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Bruno Cabanes Eine Geschichte des Krieges

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»Wir befinden uns im Krieg.« Wie oft haben wir diese prätentiöse Erklärung von offizieller Seite schon vernommen? Seit dem 11. September 2001 gilt jedes Attentat bereits als »Kriegshandlung«. Der »Krieg gegen den Terrorismus« scheint endlos; zusätzlich drohen Cyberkriege, Kriege mit chemischen oder bakteriologischen Kampfstoffen und sogar die neuerliche Proliferation von Atomwaffen. Doch wenn wir uns »im Krieg« befinden, um welchen Krieg handelt es sich eigentlich? Heute haben die meisten Bürgerinnen und Bürger westlicher Staaten zu ihren Lebzeiten weder kriegerische Auseinandersetzungen in ihren Ländern noch eine Generalmobilmachung erlebt. In Frankreich muss man für die letzte formelle Kriegserklärung bis zum 3. September 1939 zurückgehen. Und doch war die französische Armee nach dem Zweiten Weltkrieg in Indochina im Kampfeinsatz, und eine ganze Generation war aufgerufen, in Algerien zu kämpfen. Von offizieller Seite wurde der »Algerienkrieg« – euphemistisch als »Ereignisse in Algerien« bezeichnet – lange Zeit geleugnet. Seit den 1960er Jahren hat sich Frankreich an über 30 Militäreinsätzen in seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien beteiligt. Mehr als 11 000 französische Soldatinnen und Soldaten sind gegenwärtig von Afrika bis zum Nahen Osten im Einsatz. Für Jugendliche in den USA sieht es heute genauso aus. Sie haben ihr ganzes Leben lang in einem Land gelebt, das sich »im Krieg« befand – allerdings nicht in dem Sinne, wie ihre Urgroßeltern das Wort verstanden: Seit dem 4. Juni 1942 hat der Kongress keinen Krieg mehr erklärt (damals gegen Rumänien, Bulgarien und Ungarn). Das bedeutet aber nicht, dass die Vereinigten Staaten keine bewaffneten Einsätze, gelegentlich unter dem Mandat der Vereinten Nationen oder in Form von Spezialoperationen, fast überall auf der Welt durchgeführt hätten.

Das Ende der Wehrpflicht, der Abzug uniformierter Soldat*innen aus dem öffentlichen Raum in den meisten Ländern des Westens (daher das Erstaunen in Frankreich, als mit Sturmgewehren Bewaffnete zum Schutz der Bevölkerung vor Terroranschlägen in den Straßen zu sehen waren), ein auch für die meisten Soldat*innen schwindendes Risiko, im Kampf zu sterben: »Wohin sind all die Soldaten verschwunden?«, fragte der amerikanische Historiker James Sheehan bereits vor 10 Jahren in einem Buchtitel.1 Wenn sich die Gewalt des Krieges auch insgesamt aus der westlichen Welt zurückgezogen hat – mit Ausnahme der Terroranschläge, die regelrechte »Kriegswunden« hinterlassen –, so ist sie zugleich omnipräsent auf unseren Bildschirmen und ruft widersprüchliche Reaktionen wie Fassungslosigkeit und Banalisierung hervor. In den 1990er Jahren brachten die ethnischen Säuberungskampagnen im ehemaligen Jugoslawien wieder Bilder von Massenmorden zurück, die man vom europäischen Kontinent verbannt glaubte. Am 18. November 1991 wurde das kroatische Vukovar nach siebenundachtzigtägiger Belagerung durch Bombardement beinahe vollständig dem Erdboden gleichgemacht – als erste europäische Stadt seit 1945. Beim Völkermord an den Tutsi in Ruanda, der zwischen April und Juli 1994 stattfand, wurden wir zu Zeitgenossen der planmäßigen Ermordung von 800 000 bis 1 Million Frauen, Männern und Kindern auf Grundlage ethnischer Kriterien. Aktuell kommen aus dem Bürgerkrieg in Syrien, der laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seit März 2011 über 350 000 Menschenleben gekostet hat, regelmäßig Nachrichten über eine Zivilbevölkerung, die unter Bomben begraben wird und die Giftgasangriffen, der Repression des Regimes Baschar al-Assads oder der Gewalt der Rebellen und Dschihadisten zum Opfer fällt. Schätzungen zufolge gibt es 6 Millionen Vertriebene innerhalb Syriens und 5,6 Millionen Syrer*innen, die in die Nachbarländer, insbesondere in die Türkei, in den Libanon oder nach Jordanien geflohen sind: Es handelt sich um die größte humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.

Wie wir Krieg führen, wie wir ihn erfahren und wie wir ihn darstellen, sind die zentralen Themen des vorliegenden Werkes. Es geht um das Erbe zweier entscheidender Jahrhunderte: des 19. und des 20. Jahrhunderts. Von den Konflikten der Französischen Revolution und des Kaiserreichs bis in die Gegenwart hat sich der Krieg nicht nur in seinen Dimensionen, sondern auch seiner Natur nach verändert. Was wir »modernen Krieg« nennen – und was eher aus einer chaotischen Entwicklung als aus einer präzisen Abfolge von Entwicklungsschritten im Zeitalter der Nationalstaaten und Kolonialreiche hervorgegangen ist –, zeichnet sich durch eine immer umfassendere Einbeziehung der Bürger*innen in die Landesverteidigung, durch weitreichende Veränderungen der Bewaffnung und durch eine Auflösung des raumzeitlichen Rahmens der Kriegserfahrung aus – und zwar in einem Maße, dass die Begriffe »Schlacht« und »Schlachtfeld« im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre traditionelle Bedeutung eingebüßt haben. Darüber hinaus charakterisieren ihn ein höheres Maß an Gewalt für Kämpfende und für die Zivilbevölkerung (ein Bruch, der von den Zeitgenoss*innen als solcher wahrgenommen wurde), ein Verschwimmen der ohnehin schon porösen Grenzen zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen, eine beispiellose Mobilisierung der Gesellschaft, Umweltzerstörung, wie es sie in der Vergangenheit nicht gegeben hat, aber auch die Erarbeitung völlig neuer Rechtsrahmen und Rechtsverfahren. Besonders im Zeitraum zwischen 1860 und 1960 kam es zu einer technologischen Revolution, die entsetzliche Folgen hatte. Niemals war der Krieg in seiner fürchterlichsten vorstellbaren Form (Angriffe auf Städte aus der Luft, unmittelbare Vernichtung der gesamten Bevölkerung, Waffen, die ohne sichtbare Verletzungen töten) mit einer so erschreckenden Effizienz geführt worden. Mehreren Generationen schrieb er den Massentod ins Bewusstsein. Seit 1914 haben die Kriege 120 bis 150 Millionen Todesopfer gefordert, 40 Millionen davon Soldatinnen und Soldaten – das entspricht 8 bis 10 Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 1900.

Dieses Buch zeichnet die Geschichte eines Wandels nach, der das Leben der Menschheit in weniger als zweieinhalb Jahrhunderten komplett umgewälzt hat. Nichtsdestotrotz ist es eine, nicht die Geschichte des Krieges: Hinsichtlich Narrativ und Begrifflichkeiten wären andere Entscheidungen möglich gewesen, hätte der Akzent statt auf eine thematische auf eine chronologische Darstellung gelegt oder wiederum die Strategie, die internationalen Beziehungen oder die Diplomatie in den Vordergrund gerückt werden können. Ohne diese Aspekte zu vernachlässigen, widmet sich dieses Werk mit gleicher Aufmerksamkeit Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen, der Front und dem Hinterland. Denn tatsächlich ist der Krieg unserer Epoche durch die Beteiligung der Nichtkombattant*innen am Kriegsunterfangen und durch die zunehmende Zahl von Zivilist*innen unter den Opfern charakterisiert.

