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1) Schaffung eigener Quellen und Erfahrungen

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Eine Theaterhistoriographie, die an Gegenständen arbeitet, welche der Ära der technischen Bild- und Tonreproduktion vorausgehen, ist oft vor das Problem gestellt, dass die Quellen zu bestimmten Theaterwerken, Aufführungsbedingungen oder Prozessen enorm rar sind. Notdürftig destilliert man aus historischen Briefen, Memoiren, Zensurberichten oder anderen in der Regel handschriftlich verfassten Quellen Beschreibungen von Erfahrungen und Abläufen. Gerne befasst man sich mit Krisenmomenten des Theaters, weil Theaterskandale und Theaterrevolutionen deutlich mehr Quellen hervorbringen als ungestörte Theateraufführungen, über die im Nachklang weniger zu hören ist. Das entscheidende Problem allerdings liegt in der Erfahrungslücke – es gibt keine direkte Erfahrung des Theaterereignisses, auf die unsere Erinnerung zurückgreifen könnte.

Die experimentelle Praxis mit historischen Werken, in historischen Räumen und orientiert an historischen Quellen ist hier eine Möglichkeit, diese Lücke zumindest ansatzweise zu verkleinern. Durch Workshops und Theater-Produktionen erzeugen wir performative Erfahrungen mit historischen Gegenständen, mit unseren Reflexionen, Notaten und Analysen erzeugen wir zusätzliche Quellen, die sich im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart positionieren.

Die Imagination der Historikerin ist die Basis für die Erzeugung des historischen Narrativs.1 Wenn man sich über Wochen und Monate in bestimmte Akten hineinvertieft hat, dann kann es passieren, dass im Kopf eine Dynamik in Gang kommt, welche die historischen Fragmente zu einem lebhaften Ereignis fügt. Aber es ist natürlich etwas Anderes, wenn man tatsächlich im Zuschauerraum sitzt und die ästhetische Erfahrung einer Aufführung hat, die in engem Zusammenhang steht mit den bearbeiteten Quellen. Hier wird Text-Bildwissen tatsächlich in eine körperliche Erfahrung transformiert, die ihrerseits das Denken über eben jenes Text-Bildwissen beeinflusst und erweitert.

Ein Beispiel hierfür ist ein Workshop im Drottningholmer Schlosstheater, bei dem das Duett „Là ci darem la mano“ aus Mozarts Don Giovanni geprobt wurde. Die zwei jungen Sänger*innen – Laila Cathleen Neuman als Zerlina und João Luís Paixão als Don Giovanni – nahmen dafür verschiedene Positionen im Raum ein, um die Soundqualität der Bühne zu explorieren. Je mehr sie sich dem Bühnenhintergrund näherten, desto ‚flacher‘ wurde die Tonqualität. Auch versendete sich der zu den Seiten gewandte Gesang in den Bühnengassen. Als sie sich schließlich im Rahmen des Proszeniums positionierten, wurde klar, dass dieser Bühnenrahmen wie ein Verstärker funktioniert und den Klang weit in den Zuschauerraum hineinsendet. Beide Sänger*innen probierten dort eine dem Publikum zugwandte Stellung und erreichten so, dass ihre Stimmen weit nach hinten in den Zuschauerraum getragen wurden. Ein voller, brillanter Klang füllte den Raum.

Abb. 2:

Workshop in Drottningholm 2016. Laila Cathleen Neuman als Zerlina und João Luís Paixão als Don Giovanni. Foto: Performing Premodernity.

Das Proszenium spielt auch als energetisches Affektinstrument eine Rolle. Um den sozialen Status, aber auch die emotionale Bindung, die Manipulationsverhältnisse der Charaktere etc. zu befragen, wurde das Duett mit den beiden Sängern*innen wiederum in verschiedenen Positionen ausprobiert. Hier erwies sich die Platzierung im Proszenium erneut als wirkmächtig. Don Giovanni/Paixão und Zerlina/Neuman nahmen eine leicht distanzierte Position zueinander ein, wie man es aus den Regelwerken und Bilddarstellungen des 18. Jahrhunderts kennt: die Gesichter nicht direkt einander zugewandt, sondern mit einer leichten Öffnung hin zum Publikum und im Contrapposto. Das Duett wurde damit sozusagen aneinander vorbei gesendet, und nicht direkt an die andere Bühnenfigur adressiert.

