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III. Personalisierte Exemplarik
ОглавлениеIn der Kaiserchronik lassen sich nun verschiedene Funktionen dieses quantitativen Kontinuums identifizieren, welche die römische Vergangenheit für ihr deutschsprachiges, mittelalterliches Publikum als Auseinandersetzungsort mit seiner historischen Identität und gegenwärtigen Rolle modellieren: So werden historische Exempla gestiftet, aetiologische Erklärmodelle gesponnen und Kontinuitäten konstruiert. Die wichtigste dieser Funktionen, die Entwicklung historischer Exempel, möchte ich nun im letzten Abschnitt meines Beitrages kurz vorstellen und wiederum anhand eines Beispiels illustrieren:
Dass Geschichte durch Exemplarik zu didaktischem Nutzen gebracht werden kann, ist als Konzept so alt wie die Geschichtsschreibung selbst. Ciceros berühmtes Diktum von historia als magistra vitae1 spiegelt sich in zahlreichen historiographischen Prologen von der Antike bis ins zwölfte Jahrhundert und darüber hinaus.2 Doch schon lange vor Cicero entwickelte Aristoteles in seiner Rhetorik eine Methodologie der historischen Exemplarität. Ohne eine direkte Linie von Aristoteles zur Kaiserchronik ziehen zu wollen, sei diese kurz vorgestellt: Aristoteles schrieb Exempeln, die auf πράγματα προγενομένα, „tatsächlichen vergangenen Fakten“3 beruhen, eine besondere Autorität zu, da diese sich aus den unveränderlichen Mustern von Ereignis und Motivation speisen. Diese seien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stets dieselben. Um dies zu illustrieren, bietet Aristoteles selbst ein Beispiel an: Wann immer in der Vergangenheit die Könige von Persien Griechenland attackierten, eroberten sie zuvor zunächst Ägypten. Daraus ließe sich ableiten, dass auch in Aristoteles’ Gegenwart, sollte der König von Persien Ägypten angreifen, Griechenland sich auf Krieg vorbereiten müsse. Historische Distanz wird nur quantitativ registriert: Wenn zuerst Darius und später Xerxes zunächst nach Ägypten zogen, bevor sie sich gegen Griechenland wandten, so wird auch der nächste Perserkönig diesem Muster folgen und dasselbe tun. Das historische Schema bleibt unverändert, so dass ein darauf aufbauendes rhetorisches Exempel Überzeugungskraft aus der Autorität der Tatsächlichkeit der Vergangenheit beziehen kann. Aristoteles formuliert es folgendermaßen:
Leichter zu beschaffen sind nun zwar die Argumentationen die aus Fabeln, nützlicher bei Beratungen sind aber solche, die aus Tatsachen gewonnen werden, denn im allgemeinen ist das Bevorstehende dem Vergangenen ähnlich [ὅμοιος].4
Um diese Art von Exemplarität entwickeln zu können, bedarf es also einer quantitativen Achse entlang derer zeitlich abgeschlossene und eigenständige, aber qualitativ ähnliche Stufen von Geschichte organisiert werden können. Für Aristoteles’ Beispiel ist dies die politische und militärische Situation zwischen Griechenland und Persien vom späten sechsten bis ins frühe vierte Jahrhundert vor Christus. Im Falle der Kaiserchronik stellt das Rahmenwerk der Kaiserepisoden diese quantitative Achse bereit. Damit das historische Beispiel greifen kann, muss die Konstanz der historischen Identitäten der angesprochenen oder vom Beispiel betroffenen Gruppen angenommen werden. An ihr können – wie oben dargestellt – gegenwärtige Identitäten in die Vergangenheit zurückgespiegelt und historische Exempel in die Gegenwart projiziert werden.