Ausgangspunkt ist unsere Überzeugung, dass der Krieg eine gesamtgesellschaftliche Tatsache ist und außerdem ein kultureller Akt. Natürlich ist er das Geschäft der Staatslenker*innen und Militärs, doch er nimmt auch umfassender die Gesellschaften und die Individuen in die Pflicht. Er erschüttert die politischen und sozialen Institutionen, mobilisiert in manchmal beispiellosem Ausmaß ökonomische und ökologische Ressourcen, verbraucht selbstverständlich militärische Mittel und gibt – ebenso notwendig – mächtigen Affekten, Selbst- und Feindbildern sowie bestimmten Vorstellungen von Leben und Tod Gestalt. Den Krieg studieren heißt, ein grundlegendes Element im Leben der Gesellschaften und die häufig einschneidendste Erfahrung im Leben von Menschen zu studieren. Der Krieg ordnet die Machthierarchien zwischen den Ländern neu – wie der Aufschwung der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges zeigt – und bekräftigt die hoheitlichen Funktionen der Staaten; er verändert die Geschlechterverhältnisse und beschleunigt sozialen Wandel (um nur ein Beispiel zu nennen: die Einrichtung des Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg). Der Krieg zerstört Landschaften, hinterlässt seine Spuren auf Körpern und Seelen, bürdet den Älteren die Trauer über die Jüngeren auf, bringt neue Gedenkrituale hervor und produziert Traumata, die über mehrere Generationen fortwirken können.

Wir wollten diese Geschichte des Krieges vom 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit auf globaler Ebene darstellen, zumindest soweit das beim gegenwärtigen Wissensstand möglich ist. Seit den 1970er Jahren, insbesondere seit dem Erscheinen des Hauptwerkes des britischen Historikers John Keegan, Das Antlitz des Krieges, haben sich die Fragestellungen und die Art, die Geschichte des Krieges zu verstehen und zu schreiben, grundlegend geändert. Die traditionelle Geschichte der Strategen, Staatsmänner und Diplomaten ist durch eine Sozial- und Kulturgeschichte der einfachen Soldat*innen, dann auch der Zivilist*innen (besonders der Frauen) und schließlich durch eine Geschichte dessen erweitert worden, was Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen verbindet und was man »Kriegskulturen« nennt, oder anders gesagt die Repräsentationssysteme, die den Konflikten ihre eigentliche Bedeutung geben. Die Schlacht selbst, dieser Fetisch der Militärgeschichte, wird mit dem frischen Blick der historischen Anthropologie erkundet. Im Zentrum steht der Kampf, also das Aufeinanderprallen der Körper, das Lärmen der Waffen, die Versehrungen und die Toten, aber auch das ganze feine Spektrum der mit dem Krieg verbundenen physischen Empfindungen und Emotionen. Im Gefolge der Körper- und Medizingeschichte, der Geschlechtergeschichte, der Kunstgeschichte und Umweltgeschichte erfindet sich die Kriegsgeschichtsschreibung immer wieder neu, wobei die Wege, die sie beschreitet, stark von den nationalen historiografischen Traditionen abhängen. Mit ihren 57 Autor*innen aus Europa und Nordamerika, Historiker*innen, Anthropolog*innen, Kunsthistoriker*innen, Soziolog*innen und Politikwissenschaftler*innen aus verschiedenen Traditionen und Generationen, bietet diese Sammlung ein reiches Panorama. Selten dürfte ein einzelnes Werk eine solche Vielfalt an Perspektiven versammelt haben.

Es bleibt allerdings ein Hindernis, mit dem sich jede Geschichte des Phänomens Krieg konfrontiert sieht. Im Unterschied beispielsweise zur Wirtschafts- oder Umweltgeschichte konnte sich die Militärgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts kaum aus der Nationalgeschichtsschreibung und dem westlichen Rahmen lösen. Der Grund hängt mit der sozialen Funktion zusammen, die sie zu dieser Zeit hatte, nämlich das Gedenken an Schlachten wachzuhalten, aus denen sich der Ruhm eines Landes speiste. Zu lange hat sich die Erforschung der Konflikte auf den Westen und seine Kolonialgebiete im Rest der Welt beschränkt – am häufigsten übrigens mit der Idee, die Überlegenheit eines »westlichen Modells des Krieges«2 zu demonstrieren, dessen Anfänge der Altertumsforscher Victor Davis Hanson umstandslos in der griechischen Antike ansetzt, um es schließlich in die Konflikte der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert münden zu lassen. In der jüngeren Vergangenheit beschränkt sich die Sozial- und Kulturgeschichte des Krieges im Allgemeinen auf die westlichen Länder und ignoriert die Wechselwirkungen auf globaler Ebene, selbst wenn sie sich über die Erforschung der Kolonialkonflikte gelegentlich anderen Horizonten nähert und Begegnungen und Transfers Rechnung trägt. Die Abfassung einer Globalgeschichte oder besser einer verschränkten oder transnationalen Geschichte des Krieges wird noch Zeit brauchen. Wir haben uns dennoch bemüht, mit der strikt westlichen Lesart zu brechen, und zahlreichen anderen geografischen Räumen und kulturellen Feldern Platz eingeräumt.

Einige Grundprinzipien – Durchlässigkeit zwischen Militärgeschichte und anderen Ansätzen, zwischen dem Westen und dem Rest der Welt, zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert – bildeten den Hintergrund für die Themenzusammenstellung. Das Inhaltsverzeichnis ist in vier Teile gegliedert: 1) Der moderne Krieg, 2) Soldatische Welten, 3) Kriegserfahrungen, 4) Der Kriegsausgang. Jeder dieser Teile beginnt mit einem einführenden Text, der die Chronologie und die Relevanz der Frage erörtert und je von einem Historiker stammt, der einen wichtigen Beitrag zu dem Forschungsfeld geleistet hat. Die Aufsätze selbst hatten nur eine Vorgabe: Schwerpunktthemen aus der Perspektive der longue durée darzustellen, wobei versucht werden sollte, die unterschiedlichen Facetten auf Grundlage verschiedener Konflikte und verschiedener Räume zu beschreiben. Bei ihrer Mitwirkung an diesem Projekt haben sich die Autor*innen dazu bereit erklärt, gelegentlich weit von der Zeit oder dem Gebiet, auf das sie sich spezialisiert haben, abzuschweifen. Dafür sei ihnen gedankt.

Und da wir uns für eine thematische Gliederung entschieden haben, wollen wir hier als Auftakt versuchen, die Entwicklung des modernen Krieges in seinem geopolitischen Kontext zu skizzieren und in groben Zügen den Bogen der Gewalt nachzuzeichnen, der sich von den großen Schlachten der Revolution und des Kaiserreichs über die hier abgedeckte Periode von zweieinhalb Jahrhunderten bis in unsere Zeit zieht.

Am 22. Mai 1790 verabschiedete die Verfassunggebende Nationalversammlung Frankreichs die »Friedenserklärung an die Welt«, wie es in der berühmten Formulierung heißt. In den darauffolgenden fünfundzwanzig Jahren versank, von kurzen Ausnahmen abgesehen, ganz Europa in einem endlosen Krieg. Der »erste totale Krieg«3, wie ihn der Historiker David Bell nennt, war von zweierlei geprägt: von einer Intensivierung der Gewalt – davon zeugen der Bürgerkrieg in Vendée von 1793 bis 1796 und der Spanische Unabhängigkeitskrieg von 1808 bis 1814 – und von einer Mobilisierung der gesamten Gesellschaft. Damit trat eine dem aristokratischen Modell entgegengesetzte Kriegskultur zutage, die sich vielmehr den Kampf gegen die Tyrannen (»Ein Kreuzzug für die allgemeine Freiheit«, wie es der girondistische Abgeordnete Brissot ausdrückte) und den Krieg der Nationen auf die Fahnen schrieb. Diese Kriegskultur war es, die Condorcet in seiner Ansprache an die Völker Europas vom 29. Dezember 1791 verteidigte. Das Schlagwort vom »letzten Krieg«, der die Nation durch das Blut neu beleben und der Gewalt ein Ende setzen würde, indem er die Feinde der Freiheit vernichtete, diente ihm als letzte Rechtfertigung. Carl von Clausewitz schrieb 1812 dazu:

»Ehemals […] schlug [man] sich mit Mäßigung und Rücksichtlichkeit nach hergebrachten Konvenienzen. […] Von diesem Krieg ist jetzt nicht mehr die Rede, und der müßte wohl blind sein, der den Unterschied unserer Kriege, d. h. der Kriege, wie sie unser Zeitalter und unsere Verhältnisse fordern […], nicht erkennen könnte. Der Krieg der jetzigen Zeit ist ein Krieg aller gegen alle. Nicht der König bekriegt den König, nicht eine Armee die andere, sondern ein Volk das andere, und im Volk sind König und Heer enthalten.«4

