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Clausewitz’ Vermächtnis
ОглавлениеClausewitz wird oft fälschlicherweise nur im Zusammenhang der zwischenstaatlichen Kriege in Europa gesehen. Gelegentlich wird er auch zum Propheten der großen, weltweiten Konflikte des 20. Jahrhunderts gemacht. Doch der preußische Stratege hatte eine umfassendere Perspektive, als die kritischsten seiner Interpreten meinen: Seine Analyse des Phänomens Krieg beruht auf der Unterscheidung von drei grundlegenden Elementen, die unabhängig von der Form der Auseinandersetzung und der betreffenden Kultur Gültigkeit besitzen.
Zunächst ist der Krieg ein »erweiterter Zweikampf«1, in dem sich zwei Parteien gegenseitig auf militärischer und strategischer Ebene als Gegner anerkennen. Aus dieser Perspektive ist jeder Krieg zunächst ein Kampf, in dem sich auf taktischer Ebene »Willen« und auf strategischer Ebene Intelligenzen gegeneinanderstellen.
Zweitens bildet der Krieg ein militärisches Mittel, das die politische Befehlsgewalt einsetzt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen (auf einen Angriff reagieren, ein Gebiet erobern etc.); in diesem Sinne ist er die »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«2. Während die »Grammatik« des Krieges militärisch ist, ist seine »Logik« ihrer Natur nach politisch: Der Krieg findet immer ein Ende, wenn die zuvor definierten Ziele erreicht wurden – diese Ziele müssen allerdings laut Clausewitz von der Politik klar benannt werden, was nicht immer der Fall ist.
Drittens ist der Krieg »ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert«3. Wenngleich sich Clausewitz bemüht, die Natur des Krieges zu definieren und eine allgemeine Theorie zu entwickeln, sagt er zugleich, dass jeder Konflikt ein Spiegel der kriegführenden Gesellschaften ist. Dadurch ist der Krieg nicht einfach ein militärisches und politisches Phänomen; er ist auch ein gesellschaftlicher Tatbestand, der von der Natur, den Sitten, dem Zeitgeist, dem technischen Fortschritt, der Bündnissituation, kurz vom Zustand der gesellschaftlichen Kräfte abhängt.
In Bezug auf diesen letzten Punkt verdient die von John Keegan vorgetragene scharfe Kritik an Clausewitz eine neuerliche Betrachtung. Der britische Historiker wirft in seinem Buch Die Kultur des Krieges dem preußischen Strategen vor, den Krieg auf seine politische Dimension reduziert zu haben. Für Keegan und die Anhänger*innen der Kulturgeschichte ist der Krieg jedoch in erster Linie ein kulturelles Faktum, das die Gesellschaft schon vor allen politischen Beschlüssen prägt. Allerdings legt Clausewitz, wie wir gerade gesehen haben, nicht eine, sondern drei Definitionen des Krieges vor, die sich überschneiden und ergänzen: Die militärische Definition richtet das Augenmerk auf die Sphäre des Kampfes; die politische Definition bezieht den Krieg auf die Belange der Macht; die »gesellschaftliche« oder anthropologische Definition schließlich legt den Schwerpunkt auf die Situiertheit jedes Krieges und unterstreicht, dass es eine Vielfalt an Praktiken und »Kriegskulturen« gibt. Diese Definitionen korrespondieren mit der »wunderlichen Dreifaltigkeit«4 des Krieges, wie Clausewitz es nennt, in der drei verschiedene Ebenen in der Analyse zusammenkommen: Das Militärische stößt eine taktische und strategische Dynamik an; das Politische beschließt die Mobilisierung der Streitkräfte; das »Volk« bestimmt die sozialen, ökonomischen und kulturellen Formen der Auseinandersetzung.
Clausewitz’ Perspektive ist in dem spezifischen Kontext der Revolution und des französischen Kaiserreichs (1792–1815) zu sehen, in dem das Volk eine wichtige, wenn nicht zentrale Stellung einnahm. In der Auseinandersetzung standen sich nicht mehr nur die »Könige« und die »Armeen« auf politischer und militärischer Ebene gegenüber; »sondern ein Volk [bekriegt] das andere und im Volke sind König und Heer enthalten«5. In der Französischen Revolution bildete mit der von den Republikanern beschlossenen Massenaushebung das Volk die Triebfeder der nationalen Mobilisierung, die es den Revolutionstruppen ermöglichte, von 1792 an den europäischen Monarchien die Stirn zu bieten. Doch es konnte auch der Motor des Aufstands gegen den Staat sein: Bei der spanischen »Guerilla« (1808–1814) mobilisierten sich die Bürger gegen die napoleonischen Truppen.
In Europa ist es somit die Beteiligung des Volks, worin sich die Kriege des Ancien Régime mit der Militäraristokratie als strukturierendem Zentrum von den nach der Französischen Revolution geführten Kriegen unterschieden, die die nationalen Leidenschaften schürten und in denen die gesellschaftlichen Kräfte das Herz der Armee bildeten. Alle Gesellschaftsschichten waren von nun an aufgerufen, sich, von gemeinsamem nationalem Elan getragen, direkt oder indirekt an der Kriegsanstrengung zu beteiligen. Die Aristokratenehre verschwand nicht hinter dem patriotischen Gefühl; vielmehr gab das Volk der vom aristokratischen Ancien Régime ererbten Ehre durch das patriotische Gefühl eine andere Färbung.
Clausewitz erklärt vermittels dieses besonderen Falls, dass der Krieg im Rahmen der Völker durch Anwendung bewaffneter Gewalt zu politischen Zwecken charakterisiert ist. Sein Denken lässt sich dabei nicht auf ein Sakrosanktwerden des Staates und den Primat des Politischen reduzieren. Denn zugleich betont er die intrinsisch politische Natur des Krieges, durch die sich politische Gemeinschaften und »Willen« gegeneinanderstellen, sowie die Vielfalt der sozialen und kulturellen Formen, seien sie zwischenstaatlich oder bürgerkriegsartig, groß oder klein, defensiv oder offensiv.