In der Kaiserchronik werden in dieser Weise verschiedene Kaiser zu historischen Exempla entwickelt. Zeitnah zur Verfassung der Kaiserchronik pries Johann von Salisbury den hohen normativen Wert von personalisierter historischer Exemplarik, den er nur hinter dem Gesetz und der Gnade Gottes zurückstehen sah.5 In der wissenschaftlichen Diskussion zur Kaiserchronik wurde die moralisch-exemplarische Dimension ihrer Geschichtsschreibung zunächst von den frühen Opponenten von Ohlys typologischer Lesart betont.6 In rezenteren Beiträgen finden sich Untersuchungen zur Exemplarität der Chronik freilich nicht mehr klar geschieden, sondern vielmehr verknüpft mit den auf Ohly zurückzuführenden Ansätzen zum „Kombinationssinn“ der Kaiserchronik wieder. So etwa bei Markus Stock, nach dessen Auffassung „Äquivalenzrelationen“ zwischen den paradigmatischen Spiegelungen von Figuren und Ereignissen zwischen bestimmten Episoden zur Konzentrierung und Konkretisierung der exemplarischen Botschaft der jeweiligen Episoden führen.7
Als beispielhafte imperiale Handlungsträger fallen in der Kaiserchronik vor allem Titus, Trajan und Heraclius auf. An den Taten dieser Kaiser kann ein gegenwärtiges Publikum praktische Entscheidungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund historischer Analogien befragen, unterstützten oder zurückweisen.8 Am ausdrücklichsten geschieht dies sicherlich bei Heraclius, in dessen Episode – im Gegensatz zu den anderen – das einschlägige Vokabular von bîspel (V. 11209), bilde (V. 11211) und exemplum (V. 11339) die Vorbildfunktion des überlieferten historischen Narrativs besonders hervorhebt. Es sollte betont werden, dass eine konkrete Ausweisung von Exemplarität in dieser Form nicht die Regel in der Kaiserchronik ist und die hier versammelten Signalwörter ansonsten kaum in dieser Deutlichkeit genutzt werden.
Vor der Schlacht gegen Kosdras und seine heiden wendet sich Heraclius an sein Heer:
owol ir helde snelle,
ich sage iu ze aim bîspelle:
ain liut haizet Hebrêî,
dâ sult ir nemen pilde bî; (V. 11208–11211)
Das hier von Heraclius explizit seinem Heer als Publikum anempfohlene Beispiel greift nun zurück in die tiefere Vergangenheit der Bibel. Im vierten Buch Mose, Numeri 13–14, stehen die Hebräer vor den Mauern Jerichos, doch viele wagen aufgrund der Gerüchte, die sie über die furchterregenden Bewohner Kanaans gehört haben, nicht gegen sie zu kämpfen. Als Strafe wird ihnen der Zugang ins gelobte Land verwehrt werden. Diese biblische Konstellation nutzt Heraclius in der Kaiserchronik als historische Analogie, um seine Truppen anzuspornen. Diejenigen, die Heraclius nicht in die Schlacht gegen die heiden folgen, werden zu jenen Hebräern, denen der Zugang ins gelobte Land verwehrt wurde. Heraclius’ Ansprache wird sofort verstanden und bestätigt, wie aus der Reaktion seiner Soldaten ersichtlich ist:
Rômære racten ûf ir hant
unt gelobeten, daz er daz lant
niemer mêr mit in gewunne,
swer sô dannen entrunne,
oder geswiche an ir nôt. (V. 11252–11256)
Die von Heraclius als helede Rômære (V. 11247) angesprochenen Soldaten werden zu diesem Zeitpunkt bereits völlig äquivalent als cristen (V. 11258) bezeichnet. Das biblische Beispiel kann also sowohl die christlichen Römer in Heraclius’ Heer, als auch das christliche Publikum der Kaiserchronik im 12. Jahrhundert ansprechen.
