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II. Die Fassungen B und C

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Bekanntlich verändern die B- und C-Fassungen am Inhalt und Zeitgerüst der alten Chronik überraschend wenig. Weder verschwinden Charaktere aus dem Erzählablauf noch treten neue hinzu. Abgesehen von den zwei Fortsetzungen und dem neuen Prolog der C-Fassung werden keine weiteren Herrscher interpoliert oder hinzugefügt, obwohl es an auszufüllenden Lücken in der Herrscherreihe der alten Chronik keineswegs mangelt. Selbst die eklatantesten Abweichungen von der historischen Reihenfolge – der römische König Tarquinius Superbus tritt als Nachfolger Neros auf – werden nicht berichtigt; fiktive Herrscher, wie etwa Narcissus, werden aus dem Bericht nicht beseitigt.

Weder der B- noch der C-Redaktor versuchen, historische Ungenauigkeiten oder Abweichungen der A-Fassung von den im Mittelalter bekannten antiken Quellen zu berichtigen. In der hier zu behandelnden Episode wird z.B. Lucretia nach wie vor von König Tarquinius vergewaltigt, und nicht, wie Livius und Ovid berichten, von seinem Sohn Tarquinius Sextus; der Ehemann von Lucretia bleibt noch ein Verbannter aus Trier, obwohl er den antiken Quellen zufolge aus der mittelitalienischen Stadt Collatia stammte. Der Umstand, dass keiner der beiden Redaktoren diese Fiktionen oder Fehler zu beheben versuchte, hat jedoch nicht unbedingt zu bedeuten, dass man an die faktuale Wahrheit der Geschichte, wie sie vom Verfasser der A-Redaktion erzählt wurde, naiv geglaubt hat: Es ist durchaus möglich, dass die Bearbeiter und ihr Publikum solche und ähnliche Lizenzen für das gehalten hatten, was sie tatsächlich sind, und dass man die Verbindlichkeit eines chronikalischen Berichts an anderen Kriterien gemessen hat als dem der faktischen Wahrheit. Möglicherweise kam es den Bearbeitern und ihrem Publikum in erster Linie auf den moralischen oder exemplarischen Gehalt des Erzählten an, d.h. man beurteilte die ‚Wahrheit der Geschichte‘ vielleicht nicht danach, ob faktengetreu erzählt wird, sondern danach, ob die zum Besten gegebene historia als magistra vitae dient, ob sie also über den Lauf der Welt und über die Folgen menschlichen Handelns auf zuverlässige und verbindliche Weise informiert.1

Aus dem weitgehenden Fehlen einschneidender inhaltlicher Eingriffe lässt sich aber auf keinen Fall folgern, der hinter den Retextualisierungsversuchen stehende Formulierungs- und Gestaltungswille gehe in Änderungen rein formaler Art auf (den Bearbeitern von B und C geht es ja keineswegs nur um die Glättung des Metrums und die Vervollkommnung der Reimkunst). Vielmehr zeigt der durch die Vorarbeiten zu der neuen Edition möglich gewordene und durch die Online-Präsentation der kompletten Überlieferung jetzt schon verifizierbare Vergleich aller drei Fassungen, dass beide Bearbeiter eine Reihe von Textänderungen vornehmen, die die Darstellung, Perspektivierung und Semantisierung der Geschichte neu kalibrieren. Es geht hier, wie eben erwähnt, nicht um Änderungen auf der Ebene der sogenannten histoire – d.h. der Ebene der erzählten Ereignisse und Figuren und deren Verknüpfung und Interagieren in einem Plot –, sondern um solche auf der Ebene des discours – d.h. der sprachlichen Vermittlung der Ereignisse durch den Erzähler.2

Im Folgenden bemühen wir uns anhand der Tarquinius-Episode um ein facettenreicheres und differenzierteres Bild der Bearbeitungstendenzen der B- und C-Fassungen, als man es bisher in den einschlägigen Literaturgeschichten und Handbüchern lesen kann.3 Bei einem narrativisch komplexen, auf heterogenen Quellen beruhenden Werk wie der Kaiserchronik kann die Analyse einer einzelnen Episode zwar keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen, da jede Geschichte ihrer eigenen Studie bedarf. Nichtsdestotrotz glauben wir, dass bei aller späteren Verfeinerung und Relativierung die hier präsentierten Ergebnisse wichtige neue Erkenntnisse für ein Verständnis der Bearbeiter und deren Arbeitstendenzen liefern.

Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter

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