Der Waffenruhm, der Heldenkult: Die männlich-militärischen Werte, die sich gleichzeitig auf beiden Seiten des Atlantiks entwickelten, fanden in den berühmten Figuren Washingtons und Bonapartes ihre Verkörperung. Ohne Krieg keine amerikanische Unabhängigkeit und kein napoleonisches Heldenepos. Zwischen 1805 und 1815 wurden fast 2 Millionen französische Wehrpflichtige einberufen – eine Zahl, die zur damaligen Zeit als außerordentlich angesehen wurde. Dennoch umfasste 1813 die umfangreichste Truppenaushebung lediglich 3 Prozent der Bevölkerung (ein Siebtel der Mobilmachung vom Sommer 1914). Zu den französischen Soldaten kamen Tausende ausländische Soldaten hinzu: Ägypter und Griechen des orientalischen Jägerbataillons, die unter dem Konsulat rekrutierten Schweizer und irischen Bataillone, in den besetzten Ländern ausgehobene portugiesische und spanische Kämpfer und die Kontingente der Fürstentümer des Rheinbunds, der italienischen Königreiche, des Königreichs Holland und Polens, die als Verbündete kämpften. Nach seiner Niederlage in der Seeschlacht von Trafalgar am 21. Oktober 1805 musste Napoleon seine Eroberungspläne für Großbritannien begraben und setzte sich stattdessen zum Ziel, »das Meer durch die Macht des Landes [zu] besiegen«5, wie es im Berliner Dekret vom 21. November 1806 heißt. Mit diesem trat die Kontinentalsperre in Kraft, die eine geografische Ausweitung des Konflikts herbeiführte, um die europäischen Küsten zu kontrollieren und den englischen Schmuggel zu unterbinden. 1811 umfasste das napoleonische Reich halb Europa.

Die Schlachten nahmen gigantische Ausmaße an: 300 000 Soldaten bei Wagram (5. und 6. Juli 1809), 500 000 bei Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813). 1812 fiel Napoleon mit den 650 000 Mann der »Armee der Nationen« in Russland ein. Um einen Eindruck dieser Truppenverlagerungen zu bekommen, muss man sich nur nach Litauen begeben, wo zwischen 2001 und 2010 Hunderte von Soldaten, die auf dem Russlandfeldzug den Tod gefunden hatten, aus einem Massengrab exhumiert wurden. Manche von ihnen kamen aus Frankreich, andere aus Italien, Deutschland oder Polen. Sie waren auf dem Antakalnis-Friedhof von Vilnius in Gegenwart französischer und litauischer Repräsentanten beigesetzt worden. Welcher Blutzoll in den Kriegen des Kaiserreichs entrichtet werden musste, lässt sich nach wie vor schwer bestimmen. Davon hängt aber bis zu einem gewissen Grad ab, wie weitgehend der Bruch war, den diese Kriege bedeuteten. Ungefähr 700 000 Franzosen und zwischen 2,5 und 3,5 Millionen Menschen europaweit verloren zwischen 1805 und 1815 ihr Leben in der Schlacht, durch Verwundung oder infolge von Epidemien.

Auf dem Wiener Kongress (September 1814 bis Juni 1815) zog die Heilige Allianz, die gerade Napoleon besiegt hatte, die Grenzen in Europa neu. Das veränderte Gleichgewicht auf dem Kontinent stärkte das monarchische Prinzip gegenüber dem Nationalitätenprinzip. Dennoch waren es die nationalen Befreiungsbewegungen, die über mehrere Jahrzehnte als die andere große Triebkraft für den Krieg in dieser Epoche wirksam wurden. Am Anfang standen Nationalbewusstsein und das politische Prinzip des Nationalismus. Dieses Wort kam Ende des 18. Jahrhunderts auf und bezeichnete ursprünglich noch die Forderung nach dem Recht, eine Nation zu bilden, bis es ab den 1870er Jahren die chauvinistische und xenophobe Bedeutung annahm, in der wir es heute kennen. Die Einigungskriege in Italien (1848–1849, 1859, 1866) und Deutschland (1866, 1870–1871) waren von der früheren Definition des Nationalismus inspiriert; ebenso die der »Orientalischen Frage« zugeschriebenen Konflikte, die das ganze 19. Jahrhundert prägten, angefangen bei dem von Miloš Obrenović angeführten serbischen Aufstand von 1815 über den von der philhellenischen Bewegung unterstützten griechischen Unabhängigkeitskrieg (1821–1830) bis zur Balkankrise der 1870er Jahre. Trotz der Abfolge von Einigungs- und Unabhängigkeitskriegen dürfen wir nicht die Haupttendenz aus den Augen verlieren: Nach der besonders mörderischen Zeit der Revolution und des napoleonischen Kaiserreichs war die Periode von 1815 bis 1914 in Europa durch einen Rückgang der durch Krieg verursachten Tode geprägt. Ausnahmen bildeten lediglich der Krimkrieg (1853–1856), die Schlacht von Solferino (24. Juni 1859), durch deren katastrophale medizinische Versorgung sich Henry Dunant 1863 zur Gründung des Roten Kreuzes veranlasst sah, sowie der Deutsch-Französische Krieg (1870–1871). Es genügt ein Blick auf andere Kontinente, wozu dieses Buch auch einlädt, um zu sehen, dass Europa eine Zeit relativer Ruhe erlebte: 1851 brach in China der Taiping-Aufstand aus, für dessen Niederschlagung die Qing-Dynastie fast 15 Jahre benötigte. Dieser Bürgerkrieg forderte zwischen 20 und 30 Millionen Tote, also zwei- bis dreimal so viele wie der Erste Weltkrieg! Auch wenn der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865) nicht dieses tatsächlich außergewöhnliche Ausmaß an Verlusten erreichte, brachte er mit seinen nach jüngsten Schätzungen 750 000 getöteten Soldaten doch die Erfahrung des Massentods in die Vereinigten Staaten.

1815 hatten die europäischen Großmächte nicht so sehr Frieden geschaffen als vielmehr den Krieg nach Übersee verlagert. Im Gegensatz zu Lenins Deutung in Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917) scheinen die Kolonialkriege weniger durch ökonomische Interessen als durch politische Ambitionen und Rivalitäten unter den europäischen Nationen motiviert gewesen zu sein. Als »wahrhaft globale Thalassokratie«6, wie es der Historiker Daniel Headrick genannt hat, eroberte Großbritannien ein gigantisches Weltreich, dessen Gravitationszentrum sich, wie das des europäischen Kolonialismus insgesamt, nach dem Verlust seiner dreizehn nordamerikanischen Kolonien (1783), der Abschaffung des Sklavenhandels (1807) und der Sklaverei (1833) allmählich von Amerika nach Asien und Afrika verschob. Im Ersten Opiumkrieg 1839–1842 setzte es die Öffnung Chinas für den Welthandel durch. Die Europäer teilten sich den afrikanischen Kontinent in weniger als dreißig Jahren (1885–1914) auf. Es herrschte das Prinzip der präventiven Kolonialisierung vor, noch verschärft durch die imperialen Rivalitäten und den Nationalismus: Es galt, ein Territorium zu kolonialisieren, bevor ein anderes Land dies tat. Den alten Kolonialmächten wie Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Portugal oder Großbritannien traten nach 1870 Deutschland, Italien und Belgien zur Seite, sodass es bald zu einer Verknappung an noch kolonialisierbaren Gebieten kam. Russland hatte sein ungeheures Kolonialreich bis zu den Grenzen Sibiriens, nach Zentralasien und in den Kaukasus ausgedehnt. Die Vereinigten Staaten gingen ab den 1860er Jahren an die Eroberung des Westens und der Great Plains: Die Navajo streckten 1864 die Waffen und die Apachen 1886 nach der Kapitulation Geronimos. Angeführt von Sitting Bull, errangen die Sioux und die Cheyenne in Montana den großen Sieg von Little Bighorn (25. – 26. Juni 1876), bevor sie sich ab 1881 in die Reservate von North Dakota gesperrt fanden. Die Vereinigten Staaten wandten sich im Namen der »Manifest Destiny«-Doktrin dem Pazifik zu: Die Geburtsstunde des amerikanischen Imperialismus ist der Militäreinsatz von 1898 auf den Philippinen, mehr als 11 000 Kilometer von der kalifornischen Küste entfernt, mit dem Ziel der Inbesitznahme eines Territoriums, das mehr als drei Jahrhunderte unter spanischer Herrschaft gestanden hatte. »Der Pazifik ist unser Ozean«, erklärte im Jahr 1900 der republikanische Senator von Indiana, Albert J. Beveridge.

