkeit (Prozess), Körperlichkeit (inkorporiertes Wissen) und Materialität (Relevanz und Gebrauch von Artefakten) konstatiert werden.3 Im Einklang damit steht auch die Annahme, „dass Praktiken niemals essenzielle Quellen haben können“. Praxisformationen müssen „immer wieder aufs Neue von ereignishaften Praktiken materiell erzeugt werden“. In der Konsequenz lassen sich Praxisformationen „nur in actu als Materialisierungen von Praktiken verstehen, die per definitionem Ereignisse sind.“4

Vergegenwärtigt man sich nun die Situation der historiographischen Theaterpraxis, so eröffnen die genannten Parameter – Relationalität, Zeitlichkeit, Körperlichkeit, Materialität – spezifische Reflexionsebenen. Relationalität wird auf zwei Ebenen relevant – der Jetztzeit der aktuellen Aufführung, bzw. Theaterpraxis, und der Vergangenheit, in der sich eine historische Praxis ereignete. Auf der historischen Ebene kommt der kulturhistorische und ästhetische Kontext ins Spiel, die Frage nach dem historischen Vorkommen, der Distribution und Erfahrbarkeit dieser Praxis. Auf der Jetztebene stellt sich diese Frage ebenso, gleichzeitig kann man die eigene und fremde Involviertheit in die Praxis reflektieren. Wer nimmt Teil und ermöglicht die Praxis, und welche Position nimmt er/sie dabei ein?

Auch die Frage nach der Körperlichkeit verlangt eine reflexive Vermittlung zwischen jetzt und damals. Die uns heute zur Verfügung stehenden Sänger und Schauspieler operieren auf einer völlig anderen Basis von Körperwissen. Obgleich in historischer Praxis trainiert – sie beherrschen etwa Gesten-Regeln, die aus spezifischen Quellen zum Theater des 18. Jahrhunderts generiert werden – haben sie keinen natürlichen Zugang zu historischen Körperpraktiken. Das Gleiche gilt für die Betrachterin und Theaterhistorikerin. Meinen Sinnen ist das, was ich in der historiographischen Theaterpraxis erlebe, erst einmal fremd. Ich kann mich an die kodifizierten Gesten gewöhnen und dem Geschehen auf der Bühne eine Art von Lusterfahrung abringen – aber das ist durchaus harte Arbeit. Auf der anderen Seite kann ich aber auch diese Fremderfahrung als erfreulichen Gewinn auf der Erkenntnisebene verbuchen; man kann dem Kantianischen ästhetischen Urteil sozusagen bei der Körper-Arbeit zuschauen.5

Zeitlichkeit und die Frage nach dem Prozess der Praxis und der beständigen Hervorbringung des Sozialen und auch des Ästhetischen wird in der historiographischen Theaterpraxis zu einer Reflexion über die grundsätzliche Historisierung des Ereignisses. Damit ist der einfache Übergang in die historische Aufführungssituation grundsätzlich verstellt, der Abstand zwischen beiden Zeitebenen bleibt offen und erzeugt ein Spannungsverhältnis. Behält man konsequent den Standpunkt der Zeitlichkeit und der Historisierung, so kann man die Theatergeschichte als Narration über historische Theatermodelle problematisieren. Ein ‚Modell‘ des Barocken Theaters etwa differenziert sich dann aus bis hin zur Unmöglichkeit einer Annahme eines ‚Barocken Theaters‘, wenn man die Einzelereignisse von Theaterpraxis als zeitlich gegeben und je spezifisch betrachtet. Ich werde später nochmals auf das Problem des Modells zurückkommen.

Die Materialität, also die Relevanz und der Gebrauch von Artefakten, spielt in der Konzeption der historiographischen Theaterpraxis eine herausragende Rolle. In meinem Falle geht es dabei um die Erforschung der Theaterräume des 18. Jahrhunderts. Hier weicht allerdings die kunsthistorische und architektonische Herangehensweise zugunsten einer konsequenten praktischen Perspektive zurück. Man könnte an dieser Stelle durchaus an Konzepte der site specific performance anschließen. Für unseren Umgang mit der Bühne des Schlosstheaters in Drottningholm etwa heißt das, dass wir den Theaterraum grundsätzlich als Instrument verstehen, das eine spezifische Praxis verlangt, aber auch ermöglicht. Die Holzbühne des Schlosstheaters ist sogar ein besonders diffiziles Instrument, dass sein klangliches, räumliches und energetisches Potential nur voll entfaltet, wenn die Praxis des Theaters sich darauf einstimmt. Es mutet dann ein wenig Paradox an, wenn – wie in den letzten Jahren geschehen – ein ambitionierter Regisseur Mozarts da-Ponte-Trilogie in einer Art Kasten/Podest spielen lässt, und somit die Aufführung komplett von der Materialität des Theaters abtrennt.6 Die Frage ist, ob dieser theaterästhetisch durchaus interessante Regieeinfall hier am rechten Ort ist. Andererseits darf die theaterhistoriographische Empfindsamkeit hier nicht dogmatisch werden, denn damit würde jeglicher Theaterraum auf die eine ideale Praxis hin limitiert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine praxeologische Perspektive in der Theaterhistoriographie aus den folgenden Gründen sinnvoll ist: Zum einen geht es grundsätzlich um den fruchtbaren und auch den kritischen Einbezug von Praxis in die historische Theaterforschung. Zum anderen bietet die Praxeologie einen Zugang zur eigenen Wissens- und Wissenschaftspraxis. Die eigene historische Narration wird durch die Praxis zunächst einmal fragwürdig, und zwar auf eine höchste produktive Weise. Zudem verlangt sie eine ständige Positionierung der eigenen Theorie und Methode in der Rolle der Theaterhistorikerin. Methodisch einem praxeologischen Ansatz folgen, heißt, die historische Theaterpraxis in einem produktiven Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit, Materialität und Zeitlichkeit zu verorten, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

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