In der zweiten Hälfte der Heraclius-Episode kehrt der Kaiser siegreich von seinem als Kreuzzug stilisierten Feldzug gegen den heiden Kosdras zurück. Mit dem zurückeroberten Wahren Kreuz im Gefolge will er im Triumphzug in Jerusalem Einzug halten, doch ein Engel hält ihn auf und ermahnt ihn die Stadt – in Nachahmung Christi, der auf einem Esel einritt – bescheidener zu betreten. Daraufhin macht sich Heraclius prompt barfuß und in wollenen Kleidern auf den Weg (V. 11310–11345). Um die Exemplarität dieser zweiten Passage von Heraclius zunächst auf ein historisches intradiegetisches Kollektiv – die christlichen Römer – und dann auf ein gegenwärtiges extradiegetisches ausdehnen zu können, wird Heraclius’ Vergehen – ubermuot (V. 11344) – kollektiviert.9 Bevor das römische Heer Jerusalem erreicht, wird bereits vorausgedeutet, dass es wegen seiner grôze[n] ubermuote (V. 11312) in micheln nôten (V. 11313) geraten wird. Faktoren, welche Heraclius und seine Truppen als dem deutschsprachigen Publikum der Chronik fremd markieren könnten – wie etwa Heraclius’ byzantinischer Hintergrund – werden unterdrückt. Durch die Stilisierung seines Feldzuges als Kreuzzug wird zusätzliche Vertrautheit für eine Zuhörerschaft aus der Mitte des 12. Jahrhunderts geschaffen.
Die Ausdehnung der historischen Analogie durch die römische Vergangenheit hindurch bis in die Gegenwart des 12. Jahrhunderts wird am Ende der Episode noch einmal durch den Erzähler explizit gemacht. Nachdem Heraclius und sein Heer in Jerusalem eingezogen sind, heißt es:
daz ist uns armen gesaget ad exemplum:
von diu suln wir unsern hêrren
vurhten und flêgen
mit zuhten unt mit guote,
mit grôzer deumuote. (V. 11339–11343)
Mit uns armen fasst der Erzähler sich und sein Publikum als Rezeptionsgemeinschaft zusammen, die von der historischen Exemplarität dieser Episode profitieren sollen.
Diese Exemplarität erstreckt sich in der Heraclius-Episode also über drei Zeitebenen – eine biblische, eine antike und eine gegenwärtig-mittelalterliche. Um auf solche Weise funktionieren zu können, müssen die qualitativen Unterschiede zwischen diesen Ebenen so weit wie möglich nivelliert werden. Die Mobilisierung, Atomisierung und Neuverknüpfung des Heraclius-Materials und die Angleichung an zeitgenössische Diskurse, welche innerhalb des Episodenrahmens möglich werden, leisten genau dies.
Je weiter die Narration der Kaiserchronik in der geschichtlichen Zeit des römischen Reiches voranschreitet, umso mehr verringert sich die Distanz zwischen der erzählten Vergangenheit und der erlebten Gegenwart von Autor und Publikum. In diesem Progress illustriert die Chronik ihr eigenes axiales Paradigma, welches darauf abzielt, Vergangenheit und Gegenwart bedeutungsvoll aufeinander zu beziehen. So überführt sie innerhalb ihres quantifizierenden Episodengerüstes historische Differenz in Distanz. Indem qualitative Unterschiedlichkeit in Ähnlichkeit übersetzt wird, werden die Narrative, welche in der Kaiserchronik die Vergangenheit repräsentieren, mobilisiert und in dynamischer Weise auf die Gegenwart des 12. Jahrhunderts beziehbar. Historische Distanz wird entwickelt als eine quantitativ fassbare Dimension des Zählbaren, des durch Ähnlichkeit Vergleichbaren und aufeinander Beziehbaren. Diese Dimension entsteht durch die Konstruktion eines durch Repetition und Kontinuität bestimmten, quantitativ organisierten Gerüsts, innerhalb dessen die historische und politische Konsistenz des Römischen Reiches verankert wird. Oben wurde dies am Beispiel der Heraclius-Episode vorgeführt. In ihr wird durch das spezifische Zusammenwirken von Inhalt der Episode und Einbettung der Episode ins Episodengerüst die imperiale Vergangenheit für ein gegenwärtiges Publikum nutzbar gemacht.