Die fernen Kriege faszinierten durch die Landschaften, die sie dem Auge boten, durch die ostentative Potenz, die sie zum Ausdruck brachten, und durch die Gelegenheit, damit der schmerzlichen Frustration eines Europas zu entkommen, dem es am Heldenepos fehlte. »Kriegssehnsucht« war es, was die Philhellenen dazu brachte, freiwillig am griechischen Unabhängigkeitskrieg der 1820er Jahre teilzunehmen. »Uns fehlten die Freuden des Kriegers; kein Kreuzzug blieb uns noch zu unternehmen; die Zeit der napoleonischen Erfahrungen war vorüber«, bekannte der 1804 geborene Gustave d’Eichenthal, Gründer der ethnologischen Gesellschaft und wichtige Figur in der saint-simonistischen Bewegung. »Wir hatten keine Feiern, keine Tempel, keine Turniere, keine Gesänge, keine Feste mehr. Das Leben war glanzlos und monoton, und Gott hatte vielen Menschen eine Energie ins Herz gegeben, die diese Einengung nicht ertrug.« 1895 war es immer noch eine Art Kriegsinitiation, die der junge Winston Churchill im Alter von einundzwanzig Jahren im kubanischen Unabhängigkeitskrieg suchte, in dem er beinahe sein Leben ließ. Die Abenteuerlust, der auf der Überzeugung einer Rassenhierarchie gründende Glaube an die »zivilisatorische Mission« des Westens, die Anziehungskraft des Geldes bewegten ebenso sehr zur Teilnahme an den Kolonialkonflikten. Allerdings erfuhren diese Motive eine gewisse Geringschätzung seitens der meisten eingesessenen Militärstrategen. In seinen Principes de la guerre aus dem Jahr 1903 geht Foch kurz auf die fernen Expeditionen »gegen die schwarze Bevölkerung Afrikas und die gelben Rassen Asiens«7 ein. Als Experimentierfeld für extreme Gewalt – von der durch Bugeaud und Cavaignac in Algerien 1844–1845 praktizierten Ausräucherung bis zur brutalen Niederschlagung des Sepoy-Aufstands durch die Briten 1857–1858 oder zum Völkermord an den Hereros und Namas in Deutsch-Südwestafrika 1904 und 1908 – rief der Kolonialkrieg schließlich zunehmend Ablehnung in der Öffentlichkeit hervor. Neben einer Bezeugung der Gräuel, die unter Leopold II. im Kongo begangen wurden, bringt Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness, die 1899 im Blackwood’s Edinburgh Magazine in Fortsetzung und dann 1902 gesammelt erschien, auf eindringlichste Weise dieses Umkippen der öffentlichen Meinung zum Ausdruck.8

Im Übergang zum 20. Jahrhundert trat der Krieg in eine neue Phase ein. Diese war geprägt von einer noch stärkeren Vermassung der Armeen, einer klareren Ideologisierung der Soldaten und einer beispiellosen Zerstörungskraft. Militärische Berater wurden zu fernen Kriegen entsandt, um die Umsetzung taktischer und strategischer Modelle zu beobachten, ohne dass immer eindeutige Lehren für zukünftige Konflikte daraus gezogen werden konnten. Als im Februar 1904 der Russisch-Japanische Krieg ausbrach, nahm John Pershing, der nach Befriedungskampagnen gegen die Krieger der Moros auf den Philippinen (1899–1901) als amerikanischer Militärattaché in Tokio tätig war, an einer amerikanischen Beobachtermission teil; auch von russischer Seite waren vier Beobachter entsandt worden. »Die Regeln der Kriegführung haben keine bedeutsame Modifikation in ihrer Anwendung erfahren«, resümierte einer der Amerikaner, der weder die Fortschritte der Artillerie noch die Entwicklung der Gräben, noch den massiven Einsatz von Granaten für bemerkenswert hielt. Scharfsichtiger schloss der britische Militärattaché Ian Hamilton auf die Überlegenheit des Positionskrieges: Zehn Jahre später war er als Oberbefehlshaber für die desaströse Offensive der Alliierten 1915 bei Gallipoli verantwortlich, die seiner militärischen Karriere ein Ende setzte. Ein Ereignis wie die Niederlage der russischen Flotte im Kampf gegen die Japaner bei Tsushima (27. und 28. Mai 1905) hatte wie kaum eine Schlacht zuvor Auswirkungen auf globaler Ebene. In den westlichen Ländern löste sie Befürchtungen aus, dass sich die Macht in den Fernen Osten verschieben könnte.

Vermittelt durch die imperialen Dynamiken, setzten die beiden Weltkriege eine Zirkulation von Menschen und Rohstoffen über den ganzen Planeten in Gang. Es genügt, die wenigen Quadratkilometer zu durchstreifen, wo die Schlacht an der Somme stattfand, um einen Eindruck davon zu gewinnen. In dieser typisch nordfranzösischen Landschaft ruhen Soldaten, die aus den britischen Besitzungen am anderen Ende der Welt stammten: in Beaumont-Hamel die Kämpfer des Newfoundland Regiment; in Longueval die südafrikanischen und neuseeländischen Soldaten; in Villers-Bretonneux Australier. Wenige Denkmale hingegen für die Soldaten oder Arbeiter*innen aus den Kolonien. Die Mehrzahl der Hunderttausenden von Chines*innen, Afrikaner*innen und Inder*innen, die zwischen 1914 und 1918 nach Europa kamen, haben weder persönliche Aufzeichnungen noch Memoiren hinterlassen; die Briefe an ihre Familien sind, weil das Papier dem Klima ihrer Herkunftsländer nicht standgehalten hat, nur noch in Spuren in den Berichten der Postprüfstellen erhalten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten die enttäuschten Hoffnungen auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« langfristige Konsequenzen: der Auftrieb des chinesischen Kommunismus infolge der Bewegung des 4. Mai 1919, Unabhängigkeitsbewegungen in Indien und in Ägypten, der Aufschwung des arabischen Nationalismus angesichts der zionistischen Ambitionen in Palästina. Im Juni 2014 rief die Proklamation eines »Kalifats« durch die Organisation »Islamischer Staat im Irak und in Syrien« zur Wiederherstellung einer 1924 abgeschafften Institution und zur Beseitigung der Folgen des französisch-britischen Sykes-Picot-Abkommens von 1916 auf, das die Aufteilung des Osmanischen Reiches in Einflusszonen für die beiden europäischen Mächte vorsah. Im Nahen und Mittleren Osten ist der Erste Weltkrieg noch immer nicht zu Ende.

Ab 1914 und vor allem während des Zweiten Weltkrieges wirkte sich der Konflikt auf mehreren Kontinenten, auf Tausende Kilometer entfernten, mehr oder weniger miteinander koordinierten Kriegsschauplätzen gleichzeitig aus. Ein historisches Novum war das nicht: Der Siebenjährige Krieg (1756–1763), in dem alle europäischen Großmächte in Europa, in Nordamerika, in Afrika, in Indien und auch auf den Meeren aufeinanderprallten, war bereits ein Weltkrieg gewesen. Indes bleibt der ungeheure Einsatz von Menschen und materiellen Ressourcen 1914–1918 unerreicht. Die beiden Weltkriege sind gelegentlich als Folge von Regionalkonflikten mit je nach Kriegsschauplatz verschiedenen Chronologien betrachtet worden. Auf dem Balkan beispielsweise bildeten die Kriege von 1912 und 1913, der Erste Weltkrieg und der Griechisch-Türkische Krieg (1919–1922) eine separate chronologische Abfolge. Die Erinnerungen an einen globalen Konflikt wie den Ersten Weltkrieg bleiben weitgehend dem nationalen Rahmen verhaftet: In Australien und in Neuseeland wird die Schlacht von Gallipoli als Geburtsstunde dieser jungen Nationen angesehen. Dort ist der 25. April 1915 nationaler Gedenktag (ANZAC Day) und wird im Gedenken an die Landung an den Dardanellen begangen. Für die Briten hingegen markierten die Umwandlung einer Freiwilligenarmee in eine Wehrpflichtigenarmee (27. Januar 1916) und die Schlacht an der Somme (Juli – November 1916) die entscheidenden Wendepunkte.