Man fragt sich, wenn man diese Art Figuren-Konstellation als Bildkonvention der Zeit wiedererkennt und voraussetzt, dass dies eine übliche Grundaufstellung der Darsteller*innen war, wie es zu in vielen Schriften verzeichneten emotionalen Zuschauerreaktion (weinen, schluchzen, gar Ohnmacht) kommen konnte. Zunächst einmal erscheint das Bild, das die Akteure abgeben, eher artifiziell, stark kodiert und keineswegs anrührend. Aber in der direkten ästhetischen Erfahrung einer klanglichen Umfassung der beiden Bühnenfiguren durch den Theaterraum und das Bühneninstrument machte sich während des Workshops plötzlich das körperliche Gefühl und auch die Erkenntnis eines ungeheuerlichen erotischen Energieaustausches geltend. Die energetische und erotische Sendung erreicht beide Sänger*innen, und auch die Zuschauer*innen. Interessant sind die Auswirkungen auf die Charakterisierung der Bühnenfiguren. Insbesondere Zerlina transformiert hier vom unbedarften Landmädchen zur reifen Flirtpartnerin von Don Giovanni, die ihre vokale Kraft im räumlichen Setting wirkmächtig gegen den Verführer sendet.

Was genau passierte in dieser Situation? Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, dass die Sänger*innen ihre vokale Energie in den Rahmen des Proszeniums gerichtet hatten, die dann in einer Kreisbewegung von dort zum anderen zurückgeführt wurde. Eine energetische Bindung auf dem räumlichen Umweg sozusagen. Die Spannung zwischen der sichtbaren Distanz der Akteure und der energetischen Umarmung durch den Klang erzeugte tatsächlich emotionale Rührung. Die visuelle Ebene beließ die beiden Darsteller*innen auf Distanz, die energetische Verschränkung und physisch spürbare Verbindung entstand erst mit der Kanalisierung durch das Proszenium. Wie könnte eine Text- oder Bildquelle diesen Prozess auch nur annähernd transportieren? Erst die praktische Erfahrung führt zu einer direkten Erweiterung des historischen Quellenwissens. Bei der Historikerin setzt ein Verstehen ein, das auf einer gänzlich anderen Ebene operiert. Die Texte und Zeugnisse, die aus dieser praktischen Erfahrung entstehen, fügen dem verfügbaren Quellenkorpus relevante Dokumente hinzu.

An der intakten historischen Bühne in Drottningholm zeigt sich so, welche instrumentelle Funktion das Zusammenspiel von Bühnenaufbau und Proszenium für Klang und Übertragung haben. Im Gegensatz dazu erscheinen historische Theater, die eine architektonische Rekonstruktion – wie etwa das Confidencen-Theater in Ulriksdal – oder eine radikale Umstrukturierung – wie etwa das Markgrafentheater in Bayreuth – erfuhren, in ihrer instrumentellen Wirkung eingeschränkt. In letzterem hat die Modernisierung der Bühne zur radikalen Beschneidung und Rücksetzung des Proszeniums geführt. Obgleich der intakte Zuschauerraum mit seiner Holzstruktur einen exzellenten Resonanzraum darstellt, kann man sich nur in Ansätzen vorstellen, welches Potential das ursprüngliche Proszenium im Zusammenklang mit dem Auditorium entfalten konnte. Diese Aspekte historischer Theaterpraxis werden einem erst bewusst durch das praktische Experimentieren. Lässt man sich darauf ein, hat dies Konsequenzen für das Verständnis historischer Theaterpraxis in ihrer spezifischen Interaktion mit den entsprechenden Theaterräumen.

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