Auch der Zweite Weltkrieg spricht hier Bände: Japan lässt ihn 1931 mit dem Einmarsch in der Mandschurei beginnen, auch wenn dieser Krieg erst im Juli 1937 einen totalen Charakter annahm. Mit dem Angriff auf den amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 wurde er zum »Großostasiatischen Krieg« – eine Bezeichnung, die 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht verboten und durch den Ausdruck »Pazifikkrieg« ersetzt wurde, bevor die akademischen Kreise in Japan, um die Ereignisse in der Mandschurei mit einzubeziehen, den Begriff »Fünfzehnjähriger Krieg«, und um den Amerikanisch-Japanischen Krieg mit den Kämpfen gegen China und gegen die Briten in Südostasien zu verknüpfen, den Begriff »Asien-Pazifikkrieg« populär machten. Für China endete der Krieg erst im Oktober 1949 mit dem Sieg der Kommunist*innen, für Korea mit dem Waffenstillstand von 1953, für Vietnam zweifellos 1975.

Es handelt sich um eine andere Form von »Totalwerdung« des Krieges, die, um nur die bedeutendsten Konflikte vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts herauszugreifen, im Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865), im Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871), im Zweiten Burenkrieg (1899–1902) in Südafrika, im Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905) und den beiden Balkankriegen 1912 und 1913 sukzessive sichtbar wird. Was zeichnet diese Kriege aus? Die erste Veränderung, die, wie wir gesehen haben, bereits im Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert wirksam war, ist eine politische: Zur Rekrutierung, Ausbildung, Ausstattung und Entsendung von – überdies immer größeren – Wehrpflichtigenarmeen bedurfte es eines entwickelten Staatsapparats, einer ausgefeilten Infrastruktur, eines Schulungssystems, das die Individuen auf den »Waffendienst« vorbereiten konnte. 1870 hatten einer von 71 Franzosen und einer von 34 Deutschen eine Militärausbildung durchlaufen; 1914 waren es einer von 10 Franzosen und einer von 14 Deutschen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges hatten alle europäischen Länder mit Ausnahme Großbritanniens eine Wehrpflichtigenarmee.

Die zweite Veränderung, die mit der ersten im Zusammenhang steht, ist ideologischer Natur. Eine »Nationalisierung der Massen«, um den Begriff des großen Historikers George L. Mosse aufzugreifen, funktioniert durch die Schaffung von Institutionen und Symbolen, die mit patriotischer Bedeutung aufgeladen sind, durch den Aufbau riesiger Armeen von Bürgersoldaten, die Marginalisierung und Verfolgung derjenigen, deren Loyalität als fraglich gilt oder die als nicht assimilierbar angesehen werden: Die Idee der »nationalen Gemeinschaft« gipfelt in kriegsorientierten Gesellschaften wie dem nationalsozialistischen Deutschland, dem faschistischen Italien oder dem stalinistischen Russland, wo die ethnischen, religiösen und nationalen Minderheiten die bitteren Folgen tragen mussten. Die Grenze zwischen Krieg und Frieden wurde zunehmend porös: Die Sowjetunion führte zu politischen Zwecken im Inneren einen Krieg gegen die ethnischen Minderheiten mit Mitteln, die aus Kriegszeiten bekannt waren (beispielsweise Beschlagnahmung von Getreide): Die große Hungersnot in der Ukraine, der zwischen 1931 und 1933 mehr als 6 Millionen Menschen zum Opfer fielen, ist das größte Massenverbrechen des Stalinismus. Die Macht der nationalen Ideologien trug zur Entstehung von Auseinandersetzungen neuen Typs bei – wie dem Deutsch-Sowjetischen Krieg, in dem der Zusammenprall des Stalinismus und des Nationalsozialismus zwischen 1941 und Mai 1945 die Bedingungen für einen Vernichtungskrieg schufen, oder dem Pazifikkrieg mit seiner rassistischen Komponente, den der Historiker und Japanspezialist John Dower mit gutem Grund einen »Krieg ohne Gnade«9 nennt.

Die dritte Veränderung betraf die rechtliche, humanitäre und ethische Ebene: die Auflösung der ohnehin schon durchlässigen Grenze zwischen Kombattant*innen und Nichtkombattant*innen. Halten wir dennoch fest: Es steht ganz außer Frage, dass Nichtkombattant*innen seit Jahrhunderten massenhaft Kriegen zum Opfer gefallen waren. Man denke nur an die Plünderung Magdeburgs (20. Mai 1631) während des Dreißigjährigen Krieges, bei der rund 25 000 Zivilist*innen niedergemetzelt wurden und die mit solcher Grausamkeit durchgeführt wurde, dass infolgedessen das Verb »magdeburgisieren« entstand. Die Periode von 1860 bis 1945 sticht nicht durch die Masse an getöteten Zivilist*innen heraus, sondern durch die Tatsache, dass ihre Zahl am Ende bei Weitem die Verluste an Soldaten überstieg: Sie machten 65 Prozent der Todesopfer im Zweiten Weltkrieg gegenüber ungefähr 10 Prozent im Ersten Weltkrieg aus – ein Zeichen dafür, dass im Prozess der Totalwerdung des Krieges ganz bewusst zunehmend die Nichtkombattant*innen ins Visier genommen wurden: als Opfer von Städtebombardements, von Blockaden, von Genoziden …

Diese Angriffe auf die Zivilbevölkerung waren von einer entgegengesetzten Tendenz zur Regulierung des Krieges begleitet, die durch die Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 an Fahrt aufnahm. Allerdings verfügte Letztere über keinerlei Durchsetzungsmechanismen. Letztlich bestand eine permanente Diskrepanz zwischen den Rechtsverletzungen gegen Nichtkombattant*innen in Europa, die heftige Reaktionen bei Politiker*innen und Jurist*innen (der Bryce-Report von 1915 über die »deutschen Gräuel« in Belgien) sowie bestimmten Künstler*innen auslösten (Picassos Guernica von 1937, gemalt nach der Bombardierung eines baskischen Dorfs durch die deutsche Luftwaffe während des Spanischen Bürgerkrieges), und der Banalisierung derselben Gewalthandlungen innerhalb des Imperiums oder außerhalb Europas, die auf eine breite Front der Gleichgültigkeit stießen, wenn man von wenigen aufgeklärten Geistern wie André Gide absieht. Als sich H. G. Wells in seinem Science-Fiction-Roman The War in the Air (1908) die Bombardierung New Yorks durch »Luftschiffe« ausmalt, schreibt er, sie hinterließen »Ruinen und lodernde Feuersbrünste und aufgehäufte und umhergestreute Tote: Männer, Weiber und Kinder – alles durcheinander, als wären sie nichts weiter als Neger, Zulus oder Chinesen«.10

Die vierte Veränderung ist die technologische Entwicklung infolge der zweiten industriellen Revolution im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (billiger Stahl, moderne Chemie, Verbrennungsmotor). Beispiele sind das während des Amerikanischen Bürgerkrieges entwickelte Minié-Geschoss; der Stacheldraht, dessen Erfinder, ein amerikanischer Viehzüchter in Illinois, sich 1874 kaum ausgemalt haben konnte, wie seine Erfindung vierzig Jahre später auf dem no man’s land der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges eingesetzt würde; die Maschinengewehre, die Granaten, die chemischen Kampfstoffe, die Flammenwerfer, die Jagdflugzeuge und Bomber, die Panzer bis hin zu der einschneidenden Erfindung der Atombombe – außerdem im Bereich der Versorgung Verwundeter und Kranker: die Röntgenstrahlung, die Bluttransfusion (ab 1914) und das Penizillin (ab 1942). Innerhalb weniger Jahrzehnte veränderte der technologische Fortschritt die Erfahrung auf dem Schlachtfeld: Die Luftfahrt, später das Radar und das Sonar (in den 1930er Jahren) sowie die Satelliten (in den 1960er Jahren) erlaubten der militärischen Aufklärung, sich über den Horizont zu erheben; die drahtlose Telegrafie (seit 1894) und später der Funk (womit die deutschen Panzer während des Blitzkrieges 1940 ausgestattet waren, während die französischen Panzerfahrzeuge noch mit Fähnchen kommunizierten) erleichterten die Übermittlung von Befehlen; die Eisenbahn war bis zur Erfindung des Flugzeugs und später des Hubschraubers (ab den 1950er Jahren) unverzichtbar für die Mobilisierung und den Truppentransport. Das bedeutet allerdings weder zwangsläufig, dass diese technologischen Revolutionen auf dem Schlachtfeld entscheidend waren (die Technologie ist nichts ohne die Strategie), noch dass sie nicht auch auf Unverständnis oder Widerstände unterschiedlichster Form getroffen wären. Dem ist noch hinzuzufügen, dass es in bestimmten Perioden zu einer beschleunigten Entwicklung kam: Ein Heerführer aus dem Sezessionskrieg und sogar aus den Napoleonischen Kriegen hätte im Großen und Ganzen ein Schlachtfeld des Sommers 1914 wiedererkannt. Aber ließe sich dasselbe auch für einen General des Jahres 1914 bezüglich der Situation vier Jahre später sagen?

Aus der Vermassung der Heere, der zunehmenden Ideologisierung der Bürgersoldaten, der Verwischung der Grenze zwischen Zivilist*innen und Soldaten sowie der Verbesserung der Tötungstechnologien folgte die Erfahrung des Massentods: Zwischen 1861 und 1865 starben im Amerikanischen Bürgerkrieg schätzungsweise 750 000 Soldaten – mehr als alle amerikanischen Verluste vom Unabhängigkeitskrieg bis zum Koreakrieg. Doch zu dieser Zeit war die Artillerie nur für 10 Prozent der Verluste verantwortlich. Fünfzig Jahre später, im Ersten Weltkrieg, erhöhte sich das Verhältnis auf 70 bis 80 Prozent. Außerdem kam es in zunehmender Zahl zur völligen Zerstörung der sterblichen Überreste, wenn die Körper mit voller Wucht von den Explosionen getroffen wurden. Zur gleichen Zeit war der Kriegstod durch Epidemien fast vollständig verschwunden, obwohl er das ganze 19. Jahrhundert beherrscht hatte: Der Krimkrieg beispielsweise war eine unbeschreibliche sanitäre Katastrophe gewesen, in der zwischen 75 000 und 95 000 französische Soldaten durch Krankheiten, insbesondere die Cholera, den Tod gefunden hatten. Eine Ausnahme bildete 1918–1919 die Spanische Grippe, die zwischen 30 und 40 Millionen Tote forderte, die Hälfte davon in Indien und China und darunter vorwiegend Zivilist*innen. Der Tod, der im Fall der Luftbombardements von oben kam, sich im Fall der chemischen Kampfstoffe unsichtbar verbreitete, veränderte sein Gesicht, ließ neue Ängste, auch neue Schwierigkeiten, Leichen zu identifizieren und sich um sie zu kümmern, außerdem neue Gedenkrituale entstehen.

Was sich innerhalb von vier Generationen zwischen Gettysburg (ein Schlachtfeld von einigen Dutzend Quadratkilometern) und Hiroshima (ein historischer Wendepunkt ohne Konfrontation und ohne Schlacht) abspielte, ist von entscheidender Bedeutung: Heere wie menschliche Ameisenhaufen (ungefähr 60 bis 70 Millionen Mobilisierte zwischen 1914 und 1918, zwischen 80 und 110 Millionen während des Zweiten Weltkrieges) verzeichneten in diesem Zeitraum schwerste Verluste (zwischen 1941 und 1945 mehr als 5400 Tote pro Tag in der sowjetischen Armee). Unter dem Eindruck des massenhaften Tods läuft man Gefahr, die tragischen Einzelschicksale der Kriegszeit zu vergessen. In Erinnerung an das Blutbad des Ersten Weltkrieges schrieb Marguerite Yourcenar: »Wie man den Wald vor Bäumen nicht sieht, so sah man den Tod nicht vor Toten.«11 Für die einfachen Soldaten des industriellen Krieges änderte sich die Erfahrung des Schlachtfeldes radikal. In einer berühmten Szene in Die Reise ans Ende der Nacht setzt Céline seinen Protagonisten Ferdinand Bardamu mitten in die Feuersbrunst: »Das war alles. Dann nur noch Feuer und außerdem noch Krach dazu. Aber so ein Krach, wie man ihn nie für möglich halten würde. Die Augen hatten wir voll davon, Ohren, Nase, Mund, sofort, mit diesem Krach, dass ich glaubte, es ist vorbei, ich bin selbst zu Feuer und zu Krach geworden.«12

Die Ära der modernen Völkermorde, an den Armenier*innen, den Jüdinnen und Juden, den Sinti und Roma, kennzeichnet die Hochzeit des human engineering, in der man Hunderttausende Menschen – Frauen, Kinder und Ältere eingeschlossen – zahlenmäßig erfasste, stigmatisierte, verfolgte, ghettoisierte, aus ihren Wohnungen trieb, deportierte, ermordete und vollständig verschwinden ließ, teils über Monate hinweg. Selbst wenn die Mehrzahl der rund 6 Millionen Opfer der »Endlösung« in anderen Vernichtungslagern (Treblinka, Belzec, Sobibor, Majdanek, Chelmno) oder den Massenmordstätten der »Bloodlands« (Timothy Snyder) umgebracht wurden, ist der Name Auschwitz zum Synonym des absolut Bösen, des moralischen Bankrotts des Westens und der Industrialisierung des Massenmords geworden: die Schattenseite unserer Moderne.

Am 6. und 9. August 1945 schien die Welt ins Ungewisse zu stürzen. In ihrer moralischen und anthropologischen Bedeutung waren die Atomexplosionen von Hiroshima und Nagasaki globale und beispiellose Ereignisse. »[Bis dahin] hatten wir das Gefühl, durch unsere Kinder und Kindeskinder in einem endlosen biologischen Kontinuum weiterzuleben«, betont der Psychiater Robert Jay Lifton, der als einer der Ersten Überlebende von Hiroshima interviewte. Ab jenem Moment wurde die augenblickliche Vernichtung der ganzen Menschheit möglich. Der Kalte Krieg, der unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg folgte, war ein globaler, auf dem Gleichgewicht des Schreckens beruhender Konflikt. George Orwell, von dem eine der ersten bezeugten Verwendungen des Ausdrucks »Kalter Krieg« stammt, fasst die Situation in seinem Roman 1984 zusammen: »Krieg ist Frieden.«13

Lange Zeit herrschte eine Lesart dieser globalen Auseinandersetzung vor, die sich ausschließlich auf die Beziehung zwischen den beiden Supermächten konzentrierte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges verfügten Moskau und Washington jeweils über ein Netz von Bündnissen, das sich über den gesamten Planeten erstreckte: Die Vereinigten Staaten beispielsweise hatten zu Beginn der 1950er Jahre vierhundertfünfzig Militärstützpunkte in fünfunddreißig Ländern. Zwischen 1945 und 1949 besaßen einzig die Vereinigten Staaten Atombomben, wodurch sie die Überlegenheit der russischen Landstreitkräfte ausgleichen konnten. Ab August 1949 wurde die Angst vor Spion*innen und einem russischen Atomangriff, die in den Filmen der amerikanischen Zivilverteidigung sichtbar wird, von einem Wettrennen um den technologischen Vorsprung begleitet: Entwicklung der Wasserstoffbombe durch die Vereinigten Staaten im November 1952 (gefolgt von der sowjetischen Wasserstoffbombe im August 1953), Start des Sputnik 1 durch Russland 1957, als Nächstes das amerikanische Programm zur Eroberung des Weltraums bis zu den ersten SALT-Verträgen zur Verminderung der nuklearen Bewaffnung 1972 und erneuten Spannungen in den 1980er Jahren mit der Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen und dann der amerikanischen Pershing-II-Raketen in Europa.

Im Laufe der Jahrzehnte schwand die Perspektive einer möglichen Einigung zwischen den beiden Supermächten, so sehr klafften ihre Interessen, ihre Ideologien und ihre Wahrnehmungen der Außenwelt auseinander. Phasen größerer Spannungen (die Blockade Berlins von Juni 1948 bis Mai 1949, der Koreakrieg von Juni 1950 bis Juli 1953, der Start des ersten Sputnik 1957, die Kubakrise im Oktober 1962 bis zum Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979) wechselten sich mit Perioden der Entspannung ab, in denen man, wie Kissinger sich ausdrückte, »die Realität der Konkurrenz mit dem Imperativ der Koexistenz in Einklang bringen«14 musste. Ist der Kalte Krieg dennoch als »Nullsummenspiel« zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion und letztlich als »langer Frieden«15 anzusehen? So hat ihn der Historiker der internationalen Beziehungen John Gaddis in einem 1987 erschienenen Buch beschrieben, in dem er auch zu der Einschätzung kam, dass der Kalte Krieg noch Jahre dauern würde. Eine neue Generation von Historiker*innen betont heute die dramatischen Kosten an Menschenleben in den Konflikten der 1950er bis 1970er Jahre, die Afrika, Lateinamerika und Asien nicht zur Ruhe kommen ließen.

Eine mörderische Gewalt entwickelte sich in den Nord-Süd-Beziehungen mit den Dekolonisationskriegen. Es ist richtig, dass die Zahl der Toten in den westlichen Armeen ab den 1950er Jahren im Verhältnis zum hohen Niveau der beiden Weltkriege stetig abnahm: Im Indochinakrieg (1946–1954) und im Algerienkrieg (1954–1962) verloren die französischen Armeen weniger Soldaten im Kampf als während der Grenzschlachten am 22. August 1914 allein. Die amerikanischen Verluste in Korea beliefen sich auf 36 000 Personen. Die Namen aller rund 58 000 im Vietnamkrieg getöteten und verschwundenen Amerikaner*innen sind in das von Maya Lin entworfene Vietnam Veterans Memorial in Washington eingemeißelt. Der Architekt der einige Hundert Meter weiter gelegenen amerikanischen Gedenkstätte für den Zweiten Weltkrieg musste auf ein Symbol zurückgreifen, um den Umfang der Verluste sichtbar zu machen: Das Bauwerk ist mit 4048 goldenen Sternen besetzt, von denen jeder hundert verlorene Leben repräsentiert. Diese stetige Abnahme an Verlusten im Westen erklärt sich aus dem Fortschritt der frontnahen medizinischen Einheiten, der Entwicklung der Notfall-Chirurgie, der Verbreitung des Penizillins und dem schnellen Abtransport von Patient*innen per Helikopter. Anders sieht es aus, wenn wir die Perspektive wechseln: Ungefähr 800 000 nordkoreanische und chinesische Soldat*innen, 150 000 südkoreanische Soldat*innen und über 2 Millionen Zivilist*innen starben im Koreakrieg, 1 Million Soldat*innen der nordvietnamesischen Streitkräfte und des Vietcong verloren während des Vietnamkrieges ihr Leben.

Lokal überlagerten sich häufig verschiedene Arten von Konflikten. Nehmen wir zum Beispiel den Koreakrieg, der am 25. Juni 1950 mit dem Einmarsch nordkoreanischer Truppen in Südkorea ausbrach. Mit Unterstützung der Sowjetunion und Chinas kämpften die nordkoreanischen Kommunist*innen gegen das nationalistische Regime Syngman Rhees, dem die USA an der Spitze einer internationalen Koalition zur Seite standen – es war der erste Krieg, in dem die UNO eine Rolle spielte. Ab Oktober 1950 wurde der Koreakrieg zu einem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und China, dem der Konflikt Gelegenheit zu einem tiefgreifenden Umbau seiner Armee bot. Außerdem war der Koreakrieg ein Bürgerkrieg der Nationalist*innen gegen die Sympathisant*innen der Kommunist*innen und in den nordkoreanisch kontrollierten Zonen die Gelegenheit, die Kollaborateur*innen des südkoreanischen Regimes zu unterdrücken. Diese drei Dimensionen, die globale, die internationale und die regionale, fanden sich in fast allen Konflikten des Kalten Krieges wieder, ob in Südamerika, in Afrika oder in Asien. Das legt nahe, sich mehr um eine Dezentrierung des Blicks zu bemühen.

Es genügt nicht, sich nur die Frage nach dem Warum einer Globalgeschichte des Krieges zu stellen. Wir müssen uns auch fragen, an wen sie sich richtet. Am 16. März 1968 wurden in My Lai mehr als fünfhundert vietnamesische Dorfbewohner*innen von den amerikanischen Soldaten der Charlie Company niedergemetzelt. Nachdem dies im Sommer 1969 ans Licht gekommen war, wurde, was zunächst als »Zwischenfall« dargestellt worden war, schnell als Verletzung des Kriegsrechts wahrgenommen. Als Symbol der in Vietnam begangenen amerikanischen Gräueltaten in den Augen eines Teils der Weltöffentlichkeit (ein globales Ereignis also), wurde My Lai von den vietnamesischen Kommunist*innen, die lieber die Opfer der Revolutionsarmee feierten, lange stillschweigend übergangen. Außerdem waren es auf lokaler Ebene weniger das Ausmaß des Massakers als seine Folgen für den Ahnenkult, die die Überlebenden trafen. Die Zivilist*innen in My Lai hatten einen gewaltsamen Tod gefunden. Nach der vietnamesischen Tradition waren sie deshalb dazu verdammt, als ruhelose Geister umherzuirren. Während es für die Kritiker*innen aus dem Westen eine Menschenrechtsverletzung war, wurde das Massaker von My Lai von den Dorfbewohner*innen selbst als eine Schändung erlebt. Eine Globalgeschichte des Krieges zu schreiben bedeutet auch zu versuchen, den Toten und Überlebenden eine Stimme zu geben.

Mit dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren hofften viele auf einen globalen Rückgang der Gewalt. Zwanzig Jahre später entwickeln norwegische Politikwissenschaftler*innen weiterhin statistische Modelle, um dem Ausbruch von Konflikten vorzubeugen: Zur Vermeidung des Übels würde es genügen, die »bedrohten Länder« zu identifizieren und die Vereinten Nationen mit einer genauen Überwachung zu beauftragen, die von gezielter ökonomischer Unterstützung begleitet würde. »2050 wird die Zahl der kriegführenden Länder halbiert sein«, versprechen sie. Diese Versuche, die Entwicklung der Kriege umfassend zu erklären, sei es durch eine von der Philosophie der Aufklärung inspirierte vage Fortschrittsideologie, sei es durch eine einigermaßen unbekümmerte Modellierung der menschlichen Komplexität der Konflikte, prallt auf eine schwer zu bestreitende Wirklichkeit: Die Kriege sind heute nicht nur zahlreicher, sondern auch besonders mörderisch – wie der paroxysmale Völkermord an den Tutsi in Ruanda gezeigt hat.

Die erste Behauptung stützt sich auf die spektakuläre Häufung von Bürgerkriegen (Jugoslawien, Sierra Leone, Darfur, DR Kongo, Kaukasus, Afghanistan, Syrien …), in bestimmten Ländern parallel zu oder infolge von Staatsgründungen, die wie im Irak oder in Libyen ihrerseits von desaströsen westlichen Militäreinsätzen angestoßen oder beschleunigt wurden. Von dem großen Soziologen Charles Tilly stammt der berühmte Ausspruch: »Krieg führte zum Staat und der Staat führte Krieg.«16 Mit dem Zusammenbruch der Kolonialreiche und des kommunistischen Blocks, der Zunahme fragiler Regime und der Legitimitätskrise der Nationalstaaten trat der traditionelle Krieg im Sinne zwischenstaatlicher Konfrontationen in den Hintergrund und machte einer anarchischen Kriminalität oder Konflikten niedriger Intensität Platz, deren Kombattant*innen mit den Soldaten der zwei Weltkriege nicht mehr viel gemein haben. Auf dem Balkan, in Mitteleuropa und in den ehemaligen Sowjetrepubliken war die nationalistische Büchse der Pandora geöffnet worden. Es verbreiteten sich separatistische Konflikte wie im Donbass in der Ukraine oder in Ossetien und Abchasien in Georgien. Bis 1990 nutzten die afrikanischen Diktaturen mit Unterstützung der alten Kolonialmächte oder einer der beiden Supermächte ihren Staatsapparat dazu, die komplette politische Opposition zum Schweigen zu bringen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Situation umgekehrt. Die wirtschaftlich geschwächten und zur Ausübung ihrer hoheitlichen Funktionen unfähigen Staaten sind zu leeren Hüllen oder, um einen kontroversen Ausdruck aus den 1990er Jahren aufzunehmen, zu failed states herabgesunken. Der Krieg wird zu einem Symptom interner Probleme (Sukzessionskrisen, Staatsstreiche) wie auch der globalen geopolitischen Lage (Aufschwung des Waffen- oder Drogenschmuggels auf dem Balkan, in Afghanistan, in Pakistan, in Mittelamerika und in Lateinamerika; Zusammenbruch Libyens seit 2011 und Auftrieb für die dschihadistischen Bewegungen in der Sahel-Zone; Konkurrenz um die Kontrolle der natürlichen Ressourcen …). Wer eine Globalgeschichte des Krieges versucht, für den stellt die gegenwärtige Situation eine gewaltige Herausforderung dar: Die Deutungsmodelle, die noch zur Zeit des Kalten Krieges vorherrschten, haben ihre Relevanz eingebüßt, was den Forscher*innen ein Mehr an Einfallsreichtum abverlangt, um die der heutigen Kriegsgewalt eigenen Dynamiken zu verstehen.

Ob es sich um eine friedenssichernde Maßnahme, eine internationale Koalition oder eine Kampagne zur Aufstandsbekämpfung handelt: Die Soldat*innen der westlichen Länder machen die Erfahrung, dass sich die Art ihrer Kriegführung und ihres Kriegserlebens tiefgreifend verändert. Die Kombattant*innen stellen nur noch eine kleine Minderheit der Truppen im Einsatz dar, den größten Teil machen Logistik und Unterstützung aus – Aufgaben, die auch von privaten Unternehmen übernommen werden. Während des Irakkrieges wurden von der amerikanischen Armee tagtäglich nicht weniger als 57 Millionen Liter Treibstoff verbraucht. 2 Tonnen Nahrungsmittel waren jeden Tag nötig, um die Bedürfnisse einer Division von 20 000 Soldat*innen zu befriedigen. Der Krieg wird zunehmend zu einer Angelegenheit von Fachleuten, und immer mehr Frauen arbeiten in der Armee (mit Ausnahme der Kampfeinheiten). Das Kriegerethos musste sich, so gut es ging, diesen Veränderungen anpassen. Die restriktiven Einsatzregeln bei UNO-Friedensmissionen und das Ohnmachtsgefühl angesichts der Gräueltaten, denen die Blauhelmsoldat*innen manchmal tatenlos zuschauen müssen, haben bei einer beträchtlichen Zahl von ihnen psychische Probleme hervorgerufen. Beim Massaker von Srebrenica vom 11. bis 16. Juli 1995 in Bosnien wurden mehr als 8000 bosnische Muslime von der Armee der Republika Srpska unter dem Befehl General Ratko Mladićs niedergemetzelt, ohne dass die zum Schutz der »Sicherheitszone« anwesenden niederländischen Blauhelme auch nur einen einzigen Schuss abgefeuert hätten.

Die Veränderung der Konfliktformen ist von einer Dissoziation der Einstellungen zur Gewalt begleitet: Auf der einen Seite gibt es die Länder des Westens, die sich auf Technologie stützen, um ihre Überlegenheit zu beweisen, indem sie den Bodenkampf für ihre eigenen Soldat*innen so weit wie möglich vermeiden (das ist der Sinn der berühmten »Ohne Tote«-Doktrin), und um einen »postheroischen Krieg«17, wie Edward Luttwak ihn genannt hat, zu führen; auf der anderen Seite stehen bewaffnete Gruppen, die dem Leben ihrer Kombattant*innen keine große Bedeutung zumessen und die die territorialen Ziele (die militärische Eroberung eines Nachbarlands) ideologischen Zielen (die ethnische oder religiöse Säuberung eines Gebiets) unterordnen. Die Möglichkeit, einen Krieg zu führen, ohne Bodentruppen einzusetzen, hat in den Worten Michael Walzers »eine neue und gefährliche Ungleichheit«18 hervorgebracht. Dieses Auseinanderklaffen kollektiver Einstellungen zur Gewalt, das sich seit dem Golfkrieg, dem Irakkrieg und dem Aufschwung des internationalen Terrorismus verstärkt hat, darf nicht zu dem Irrtum verleiten, es mit zwei radikal getrennten Welten oder gar einem Zusammenprall der Zivilisationen zu tun zu haben. Abgesehen davon, dass die ersten Opfer der Dschihadisten häufig diejenigen sind, die sie gegen den Einfluss der westlichen Welt zu beschützen vorgeben, gibt es noch zahlreiche Indizien einer Globalisierung des Krieges: weltweite Verbreitung von Waffen (wie die AK-47), Finanzierung der Guerillas durch staatliche Gelder und Schmuggel, Bewegungen der Söldner*innen zwischen den Kontinenten, Benutzung moderner Kommunikationssysteme durch bewaffnete Gruppen zur Terrorisierung der westlichen Öffentlichkeit …

Dieses Buch hat zum Ziel, seinen Leserinnen und Lesern den nötigen Abstand zu verschaffen. Die heutigen Konflikte werfen zahlreiche Fragen insbesondere ethischer Provenienz auf. Doch sind sie wirklich ohne Präzedenz? Die Frage der Guerillas und Guerillabekämpfung, die seit dem Irak- und dem Afghanistankrieg neu diskutiert wurde, hatte im ganzen 19. und 20. Jahrhundert auf der Tagesordnung gestanden. Die »Einsätze ohne Feindberührung« wurden schon direkt nach dem Ersten Weltkrieg theoretisch behandelt. 1911 malte sich ein französischer Journalist bereits den kommenden Krieg aus: »Zweifellos ist die Zeit nicht mehr fern, da unsere Offiziere vom Eiffelturm aus Brücken sprengen und Minen unter dem Schritt marschierender Bataillone explodieren lassen können. […] In dem Moment wird man Aeroplane sehen […] wie sie ihre Bahnen durch den Himmelsraum ziehen und blindlings auf die Befehle des Sendemastes reagieren.« Dazu kommt noch ein weiteres Risiko, nämlich sich auf eine ausschließlich strategische oder taktische Sicht zurückzuziehen und gewissermaßen aus einer Vogelperspektive, die die menschliche Dimension der Kriegserfahrung stillschweigend übergeht, auf die Geschichte zu blicken. Nichts wäre schließlich schlimmer als eine solche Verleugnung in einer Zeit, in der Drohnenpilot*innen von ihren Büros aus anonyme Ziele abschießen – mit dem gefährlichen Gefühl einer Straffreiheit, verursacht durch Tausende Kilometer Distanz.

Bruno Cabanes ist Inhaber des Donald-G.-&-Mary-A.-Dunn-Lehrstuhls für Kriegsgeschichte an der Ohio State University. Davor lehrte er neun Jahre lang an der Yale University. Er forscht vor allem zur Sozial- und Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges und der direkten Nachkriegszeit und hat darüber zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht – darunter insbesondere La Victoire endeuillée. La sortie de guerre des soldats français (1918–1920) (Paris 2004, Neuauflage »Points Histoire« 2014), The Great War and the Origins of Humanitarianism (1918–1924) (Cambridge 2014) – ausgezeichnet mit dem Paul-Birdsall-Preis der American Historical Association 2016 – und Août 14. La France entre en guerre (Paris 2014).

1James Sheehan, Where have all the Soldiers gone? The Transformation of Modern Europe, Boston u. a. 2008; auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden, München 2008.

2Victor Davis Hanson, The Western Way of War. Infantry Battle in Classical Greece, New York 1989.

3David Bell, The First Total War. Napoleon’s Europe and the Birth of Modern Warfare, London 2007.

4Carl von Clausewitz, Bekenntnisschrift, in: ders., Ausgewählte militärische Schriften, hrsg. v. Gerhard Förster und Dorothea Schmidt, Berlin 1981, S. 213, 215.

5Frank Bauer, Napoleon in Berlin. Preußens Hauptstadt unter französischer Besatzung 1806–1808, Berlin 2006, S. 149.

6Daniel R. Headrick, The Tools of Empire. Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century, New York / Oxford 1981, S. 175.

7Ferdinand Foch, Des Principes de la guerre, Paris 2007 [1903].

8Joseph Conrad, Das Herz der Finsternis, Berlin 1933.

9John Dower, War without Mercy. Race and Power in the Pacific War, New York 1986.

10H. G. Wells, Der Luftkrieg, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1983, S. 177.

11Marguerite Yourcenar, Liebesläufe. Eine Familiengeschichte, München 2003, S. 247.

12Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 20.

13George Orwell, 1984, Berlin 2007, S. 10.

14Henry Kissinger, Detente with the Soviet Union: The Reality of Competition and the Imperative of Cooperation, in: The Department of State Bulletin, Bd. LXXI, Nr. 1842, 14. Oktober 1974, S. 505.

15John Gaddis, The Long Peace. Inquiries into the History of the Cold War, New York u. a. 1987.

16Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975, S. 42.

17Edward Luttwak, »Toward Post-Heroic Warfare«, in: Foreign Affairs, Mai / Juni 1995.

18Michael Walzer, Arguing about War, New Haven / London 2004, S. 101.

Eine Geschichte des Krieges

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